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Peakoil Reloaded

Kapitel 12


  
Zwanzig Kilometer sind zu Fuß schon ziemlich weit. Das ist ja die reinste Wanderung. Aber wenn man von fünf Kilometer pro Stunde ausgeht, müsste es in vier Stunden zu schaffen sein. Jetzt ist es vielleicht immer noch um die Mittagszeit. Wie spät ist es überhaupt?

Alice durchwühlte ihre Tasche nach ihrem Handy und ließ sich die Zeit anzeigen. Kurz vor zwölf. So früh noch? Das Zugunglück war ja richtig flott. Dabei erschien es mir wie Ewigkeiten. Wie gut, dass es so schnell ging. Das erhöht meine Chancen, Karlsruhe noch bei Tageslicht zu erreichen. Und dass ich meine Sportschuhe anhabe, ist auch ein Segen. In Pumps hätte es gar keinen Sinn, los zu laufen. Auf gehts!

Auf der Straße fuhr nur hin und wieder ein Lieferwagen. PKWs waren kaum unterwegs. Alice konnte sogar den Duft der Nadelbäume riechen, so wenig Abgase lagen in der Luft. Sie fühlte sich wie auf einer Wanderung. Nach einer Weile drückte jedoch die Tasche schwer auf ihre Schulter. Sie wechselte die Seite und marschierte weiter. Die einsame Wanderung gab ihr Gelegenheit, den Kopf zu klären und die Ereignisse beim Unfall gründlich Revue passieren zu lassen. Immer wieder blieben ihre Gedanken beim pulsierenden Blut des Verletzten hängen. Dann dachte sie kurz daran, dass sie dieses Blut ja gestoppt hatte und versuchte, an etwas anderes zu denken. Doch das fiel gar nicht so leicht. Andere Themen schienen so blass im Vergleich zum gerade Erlebten. Außerdem nagte ein Gefühl von Schuld an ihr. Immer wieder schalt sie sich, dass diese Schuldgefühle Unsinn seien, aber das schien die Gefühle nicht zu beeindrucken. Streckenweise liefen ihr Tränen über die Wangen, so dass sie kaum sehen konnte, wohin sie ihre Füße setzte.

Sie wurde durstig. Als sie in das nächste Wäldchen kam, horchte sie, ob sie einen Bach gluckern hörte. Doch da war nichts. Der Graben am Wegesrand war auch knochentrocken. Eigentlich müsste es hier in der Nähe des Rheins doch massenhaft Wasser geben. Hoffen wir mal, dass bald was kommt. Hätte ich doch die Flasche vom Unglücksplatz mitgenommen, die war immerhin noch halb voll. Aber die gehörte schließlich den Rettern. Was solls? Ich habe sie wenigstens halb leer getrunken. Das müsste doch eigentlich für eine Weile reichen. Ich darf eben nicht mehr heulen, dann geht das schon.

Doch der Durst blieb. Alice setzte einen Fuß vor den anderen und wechselte regelmäßig die Seite, auf der sie die Tasche trug. Dennoch fühlte es sich so an, als würde der Tragegurt in ihre Muskeln einschneiden. Dabei hatte der Gurt eine gepolsterte Verbreiterung und drückte schlimmstenfalls, schnitt aber keineswegs. Und der Durst wurde quälender.

Gar nicht so leicht, so ein Marsch. Mit einem Rucksack wäre es bestimmt leichter. Ach, hätte ich nur die Wasserflasche mitgenommen. Ich Esel! Merkwürdig, dass niemand außer mir zu Fuß nach Karlsruhe unterwegs ist. Vielleicht sind die schlauer als ich, oder sie waren noch zu sehr mit dem Unfall beschäftigt, um aufzubrechen. Hauptsache, ich komme irgendwann vor Sonnenuntergang in Karlsruhe an; der Rest ist eigentlich egal.

Nach geraumer Zeit sah Alice vor sich eine Brücke. Ob die wohl über einen Bach führt? Hoffentlich! Nix wie hin! Sie beschleunigte ihre Schritte und bald erreichte sie die Brücke. Tatsächlich spannte sich die Brücke über einen breiten Bach. Doch die Böschung, die zum Wasser führte, war steil und schien rutschig. Oh je, alles steil einbetoniert, soweit das Auge reicht. Ob ich mich da halten kann, ohne ins Wasser zu rutschen? Vielleicht wenn ich mich an der Brücke halte. Die hat zwar keine Griffe, sondern ist nur ein glatter Betonklotz, aber immer noch besser als ganz ohne Halt. Ok, nehm ich es in Angriff.

Alice stellte ihre Tasche an den Rand der Böschung und trippelte vorsichtig nach unten. Mit einer Hand stützte sie sich an der Brücke ab. Weiter unten wurde der Beton feucht und rutschig, doch sie ging weiter, weil sie der Lösung ihres Durstproblems schon so nah gekommen war. Als sie die Wasseroberfläche erreichte, stand sie vor dem nächsten Problem. Sie musste sich hinknien und dann das Wasser mit der Hand schöpfen, um es trinken zu können.

Langsam beugte sie die Knie, bis sie mit den Fingerspitzen das kühle Nass erreichen konnte. Nur noch ein paar Zentimeter! Ok, jetzt reichts! Das Wasser sieht ja irgendwie braun aus. Ob ich das wirklich trinken soll? Na klar, wir sind hier schließlich nicht in Indien. Wird schon gut gehen. Der Durst ist bestimmt schlimmer. Also los, hol dir dein Getränk!

Sie schöpfte ihre Hand voll Wasser und trank. Es schmeckte akzeptabel, aber ein wenig nach Erde. Nachdem sie das Getränk für gut befunden hatte, trank Alice noch etliche Handvoll, bis sie in ihrer zusammengekauerten Haltung nicht noch mehr in ihrem Magen unterbrachte. Schade, dass ich kein Gefäß dabei habe, um etwas von dem Wasser mit zu nehmen. In der Tasche habe ich bestimmt einen Plastikbeutel, aber die ist leider da oben. Und nochmal wage ich mich hier nicht wieder runter.

Das Umdrehen fand Alice ziemlich riskant, doch der Aufstieg fiel ihr dann leicht. Als sie bei ihrer Tasche angekommen war, fühlte sie sich sehr erleichtert, denn die Tour zum Bach war ihr mulmig gewesen. Der Durst war aber gestillt und das erfüllte sie mit neuer Kraft.

Die nächsten Kilometer fielen ihr deutlich leichter als die letzten. Zu Alices Erleichterung folgte die Straße seit der Brücke dem Bach. Bei einem zukünftigen Durstanfall gäbe es also reichlich zu trinken. Ein Schild, das Karlsruhe in neun Kilometer Entfernung ankündigte, gab ihr zusätzlichen Auftrieb. Sie schritt zügig aus, um möglichst bald am Ziel zu sein.

Doch dann fingen ihre Füße an zu schmerzen. Sie vermutete Blasen an beiden Ballen. Ob ich wohl Pflaster einstecken habe? Die würden wenigstens verhindern, dass es noch schlimmer wird. Da muss ich wohl mal suchen. Ein kleines Päuschen wäre sowieso nicht schlecht, also schaue ich mal nach.

Zuerst zog sie Schuhe und Strümpfe aus. Ihre Füsse waren heiß und feuchtgeschwitzt. Wie befürchtet, prangten dicke Blasen an den Ballen. Weil Alice wusste, dass feuchte Füße besonders anfällig für Blasen sind, suchte sie zuerst nach trockenen Strümpfen. Mein Strumpfverbrauch ist heute echt enorm. Diese hier werde ich wenigstens behalten, anders als die, die ich zum Abbinden benutzt habe. Am besten ich kaufe mir in den nächsten Tagen ein paar neue. Aber jetzt erst mal Pflaster suchen. In der Innentasche könnten welche sein. Tatsächlich! Die sehen aber schon ganz schön alt aus. Mal sehen, ob die noch kleben. Sie trocknete ihre Füße so gut es ging und klebte dann die Pflaster auf die Blasen. Dann zog sie frische Strümpfe und wieder ihre Schuhe an. Die ersten Schritte schmerzten unangenehm, doch insgesamt fühlte es sich besser an mit den trockenen Strümpfen.

Ob ich das wohl noch durchhalte bis nach Karlsruhe? Ganz bestimmt! Schließlich habe ich schon über die Hälfte geschafft.

Ein Bus fuhr an ihr vorbei. Die Passagiere auf der Rückbank schauten nach hinten raus und winkten ihr zu. He, ein paar von denen waren doch auch im Zug, oder? Ob das ein Fahrservice für die Opfer des Zugunglücks ist? Sieht ja ganz so aus. Alice begann zu winken, doch der Bus fuhr unbeeindruckt weiter und war bald außer Sichtweite.

So ein Mist! Da bin ich früher als all die anderen losgelaufen und komme trotzdem viel später als sie in Karlsruhe an. Hätte ich doch bloß ein bisschen länger abgewartet und wäre nicht gleich losgestürmt. Tja, nützt wohl nix, laufe ich halt weiter. Dass die Busse schicken, wo doch der Sprit so knapp ist, hätte ich denen gar nicht zugetraut. Der nächste Kilometer fiel ihr besonders schwer.

Von hinten hörte sie plötzlich wieder ein größeres Fahrzeug näherkommen. Alice drehte sich um, sah einen Bus und begann aufgeregt zu winken. Die Reisenden winkten ihr zu, doch der Bus fuhr an ihr vorbei und verschwand in der Ferne. Wie gemein! Tja, die halten mich wohl für eine Tramperin. Also weiter, egal wie weh es tut!

Als sie den nächsten Bus von hinten nahen hörte, winkte sie wieder, doch ihre Hoffnung war gering. Daher war sie überrascht, als der Bus bremste und kurz vor ihr zum Stehen kam. Mit einem Zischen öffnete sich die vordere Tür. Alice lief zur offenen Tür und schaute den Fahrer an.

"Kann ich bis Karlsruhe mitfahren? Bitte!"

"Sie sind doch die verschollene Retterin, oder?"

"Ich? Verschollen? Nein, hier bin ich doch. Also was ist? Kann ich mitfahren?"

"Ja, steigen Sie nur ein. Waren Sie nicht bei dem Zugunglück?"

"Doch, doch, aber das ist schon lange her."

"Dann sind Sie es tatsächlich!"

Inzwischen war Alice eingestiegen, der Fahrer hatte die Tür geschlossen und war wieder losgefahren. Alice hielt sich an einer Stange fest, um nicht umzufallen.

"Wer bin ich tatsächlich?"

"Ich hab Sie im Fernsehen gehen. Bei der Sondersendung über das Zugunglück. Kurz bevor ich los musste."

"Im Fernsehen?"

"Ja! Sind Sie nicht die, die dem einen Verletzten das Leben gerettet hat? Und die dann verschwunden ist, nachdem sie nicht interviewt werden wollte?"

"Also ich habe einem Verletzten geholfen, das stimmt. Aber das haben bestimmt auch viele andere."

"Na ja! Aber nicht so. Manche halten Sie schon für einen Engel, weil sie ja verschwunden sind. Nun denn, seien Sie mir willkommen und machen Sie es sich bequem, wenn sie noch ein Plätzchen finden."

"Gerne."

Ein Sitzplatz war nicht mehr frei, denn die Passagiere waren wohl genau abgezählt. Also setzte Alice sich auf ihre Reisetasche, was sie deutlich bequemer fand, als zu Fuß weiter zu gehen. Die anderen Reisenden hatten anscheinend kein Fernsehen gesehen, denn sie ließen Alice mit Heldengeschichten in Ruhe, nachdem sie sie zuerst neugierig beäugt hatten. Die meisten unterhielten sich über die mutmaßliche Ursache des Zugunglücks. Oh, darüber habe ich mir ja noch gar keine Gedanken gemacht. War wohl mit zuviel anderen Dingen beschäftigt. Na klar: wie konnte so ein Unfall überhaupt passieren, einfach so auf freier Strecke? Manche vermuteten einen Anschlag, doch das schien Alice absurd.

Schon nach wenigen Minuten erreichten sie Karlsruhe und nicht lange danach den Bahnhof. Alice suchte sich den nächsten Zug in Richtung Freiburg raus und hoffte, dass ihre Fahrkarte auch für diesen Zug gelten würde. Ihre Platzkarte war natürlich verfallen. Vielleicht sollte ich noch mal zu Hause anrufen. Die sitzen bestimmt die ganze Zeit vor dem Fernseher und machen sich totale Sorgen, weil sie mich dort gesehen haben und ständig hören müssen, dass ich verschollen sei. Diese blöden Reporter! Vor keiner Dummheit schrecken sie zurück. Was für ein Unfug! Also gut, wo steckt das Handy?

Alices Eltern waren sehr froh, zu hören, dass es ihrer Tochter gut ging. Sie hatten tatsächlich das missratene Interview im Fernsehen gesehen und waren entsprechend besorgt gewesen. Alice beruhigte sie, verkündete ihre ungefähre Ankunftszeit und lief dann zum Gleis, wo ihr Zug abfahren sollte.

Der Zug kam pünktlich und Alice stieg ein. Doch kaum stand sie im Inneren, drängte es sie, laut zu schreien und den Zug wieder fluchtartig zu verlassen. He Mädel! Nicht schreien. Das ist ein ganz normaler Zug. Du willst nach Hause. Darum bleibst du hier drin. Nicht schreien! Tief durchatmen! Entsetzt von dieser plötzlichen Attacke, hielt Alice sich krampfhaft an einem Griff fest. Die Mitreisenden in ihrer Nähe sahen sie teilweise besorgt, teilweise neugierig an.

Die Fahrt nach Freiburg schien Alice endlos. Dann musste sie erneut in einen Zug einsteigen, um bis nach Hause zu fahren. Doch dieser Zug war leerer und die Panik hielt sich in Grenzen. Dennoch war sie heilfroh als sie endlich aussteigen durfte.

Auf dem Bahnsteig warteten diesmal beide Eltern und schlossen ihre Tochter überglücklich in die Arme.

Peakoil Reloaded

Beyond Oil: The View from Hubbert's Peak
von Kenneth S. Deffeyes

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Peakoil Reloaded
Peakoil Reloaded

136 Seiten
ISBN 3-938764-00-7

Preis: 14.80 Euro

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