Home
Romane
Vita
Projekte
News
Impressum

Peakoil Reloaded

Kapitel 6


  
"Iiiih!" der Schrei hallte durchs gesamte Büro.

"Neiiiin!" Alice war auf den Gang getreten, gerade noch rechtzeitig, um ihre Kollegin aus der Finanzbuchhaltung davon abzuhalten, wie irre gegen die Stirnwand des Ganges zu rasen.

"Was ist denn passiert?" fragte Alice und bemühte sich um einen beruhigenden Tonfall.

"Der Herr Meyer! Neiiiin! Der, der..."

"Ist ja gut, was ist denn mit dem Herrn Meyer?"

"Nichts ist gut!" kreischte Frau Merkenthal und riss sich aus Alices Umarmung, nur um sich gleich darauf wieder schluchzend anzukuscheln.

Oh je, was ist da wohl passiert? Ob sie einen scharfen Verweis von Herrn Meyer bekommen hat? Oder gar die Kündigung? Aber das würde mich wundern. Sie ist doch so fleißig bei der Sache und immer peinlichst genau mit all den Zahlen. Außerdem würde sie in so einem Fall nicht so ausflippen, sondern eher still leiden. Es muss was anderes sein. Ah, da kommt Susanne, die kann sich ums Trösten kümmern, dann schaue ich selbst mal nach.

Alice winkte ihre Kollegin Susanne herbei und schob die schluchzende Frau Merkenthal in ihre Arme. Dann näherte sie sich der Tür zur Finanzbuchhaltung.

Die Tür stand offen. Und dann sah Alice den Anlass für Frau Merkenthals Ausbruch: Herr Meyer baumelte von der Decke, mit einem Seil um den Hals. Sein Kopf hing schief und die Augen waren entsetzt aufgerissen. Er war ganz eindeutig tot.

"Was ist denn hier für ein Drama?" ein anderer Kollege war neben Alice getreten und stieß einen Laut des Entsetzens aus, sobald er Herrn Meyer sah.

In diesem Moment bewegte sich Herr Meyer plötzlich. Er ruckte mehrmals, aber sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Fast hätte Alice selbst losgeschrien, aber sie konnte sich gerade noch zusammenreißen. Dann erkannte sie, dass nicht Herr Meyer sich bewegte, sondern dass die Deckenbeleuchtung, an der er sein Seil befestigt hatte, im Begriff war, von der Decke zu fallen. Was dann auch geschah. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen stürzten die Lampe und Herr Meyer zu Boden.

"Lasst mich mal durch, ich habe eine Sanitäterausbildung!" rief einer der Mitarbeiter, die sich inzwischen in der Finanzbuchhaltung eingefunden hatten. Er drängte sich nach vorne, kniete sich neben Herrn Meyer und fühlte seinen Puls. Zuerst am Handgelenk, dann am Hals. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf und schloss die aufgerissenen Augen von Herrn Meyer.

Alice war inzwischen an den Schreibtisch von Herrn Meyer getreten und fand dort ein Stück Papier mit der Aufschrift: "Es reicht nicht. Sorry!" das war alles. Der Computer-Bildschirm war eingeschaltet, aber der Bildschirmschoner war aktiv, sodass Alice nichts erkennen konnte. Weil ihr klar war, dass sie eigentlich nichts anfassen durfte, gab sie der Maus mit ihrem Fingernagel einen kleinen Schubs von der Seite, ohne sie richtig zu berühren. Jetzt konnte sie eine Tabelle erkennen, die ganz unten von einer fetten sechsstelligen Zahl in leuchtendem Rot und mit einem Minuszeichen davor abgeschlossen wurde.

"Die Monatsabrechnung!" flüsterte einer der Mitarbeiter geradezu andächtig.

"Hört mal Leute, wir sollten alle den Raum verlassen und die Polizei informieren. Es sieht zwar eindeutig nach einem Selbstmord aus, aber das sollten wir von einem Fachmann beurteilen lassen", der Leiter der Verkaufsabteilung brachte etwas Vernunft in die Sache.

Nach und nach leerte sich der Raum der Finanzbuchhaltung wieder. Der Verkaufsleiter schloss ab und nahm den Schlüssel an sich. Dann informierte er mit seinem Handy die Polizei.

"So, jetzt geht alle zurück an die Arbeit. Alice und Susanne kümmert ihr euch bitte um Frau Merkenthal?"

Alice nickte und schloss sich Susanne und Frau Merkenthal an. Sie gingen in die Kantine, wo die Köchin schon mit einem extra starken Kaffee auf sie wartete. Wie sie die Ohren spitzt. Sie will bestimmt aus erster Hand wissen, was geschehen ist. Doch Frau Merkenthal schluchzte nur, weit davon entfernt, sich ihren Kummer von der Seele zu reden. Alice und Susanne verständigten sich mit Blicken, umarmten Frau Merkenthal und äußerten Tröstlaute. Die Köchin erfuhr nichts.

"Guten Tag, ich bin Hauptkommissarin Martins. Sie haben den Toten aufgefunden?"

"Ja sie", sagte Alice und deutete auf die immer noch schluchzende Frau Merkenthal. "Und dann ich. Frau Merkenthal! Da ist eine Kommissarin, die will wissen, wie Sie Herrn Meyer gefunden haben."

Frau Merkthal hob langsam ihren Kopf und starrte die Polizistin mit glasigen Augen an. Zuerst schien sie nichts zu begreifen. Doch dann klärte sich ihr Blick allmählich.

"Ich wollte zur Arbeit in mein Büro gehen, wie jeden Tag und da hing er. Dann habe ich geschrien und bin auf den Gang gelaufen."

"Das war alles?"

Frau Merkenthal nickte und sackte dann wieder zusammen. Ihre Schultern zuckten.

"Ich hörte sie als Erste schreien und dann habe ich sie im Gang in Empfang genommen. Anschließend bin ich selbst ins Büro der Finanzbuchhaltung gegangen und sah Herrn Meyer von der Decke hängen. Er hing an einer Lampe, die dann kurz danach mit ihm zusammen von der Decke fiel."

"Können Sie sich erklären, warum sich Herr Meyer aufgehängt hat? Hatte er Sorgen?"

Alice erzählte von dem Zettel mit der kurzen Abschiedsnotiz und der Minuszahl im Computer. Die Kommissarin fragte nach jedem Detail. Das ist ja wie im Fernsehkrimi. Fehlt nur noch, dass sie nach meinem Alibi fragt. Doch nach Alices Alibi wurde nicht gefragt. Die Situation schien ohnehin so klar, dass nicht weiter in Richtung Mord ermittelt, sondern der Selbstmord klar als solcher akzeptiert wurde. Nach einigen Stunden rückten die Polizisten wieder ab.

Frau Merkenthal erholte sich im Laufe des Tages soweit, dass sie in der Lage war, die Monatsabrechnung auszudrucken. Nachdem sie selbst die potentiellen Folgen der Abrechnung begriff, verschlechterte sich ihre Laune zwar wieder, aber damit war sie nicht alleine, denn alle Mitarbeiter waren über die schlechten Finanzzahlen entsetzt.

Die alltäglichen Vertröstanrufe waren für Alice noch viel schwerer als sonst, denn ihr wurde klar, dass mit jedem dieser Anrufe tausende von Euros verzögert wurden, wenn nicht gar verloren gingen. Am Ende dieses bitteren Tages konnte sie gut nachvollziehen, was Herrn Meyer in den Tod getrieben hatte.

Von der Geschäftsleitung hörte man kein aufmunterndes Wort. Die Chefs hatten sich zu einer Dauersitzung zurückgezogen, um die Zukunft der Firma zu besprechen. Kurz vor Feierabend wurde ein großes Meeting für den nächsten Nachmittag angekündigt.

Den meisten Mitarbeitern war sehr mulmig zumute, was dieses Meeting anging. Die Gerüchte schäumten über.

Peakoil Reloaded

The Party's Over
von Richard Heinberg

Jenseits des Ölgipfels
< <   > >

1  2  3  4  5  6  7  8  9  10  11  12  13  14  15  16  17  18  19  20  21  22  23  24  25  26  27  28  29  30  31  32  33  34  35 

Peakoil Reloaded
Peakoil Reloaded

136 Seiten
ISBN 3-938764-00-7

Preis: 14.80 Euro

Bestellen...