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Peakoil Reloaded

Kapitel 10


  
Benommen schaute sich Alice um. Was war denn das? Ein normaler Bremsvorgang war das aber nicht. Wie derb das geruckt hat. Die brave Reisetasche - hat das Schlimmste abgepuffert. Die anderen Leute schreien immer noch und jammern. Und jetzt? Wie gehts weiter?

Wie als Antwort auf ihre Fragen rappelten sich die ersten Reisenden, die im Gang gestanden hatten, wieder auf. Kinder weinten. Aber auch Erwachsene stießen Schmerzenslaute aus. Das Entsetzen stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Alices Nachbar war auf den Gang geschleudert worden, nur die Beine waren im Sitzbereich geblieben. Stöhnend hievte er sich wieder zurück auf seinen Platz. Dann befühlte er seinen Kopf und Oberkörper.

"Alles in Ordnung?" war das Erste, was Alice herausbrachte.

"Scheint so, zumindest nicht stark beschädigt. Mir tut zwar alles weh, aber ich scheine noch zu fuktionieren. Was war denn das?"

"Das habe ich mich auch schon gefragt. Bleiben Sie am besten ruhig sitzen. Man weiß ja nie, ob nicht doch etwas kaputtgegangen ist."

Der Mann nickte und verzog dann schmerzerfüllt sein Gesicht.

"Nicht nicken!"

"Ok", flüsterte er, als ob eine gesenkte Stimme mit vorsichtiger Bewegung gleich zu setzen war.

Ein erneuter Ruck ging durch den Zug.

Stehende Passagiere wurden wieder umgeworfen. Schreie hallten - Metall knarrte und quietschte. Danach stand der Waggon schief. Alice musste sich festhalten, um nicht auf ihren Sitznachbarn zu rutschen.

Ein lauter Schlag tönte von weiter vorne, dann noch ein Ruck und ihr Waggon stand wieder waagrecht.

Die Passagiere, die nicht mit Aufrappeln oder Schreien beschäftigt waren, schauten verwirrt umher. Das klang aber gar nicht gut. Was ist denn jetzt noch passiert? Ich fürchte, das ist ein Zugunglück. Ob es jetzt vorbei ist? Außer den menschlichen Klagelauten hörte man nichts mehr. Nach und nach drangen auch normale Gesprächsfetzen an Alices Ohr.

Und jetzt? Was tun? Im Gang sind anscheinend einige Verletzte. Wie komme ich hier raus? Oder geht die Fahrt bald weiter? Nein, die geht bestimmt nicht weiter. Also erstmal raus! Doch wie, bei diesem Gedränge?

"Au, mein Arm, mein Arm!" klagte eine Frau ganz in ihrer Nähe. Ihr Arm war merkwürdig angewinkelt - vermutlich gebrochen.

"Sie können meinen Platz haben, damit Sie wenigstens nicht mehr stehen müssen. Ich muss nur erstmal hier raus."

Alices Sitznachbar sah sie verständnislos an.

"Ich quetsche mich jetzt an Ihnen vorbei und dann können Sie auf meinen Platz rutschen. Dadurch wird Ihr Platz frei für die verletzte Frau. Verstanden?"

"Ja, ok!"

Wie gut, dass ich so schlank bin. Und das alles dank Fahrradfahren. So, jetzt auf die Situation konzentrieren, damit ich niemand wehtue. Wie ein Aal wand Alice sich aus ihrem Sitz und nutzte ein winziges Fleckchen auf dem Gang, um sich hinzustellen. Ihre Tasche hielt sie über ihren Kopf. Der Sitznachbar rutschte umständlich auf den Fensterplatz und ein Begleiter der verletzten Frau half ihr auf den frei gewordenen Platz.

Inzwischen hatte sich eine allgemeine Bewegung in Richtung Ausstieg gebildet. Alice schloss sich den Menschen an, die nach draußen drängten.

"Stop da drinnen! Wir müssen erst mal die Tür aufkriegen. Dauert noch einen Moment."

Alice bekam fast Platzangst, eingeklemmt zwischen aufgeregten Menschen, die teilweise leise vor sich hin jammerten. Etwas weiter hinten schrie eine Frau unaufhörlich. Und plötzlich hörte man auch vorne jemand Aufkreischen. Dieser Schrei verebbte jedoch bald wieder und wich hektischem Lamentieren.

Dann - endlich - ein langsames, schiebendes Quietschen und anschließend Jubelrufe. Anscheinend war die Tür jetzt offen. Die drängende Menschenmenge setzte sich im Schneckentempo in Bewegung. Immer wieder hörte man einen entsetzten Aufschrei, der schnell wieder verstummte. Irgendetwas stimmte im Ausgangsbereich nicht.

Vor Alice stauten sich die Passagiere und ein paar Meter weiter konnte sie erkennen, warum. Auf dem Gangboden lag noch immer ein ältere Frau und wimmerte. Die Aussteigewilligen stiegen einfach über sie drüber und verhinderten, dass die Frau sich aufrichten konnte, was sie immer wieder versuchte. So geht das aber nicht! Ok, die Tasche erstmal senkrecht auf den Boden gestellt, damit ich die Hände frei habe. Ja, gut, jetzt kann ich ihr helfen.

"Hallo, Sie da unten, greifen sie meine Hände. Ich helfe Ihnen auf."

Zuerst schaute die alte Dame nur, doch dann schien sie zu begreifen und reichte Alice ihre Hände. Alice zog vorsichtig daran.

"Geht das so, oder tut es weh?"

"Geht", die Stimme der Frau war dünn und kraftlos.

"He, Sie da vorne", herrschte Alice den Mann an, der zuletzt über die Frau gestiegen war und jetzt nach draußen drängte. "Fassen sie mal kurz an! Dann können Sie weiterdrängeln."

Obwohl Alice kaum auf Erfolg gehofft hatte, drehte sich der Mann um, erkannte die Situation und ergriff die liegende Frau unter den Schultern, sodass es ihm und Alice mit vereinten Kräften gelang, die Dame aufzurichten. Die Frau fiel Alice weinend in die Arme. Der Helfer nickte, drehte sich dann wieder um und schob sich weiter in Richtung Ausgang.

Die Reisenden hinter Alice drückten gegen ihren Rücken und murrten. Doch als Alice sich umdrehte und sie zornerfüllt anblickte, verstummten sie.

"Sind Sie verletzt? Können Sie stehen?" fragte Alice die ältere Frau in ihren Armen.

"Hm, geht wohl. Wie schrecklich, wie schrecklich", ihre Äußerungen gingen wieder in Wimmern über.

"Ja, ich finde es auch ganz schrecklich. Aber jetzt müssen wir hier raus. Reißen Sie sich für ein paar Minuten zusammen, bis wir draußen sind!"

Die Frau äußerte zustimmende Laute, dann ließ sie sich widerstandslos von Alice in Richtung Ausgang drehen und vorwärts schieben. Offensichtlich konnte sie aus eigener Kraft stehen. Alice nahm ihre Tasche wieder auf und setzte ihren Weg gen Ausgang fort. Jetzt ist es nicht mehr weit. Wer da vorne bloß immer so schreit? Klingt, als wären es verschiedene Leute. Was solls? Hauptsache raus hier!

Endlich erreichte Alice den Ausgangsbereich. Sie konnte schon durch die offene Tür schauen. Doch dann erkannte sie die Ursache für die wiederkehrenden Schreie. Am Boden lag ein Verletzter, bei dem nicht nur der Knochen aus dem gebrochenen Unterarm ragte, sondern auch noch Blut im hohen Bogen pulsierend aus der Wunde spritzte. Fast hätte Alice auch geschrien vor lauter Entsetzen, doch sie konnte sich gerade noch zurückhalten.

"Hilft hier denn niemand? Ist denn hier keiner, der sich mit sowas auskennt?" rief Alice stattdessen.

Der Verletzte lag mitten im Durchgang und alle, die raus wollten, mussten über ihn drüberklettern. Alice steckte ihre Tasche, die ihr inzwischen lästig schien, in ein ruhiges Eck und tippte einen der Mitreisenden an. Zufälligerweise war es wieder der Gleiche, mit dem sie schon die Frau aufgerichtet hatte.

"Packen Sie mal an und helfen Sie mir, den Verletzten vorsichtig aus dem Verkehr zu ziehen. Dann geht das Aussteigen auch schneller."

Widerstandslos ergab sich der unfreiwillige Helfer und gemeinsam konnten sie den Verletzten aus dem Durchgang an eine ruhigere Stelle ziehen. Und jetzt? Der Typ blutet immer noch wie abgestochen. Wie grausig! Draufdrücken geht ja kaum, denn da ist ja noch der rausguckende Knochen. Wie war das bloß noch? Abbinden! Genau! Oder Abdrücken! Oh je, sowas habe ich ja noch nie gemacht.

Alice hockte sich neben den blutenden Arm und befühlte den Oberarm. Und wo drück ich jetzt? Egal, einfach mal versuchen. Sie drückte den Arm kräftig zusammen, doch das Blut spritzte weiter. Vor ihrem Auge entfaltete sich langsam eine Schemazeichnung, wie sie sie im Erste Hilfe Kurs gesehen hatte. Innen also. Zwischen den Muskeln? Ausprobieren! Mit den Fingerspitzen beider Hände drückte sie zwischen die Muskeln des Oberarms, denn anders konnte sie die Stelle nicht erreichen.

Der Blutstrom hörte auf zu pulsen, ließ nach und als Alice noch fester drückte, hörte er vollständig auf. Mist, lange halte ich das nicht durch. Die Finger tun mir jetzt schon weh. Aber loslassen kann ich auch nicht mehr. Der Typ ist schon ganz blass und anscheindend bewusstlos. Oh je, dass ist der, der vorhin auf meinem Platz saß und den ich weggejagt habe. Wie peinlich. Ausgerechnet den hat es erwischt. Wenn ich ihn nicht vertrieben hätte, würde es ihm wohl noch gut gehen. Aber was wäre dann mit mir? Egal! Jetzt heißt es drücken, drücken und nochmals drücken.

"He, Sie da!" sprach sie ihren Mithelfer erneut an, denn er war diesmal dageblieben und starrte auf das Geschehen. "Wenn Sie rausgehen, suchen Sie nach einem Sanitäter. Dieser Mann hier braucht dringend professionelle Hilfe. Oder Sie übernehmen hier das Drücken und ich suche Hilfe."

Wild schüttelte der Mann den Kopf. "Das kann ich bestimmt nicht. Dann geh ich lieber Hilfe holen. Oh Gott!"

Der Mann erhob sich, stürzte an anderen Reisenden vorbei und sprang aus der Tür. Alice konnte gerade noch erkennen, wie er sich zusammenkrümmte und erbrach. Merkwürdig! Mir ist gar nicht übel. Aber vielleicht kapier ich auch noch gar nicht so richtig, was los ist. Es ist alles wie im Film. Tausendmal gesehen.

Nach einer Weile ließ das Gedrängel der Aussteigenden nach und Alice saß immer noch neben dem Verletzten und drückte seine Schlagader zusammen. In der Ferne hörte sie Martinshörner. Aah, meine Finger. Die sind sowas gar nicht gewöhnt. Ich lass mal eine Hand los und drück nur noch mit der anderen. Ok, scheint zu gehen. Kräftig ausschütteln. Oh je, der anderen Hand fehlt die Kraft, das lange alleine durchzustehen. Also noch mal Hände wechseln und dann wieder mit beiden drücken. Gibt es nicht auch eine Möglichkeit, das abzubinden, ohne ständig drücken zu müssen?

Alice grub ihn ihrer Erinnerung, bis sie vor sich sah, wie es funktionieren müsste. Mist! Dazu bräuchte ich zwei Verbände. Einen als Päckchen, der drückt und einen zum Drumwickeln. Verbände! Als hätte man sowas in der Hosentasche! Was könnte man denn noch nehmen? Hab ich irgendwas dabei, das diesen Zweck erfüllen könnte?

Stück für Stück ging Alice ihr Gepäck in Gedanken durch. Sie war noch nicht soweit, eines ihrer T-Shirts zu zerreißen, denn das war das Einzige, was ihr zunächst einfiel. Da drückte sie lieber noch eine Weile mit den Fingern. Doch dann erinnerte sie sich an ihre Kniestrümpfe. Die Kniestrümpfe! Das könnte gehen. Einen fest zusammengerollt und einen zum Drumbinden. Ob er wohl lang genug ist? Ob es für einen Knoten reicht? Nein, eher nicht. Aber vielleicht die Strumpfhose. Ok, das müsste klappen.

Vorsichtig löste Alice eine ihrer Hände vom Arm und beobachtete dabei genau, ob das Blut weiterhin stockte. Dann streckte sie sich so lang wie möglich und angelte nach ihrer Reisetasche, die ihr fürchterlich weit weg schien. Wo sind nur all die vielen Leute hin? Alle rausgeflohen! Typisch!

Endlich konnte sie die Tasche an einer Ecke fassen und zu sich heranziehen. Für einen kurzen Moment hatte sie den Griff am Arm gelockert und das Blut schoss wieder aus der Wunde. Der Verletzte stöhnte. Schnell drückte sie wieder mit beiden Händen zu, bis der Blutstrom erneut nachließ. Dann löste sie die eine Hand wieder vorsichtig und öffnete ihre Tasche. Mühsam kramte sie darin herum und ärgerte sich, dass sie ihre Tasche so vollgestopft hatte. Pullover und Jeans quollen heraus, was es ihr erleichterte, in der Tasche zu wühlen. Dann - endlich - bekam sie ein Kniestrumpfknäuel zu fassen. Alice probierte, ob man mit dem Knäuel den Blutstrom abdrücken konnte. Es ging. Sie musste auch nicht mehr so verkrampft drücken.
Vorübergehend wechselte sie die drückende Hand, denn die eine stand kurz vor einem Krampf. Dann wechselte sie wieder zurück, weil sie so nicht weiter nach ihrer Strumpfhose suchen konnte. Noch mehr Kleidungsstücke fielen aus der Tasche und verteilten sich auf dem Zugboden, doch dann zog sie endlich die gesuchte Strumpfhose hervor. Alice wickelte die langen Beine doppelt um den Arm und versuchte einhändig einen Knoten zu machen. Das misslang. Dann löste sie ihre zudrückende Hand, was sofortiges Blutspritzen zur Folge hatte.

So schnell wie es ging, zog sie die Strumpfhose zusammen und atmete erleichtert auf, als das Bluten wieder aufhörte. Mit ihren verkrampften Händen bemühte sie sich einen Knoten zu knüpfen, was ihr erst beim dritten Anlauf gelang. Doch dann hielt ihre Abbindkonstruktion endlich. Sie schüttelte ihre verkrampften Hände und merkte erst jetzt, dass auch ihre Beine vom unbequemen Sitzen schmerzten.

"Kommen Sie klar?" schreckte eine Stimme Alice auf.

"Oh, endlich! Ein Fachmann! Nein, ich komme nicht klar. Der Mann hier ist schwer verletzt. Ich habe die ganze Zeit versucht, ihn am Verbluten zu hindern, aber mehr konnte ich nicht für ihn tun."

Der Sanitäter bestieg den Waggon und beugte sich über den Verletzten.

"Das Abbinden haben Sie aber recht gut hinbekommen, wenn auch mit unorthodoxen Mitteln. Sind Sie vom Fach?"

"Ne, Erste Hilfe Kurs. Ich...", plötzlich schossen Alice Tränen in die Augen und ihr versagte die Stimme.

Der Sanitäter tätschelte ihr die Schulter. "Na na, ist ja gut. Sie haben alles richtig gemacht und Ihrem Mann wahrscheinlich das Leben gerettet. Jetzt kommen sie erst mal zu sich. Ich kümmere mich jetzt um Ihren Mann."

"Ist nich mein Mann. Kenn den gar nich", gelang es Alice mühsam, das Missverständnis zu klären.

"Umso lobenswerter!"

Der Sanitäter konzentrierte sich auf den Verletzten und beachtete Alice nicht weiter. Alice stopfte ihre Kleidungsstücke zurück in die Tasche, wischte sich mit einem T-Shirt die unerwarteten Tränen ab und stand dann auf. Ihr linkes Bein war eingeschlafen. Das war Alice jedoch ganz egal, denn sie wollte endlich raus aus dem Unglückszug. Wackelig ging sie zur Tür und schaute plötzlich in einen Abgrund, der unüberwindlich schien.

Ihr wurde schwindelig.

Peakoil Reloaded

The Party's Over
von Richard Heinberg

Jenseits des Ölgipfels
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Peakoil Reloaded
Peakoil Reloaded

136 Seiten
ISBN 3-938764-00-7

Preis: 14.80 Euro

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