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Peakoil Reloaded

Kapitel 34


  
Nachdem Alice die Mittagmahlzeit vollständig abgewickelt hatte, schloss sie die Tankstelle und fuhr mit dem Fahrrad zum Krankenhaus. Ihre Mutter lag inzwischen nicht mehr auf der Intensivstation, sondern in einem normalen Krankenzimmer. Durch die hochgeklappte Matratze wirkte es, als würde sie halb sitzen. Als sie Alice sah, stieß sie einen erfreut klingenden Laut aus. Alice umarmte ihre Mutter und war hin- und hergerissen, ob sie sich über die deutliche Verbesserung ihres Zustands freuen oder über die offensichtliche Sprachlosigkeit ihrer Mutter erschreckt sein sollte. Nach außen hin entschied sie sich für die Freude.

"Der Doktor möchte gerne über Finanzen reden und ich habe ihm gesagt, er soll das mit dir besprechen. Ich hoffe, du bist damit einverstanden", sagte Alices Vater nach der Begrüßung.

"Ja klar, das Finanzgespräch übernehme ich gerne. Vielleicht sollte ich das gleich erledigen, solange du noch hier bist."

"Gut! War denn alles ok in der Tankstelle?"

"Ja, lief wunderbar."

Alice ging auf den Gang und ließ sich von der Schwester zeigen, wo sie den Arzt finden konnte. Dem Arzt schien es peinlich zu sein, Alice auf die Bezahlung des Klinikaufenthaltes anzusprechen. Doch Alice hatte keine Scheu und so entspann sich bald ein entspanntes Gespräch über das Thema. Bevor ich mein ganzes Vermögen an den Staat abliefern muss, kann ich auch dem Krankenhaus noch was zahlen. Das juckt jetzt irgendwie kaum noch.

Gemeinsam vereinbarten der Arzt und Alice, dass Alices Mutter noch etwa fünf Tage im Krankenhaus bleiben würde, um im Falle eines zweiten Schlaganfalls sofort versorgt werden zu können. Danach würde sie mit einem Monitorgerät am Handgelenk und vorübergehend auch einem gemieteten, tragbaren EKG nach Hause entlassen werden. Die Messergebnisse würden ständig an die Klinik gefunkt werden, sodass im Ernstfall schnell Hilfe alarmiert werden könnte.

Um zu lernen, wie sie ihrer Mutter am besten helfen konnte, wieder sprechen zu lernen und die Lähmung zu überwinden, bot der Arzt Alice eine Broschüre und mehrere Bücher an. Alice nahm diese Bücher sofort mit, denn sie wollte möglichst bald wissen, worauf sie sich einstellen musste. Dann machte der Arzt ihr noch ein Angebot für einen gebrauchten Rollstuhl und ein Gehgestell.

Erstaunlich: eine Reha in einer offiziellen Klinik hat der Doc gar nicht ins Gespräch gebracht. Ihm war wohl von Anfang an klar, dass sich jemand ohne Versicherung so einen Luxus nicht leisten kannt. Die Trainingsgruppe, die vom Sportverein angeboten wird, klingt aber sehr sinnvoll und auch dass am Anfang ein paar Mal eine Krankengymnastin kommt und mir zeigt, wie ich mit Mami üben kann. Die Pflege zuhause scheint inzwischen schon der Normalfall zu sein.

"Danke für Ihre Unterstützung!" sagte Alice, kurz bevor sie sich verabschieden wollte. "Hier bei Ihnen kann man sich wirklich gut aufgehoben fühlen. Selbst wenn man nicht auf das komplette medizinische Luxusprogramm zurückgreifen kann. Ganz im Gegensatz zum Staat, der seine Bürger anscheinend nur noch ausplündern will."

"Stimmt, der Staat verhält sich seinen Bürgern gegenüber nicht gerade fürsorglich. Ihre Mutter ist ja nicht das einzige Opfer dieser Sonderabgabe. Wir hatten fünf Schlaganfälle deswegen hier, drei davon tödlich. Ferner sechs Herzinfarkte und zehn Selbstmordversuche. Acht weitere Selbstmorde waren erfolgreich und drei Menschen sind direkt psychotisch geworden und in Freiburg in die Psychiatrie eingeliefert worden. Und alle anderen fragen sich, wie sie diese unverschämte Forderung überstehen sollen. Selbst die Klinik hat einen Bescheid erhalten."

"Im Ernst? Das hat ja erschreckende Dimensionen angenommen."

"In der Tat! Wie gut, dass wenigstens Ihre Mutter auf dem Weg der Besserung ist."

"Genau! Drücken Sie die Daumen, dass sie wieder sprechen und laufen lernt."

"Werde ich. Einen schönen Tag noch und gute Besserungswünsche an Ihre Frau Mutter."

Alice ging zurück ins Krankenzimmer und löste ihren Vater ab. Der schien erleichtert, sich wieder seiner Arbeit widmen zu können, aber andererseits fiel es ihm auch schwer, sich vom Krankenbett zu lösen. Jetzt sieht man erst ganz deutlich, wie sehr ihm an Mami liegt. Sonst bringt er das nie so klar zum Ausdruck.

Dann saß Alice alleine am Bett ihrer Mutter und hielt deren unversehrte Hand. Mit Grunzlauten machte Alices Mutter ihrer Tochter klar, dass sie hören wollte, was sich seit ihrem Schlaganfall ereignet hatte. Also erzählte Alice von dem Brief und dass sie ihn boykottieren würden, was ihrer Mutter zu gefallen schien. Dann berichtete Alice von der angebrannten Suppe und dass Achim überraschend gekommen war und sie getröstet hatte. Daran nahm ihre Mutter intensiven Anteil und Alice bekam den Eindruck, dass ihre Mutter große Stücke auf Achim hielt. Also schilderte sie auch noch die gemeinsamen Bemühungen mit dem Spiegelbau. Mit ihren unartikulierten Lauten erreichte Alice Mutter ihre Tochter tiefer als mit all den Worten, die ihr vorher zur Verfügung gestanden hatten, die sie aber nicht geäußert hatte.

Schließlich gestand Alice ihr, dass sie immerzu an Achim dachte, aber Angst hatte, sich näher auf ihn einzulassen, weil sie eine alte Enttäuschung noch nicht verwunden hatte. Außerdem war sich Alice gar nicht sicher, ob Achim mehr von ihr wollte, als eine lockere Freundschaft. Ihre Mutter reagierte heftig, als Alice diese Zweifel äußerte und machte klar, dass sie sich sicher war, dass Achim an Alice interessiert war. Über diesem intensiven Gespräch verging der Nachmittag viel schneller als erwartet und Alice war überrascht, als die Schwester kam und sie nach Hause schickte.

Wer hätte das gedacht, dass ich mit meiner stummen Mutter plötzlich so tiefschürfende Gespräche führe, wo ich vorher immer nur über den nächsten Eintopf mit ihr geredet habe. Ob Achim wirklich ernsthaft an mir interessiert ist? Und ob ich mich auf ihn einlassen will?

Am nächsten Vormittag kam Achim wie versprochen und half Alice beim weiteren Bau des Scheffler-Spiegels. Hunderte von kleinen Glasscheiben mussten zurechtgeschnitten und versilbert werden. Schon das Schneiden der Glasscheiben stellte für Alice eine echte Herausforderung dar. Und dann brauchte der Spiegel eine raffinierte Nachführung, damit er der Sonne folgen konnte. Um diese Raffinessen kümmerte sich Achim.

Viel zu schnell wurde es Zeit zum Kochen und danach mussten Alice und Achim aufbrechen, um sich ihren anderen Aufgaben zu widmen. An den folgenden Tagen konnte Achim nicht kommen, weil der Bau des Landwirtschaftsroboters in die heiße Phase ging. Alice hatte gleich zwei davon bestellt, als ihr klar wurde, was diese Maschinchen leisten sollen. Gerade jetzt, wo sie voraussichtlich einen großen Teil des Tages mit der Pflege und Vertretung ihrer Mutter verbringen würde, konnte Alice jede Hilfe im Garten gut gebrauchen.

Wie verabredet wurde Alices Mutter fünf Tage später aus dem Krankenhaus entlassen. Bei der Ankunft zu Hause entklappten Alice und ihr Vater den frisch gekauften Rollstuhl und hievten die Mutter aus dem Auto in ihren fahrbaren Sitz. Ein paar Worte konnte Alices Mutter manchmal schon wieder artikulieren, wenn auch nur für Eingeweihte verständlich. Sie machte deutlich, dass sie sich einerseits sehr freute, wieder zu Hause zu sein und andererseits extrem frustriert über ihre Hilflosigkeit war.

Alice hatte schon Teile der Bücher zum Thema Schlaganfall gelesen und fürchtete sich davor, dass ihre Mutter eine Depression wegen ihrer Behinderungen bekommen könnte. Sie nahm sich vor, so fleissig mit ihrer Mutter zu üben, dass sie bald wieder beweglich und sprachfähig sein würde.

Das Festessen, das Alice extra für die Heimkehr ihrer Mutter aus den Kellervorräten gekochte hatte, aß die Mutter immerhin mit gutem Appetit, was Alice mit Erleichterung erfüllte.

In der nächsten Zeit wusste Alice manchmal gar nicht mehr, wo ihr der Kopf stand. Die Mittagsmahlzeit in der Tankstelle, die Übungen mit ihrer Mutter und die Gartenarbeit hielten sie so in Atem, dass sie kaum dazu kam, an ihrem Scheffler-Spiegel weiter zu arbeiten. Auch Achim schien sehr beschäftigt, denn er ließ sich nur ab und zu mal blicken. Wie schade, dass wir mit dem Spiegel kaum weiterkommen. Aber die Landwirtschaft geht im Frühjahr nun mal vor. Was man im Frühling nicht anbaut, kann man für den Rest des Jahres vergessen.

Die neuen Felder wurden von befreundeten Bauern gegen Lieferung von Biodiesel gepflügt. Auch der ehemalige Rasen musste diesmal nicht von Hand umgegraben werden. Wie gut, dass es jetzt im Frühling wieder mehr Biomasse gibt. Ohne würden wir und die Bauern wieder genau so traurig dastehen wie letztes Jahr.

Der mühsame Aufbau neuer Hoffnung wurde durch den Besuch eine Gerichtsvollziehers unterbrochen.

Doch als Alices Vater erkannte, wer da bei ihnen vor der Tür stand, entlud sich sein ganzer Zorn auf die Staatsmacht in wenigen Augenblicken. Er putzte den Gerichtsvollzieher so sehr runter und warf ihm Mord und Körperverletzung vor, dass der Staatsdiener deutlich einschrumpfte. Als es Alice schließlich gelang, ihren Vater von einem tätlichen Angriff abzuhalten, war der Gerichtsvollzieher schon auf dem Rückzug und verließ das Grundstück.

Eines Tages brachte Achim ein Fahrrad mit drei Rädern für Alices Mutter. Es hatte eine spezielle Vorrichtung, mit der man es als Heimtrainer fixieren konnte, ohne dass es fortfuhr. Mit eingeklappter Vorrichtung war es jedoch ein richtiges Fahrrad, mit dem Alices Mutter würde fahren können, ohne in Gefahr zu geraten, umzufallen. Zwischen den beiden Hinterrädern konnte man ein Gehgestell und einen Einkaufskorb unterbringen.

Alices Mutter strahlte über dieses Mitbringsel, denn sie konnte sich inzwischen zwar schon langsam am Gehgestell fortbewegen, aber das Fahrrad würde ihr die Möglichkeit geben, das Grundstück selbstständig zu verlassen. Achim und Alice halfen der Mutter auf das Rad und freuten sich, als sie eine Runde im Hof drehte. Alice war fast noch froher als ihre Mutter, denn gerade in den Tagen zuvor hatte ihr die Stimmung der Mutter ernsthafte Sorgen bereitet, doch die Gefahr der Depression schien jetzt gebannt.

Eines Tages hörten sie von Angriffen des Zolls auf Dörfer und Kleinstädte. Offiziell ging es angeblich um die Eintreibung der Sonderabgabe. Alices Vater traf sich regelmäßig mit den anderen Männern der Stadt und den Nachbardörfern. Sie planten, im Falle eines Zollangriffs mit Jauche und Krähenfüßen zu reagieren. Eine Weile hatte Alice den Eindruck als hätte ihr Vater am liebsten alle abgeschlachtet, die seine geliebten Frau in die Krankheit gestürzt hatten. Aber anscheinend hatte er sich bei den gemeinsamen Treffen überzeugen lassen, dass eine gewaltfreie Reaktion besser sei, denn seine Gewaltäußerungen ließen wieder nach.

Dann kam der große Tag des Kampfes und Alices Vater zog aus, um ihre Stadt zu verteidigen. Alice blieb zu Hause, um ihre Mutter und das Grundstück zu beschützen. Sicherheitshalber hatte sie sich mit der Axt bewaffnet, die ihr im letzten Herbst so gute Dienste beim Holzhacken geleistet hatte.

Gegen Mittag erfuhr Alice, dass die Zolltruppen in die Flucht geschlagen worden waren und fuhr mit ihrer Mutter zum Marktplatz, wo ein Triumphfest stattfand. Ihre Mutter saß zwar noch recht unbeholfen auf ihrem Fahrrad, aber immerhin kam sie selbstständig vorwärts und dies schien beiden Frauen ebenso triumphal wie der Sieg über den Zoll.

Peakoil Reloaded

Beyond Oil: The View from Hubbert's Peak
von Kenneth S. Deffeyes

Jenseits des Ölgipfels
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Peakoil Reloaded
Peakoil Reloaded

136 Seiten
ISBN 3-938764-00-7

Preis: 14.80 Euro

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