Home
Romane
Vita
Projekte
News
Impressum

Vollautomatisch

Kapitel 30


  
Als Juliane am nächsten Morgen aufwachte, merkte sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Ihr Knie war so stark angeschwollen, dass sie es kaum schaffte, aus dem Zelt zu kriechen. An Weiterfahren war überhaupt nicht zu denken.

Einbeinig hüpfte Juliane zu einem nahegelegenen Gebüsch, um Zweige für ihr Kochfeuer zu sammeln. Der Kaffee, den sie sich kochte, gab ihr zwar neue Frische, aber gegen ihr Beinproblem half er natürlich nicht.

Oh je, was mach ich nur? Jede Stunde ist kostbar! Warum eigentlich? Ich hetze von Dorf zu Dorf und mein armes Bein kriegt einfach nicht genug Ruhe. Aber hätte ich in einem der Dörfer länger bleiben wollen? Nein, auf gar keinen Fall. Und unterwegs ist es auch nicht so toll. Vor allem, wenn der Proviant knapp wird. Letztes Mal ist mir das Essen ja unterwegs ausgegangen und einen Tag länger hätte ich gar nicht durchgehalten. Wie gut, dass Taliga mir soviel mitgegeben hat. Sonst müsste ich jetzt hungern mit meinem kaputten Bein.

Nach dem Frühstück legte Juliane sich wieder ins Zelt, denn sie wusste nichts anderes mit sich anzufangen. Zuerst dachte sie über ihre Situation nach, dann schlief sie wieder ein und träumte ein krauses Wirrwarr ihres Lebens im Schwarm vermischt mit den Erlebnissen in den beiden Dörfern. Als sie wieder erwachte, hatte sie schlechte Laune und ihr Knie war noch mehr geschwollen als am Morgen.

Sie wünschte, sie hätte die vor Ewigkeiten bestellte Wolle zur Hand und könnte die Zeit nutzen, um zu stricken.

Stattdessen verbrachte Juliane den Nachmittag damit, im Kriechgang ein paar Zweige zu sammeln und sich ausgiebig ein Süppchen zu kochen. Beim Kriechen hatte sie ein paar Wildkräuter gesammelt, die ihrer Suppe ein frisches Aroma verliehen. Dieser Kräutergeschmack war der Höhepunkt des eintönigen Tages.

Abends schmierte Juliane ihre mitgebrachte Sportsalbe auf ihr Knie und hoffte, dass diese so gut half, dass sie am nächsten Tag weiterfahren konnte.

Doch am nächsten Morgen tat ihr Knie so weh, dass Juliane nicht mal ihr Zelt verlassen konnte. Sie knabberte lustlos an ihrer Brotration und sehnte sich nach einem heißen Kaffee. Ihre Stimmung verschlechterte sich von Stunde zu Stunde, dabei war ihre Laune schon am Vortag miserabel gewesen.

Wär ich doch bloß im Schwarm geblieben, oder auch bei diesen Esoterikern. Alles ist besser, als hier zu liegen und nicht vorwärts zu kommen.

Zäh wie ein abgelatschter Kaugummi verstrich dieser zweite Tag der Untätigkeit. Zwischendrin nickte Juliane immer wieder ein und träumte weitere wirre Träume. Mit einer besonders dicken Schicht Salbe hoffte Juliane auf eine Besserung am nächsten Tag.

Wieder wurde Juliane am Morgen enttäuscht. Auch diesmal konnte sie kaum das Zelt verlassen. Sie pinkelte keine zwei Meter entfernt vom Zelt, denn weiter schaffte sie es nicht. Dann verfluchte sie sich ein ums andere Mal, dass sie nicht mehr Brennholz gesammelt hatte, als sie sich noch fortbewegen konnte. Ihr Essen teilte sie sich sparsam ein, denn ihre Vorräte wurden allmählich knapp.

Juliane war des Rumliegens so überdrüssig. Zu allem Überfluss war es auch noch kalt geworden und gegen Mittag fing es an zu regnen. Fröstelnd lag Juliane in ihrem Schlafsack und hoffte, dass der Tag schnell vergehen würde.

Dieses blöde Knie ruiniert mich noch. Wieviel Lebensfreude mich dieses elende Knie schon gekostet hat! Zuerst hat mich der Unfall meine Sportlerkarriere gekostet, dabei waren meine Erfolge so vielversprechend. Und als der Arzt dann die Operation verpfuscht hat, konnte ich mir sogar den Sportlehrerberuf abschminken. Am allersauersten bin ich aber auf Theos Vater, der den Pfuscharzt bei Gericht rausgepaukt hat, sodass ich keinen Cent Schmerzensgeld bekommen habe. Mit Schmerzensgeld hätte ich mir wenigstens eine Wohnung kaufen und mich von den Zinsen ernähren können. Dann säße ich jetzt immer noch gemütlich in der Stadt und könnte meinen Hobbies nachgehen. Oh, wie ich ihn hasse! Und Theo, sein Sohn, ist genau so ein Mistkerl! Welch ein beschissenes Leben! Hier liege ich nun, kann mich nicht rühren und wenn nicht ein Wunder geschieht, werde ich hier verhungern! Oh, wie ich sie alle hasse! Dabei habe ich mir solche Mühe gegeben, mein Leben trotzdem zu meistern. Aber in diesen elenden Zeiten hat ja kaum jemand eine Chance. Nur die reichen Säcke können ein erfülltes Leben führen. Was ist nur aus der Welt geworden?

All ihr Elend brach über Juliane zusammen und sie weinte, bis ihr die Augen zuschwollen. Irgendwann bekam sie vom Schluchzen einen Schluckauf, der sich stundenlang nicht stillen ließ.

Zwischen Schluchzen, Hicksen und Fluchen begann Juliane, ihren Kummer in Töne zu fassen und hinaus zu singen. Das erste Mal in ihrem Leben war sie völlig allein und im weiten Umfeld gab es keinen anderen Menschen, der ihre Laute hören konnte. Wenn zufällig jemand in der Nähe gewesen wäre, hätte er wohl die Flucht ergriffen, weil ihm die heulenden Töne so unheimlich erschienen wären, doch dort wo Juliane in ihrem Zelt hockte, war niemand weit und breit.

Mitten in ihrem Leidensgesang ergriff Juliane ihr gepeinigtes, geschwollenes Knie mit beiden Händen und sang ihm ein Lied des Elends. Sie spürte, wie ihre Hände die Schwingungen des Gesangs in ihr schmerzendes Knie übertrugen. Dadurch schmerzte es noch mehr, aber das fand Juliane angemessen. Nach und nach wandelte sich der Kummergesang in aufmunternde Laute, mit denen Juliane ihrem Knie von Lebendigkeit erzählte. Nachdrücklich vermittelte sie ihrem Gelenk eine Geschichte von tapferen Fahrten durch die Landschaft und das Erreichen von fernen Zielen.

Jetzt bin ich wohl komplett verrückt geworden. Kein Wunder in meiner Situation. Aber es fühlt sich irgendwie gut an, meinem Knie von seiner Heilung vorzusingen, also mach ich einfach noch ein bisschen weiter.

Als es dunkelte, wurde Julianes Kniegesang allmählich leiser und später fiel sie erschöpft auf ihre Isomatte, kuschelte sich in ihren Schlafsack und schlief ein.

Am Morgen wachte Juliane schon beim ersten Sonnenstrahl auf und stellte fest, dass die Schwellung ihres Knies zurückgegangen war. Vorsichtig machte sie sich auf die Suche nach Brennholz und kochte sich einen Kaffee, den sie unendlich genoss. Als die Sonne ihr Zelt getrocknet hatte, packte sie ihre Siebensachen zusammen und nahm ihre Reise wieder auf.

Im Gegensatz zu vorher jagte sich Juliane nicht mehr über die Straßen, sondern hörte ständig auf ihr Bein und passte ihm ihr Reisetempo an. Zur Entspannung machte sie viele Pausen und wenn sie an einen Bach kam, kühlte sie ihre Gelenke mit dem frischen Wasser. Zwischendrin nahm sie immer mal wieder ihr geschundenes Knie in beide Hände und sang ihm ein aufmunterndes Lied. Sie kam sich dabei zwar albern vor, aber irgendwie half es. Gegen Nachmittag fiel ihr ein, dass sie mal einen Bericht gesehen hatte, in dem beschrieben wurde, wie das Schnurren von Katzen die Heilung von Knochenbrüchen förderte. Ob mein Kniegsang wohl so ähnlich wirkt? Egal was da wirkt, Hauptsache es funktioniert, auch wenn es lächerlich scheinen mag.

Drei Tagesreisen weiter hatte sich Julianes Knie soweit gefangen, dass sie kurze Strecken in voller Fahrt zurücklegen konnte. Jauchzend genoss sie den Fahrtwind. Am letzten Tag hatte ihre Suppe zwar hauptsächlich aus den Kräutern bestanden, die sie unterwegs gefunden hatte und der letzte Brotkanten war auch schon längst aufgegessen, aber Juliane fühlte sich so zuversichtlich wie schon lange nicht mehr.

Außerdem war ihr klar, dass sie sich dem Dorf näherte, wo die Menschen noch arbeiteten für ihren Lebensunterhalt und auf Maschinen verzichteten. Die Hoffnung auf dieses Dorf gab ihr immer wieder neue Kraft, bis sie es endlich am Horizont auftauchen sah.

Auf den Feldern vor dem Dorf sah Juliane Kolonnen von Arbeitern, die mit Hacken den Boden bearbeiteten. Sie rief den Leuten einen Gruß zu, der von allen freundlich erwidert wurde.

Als Juliane das Dorf erreichte, sah sie Menschen, die auf den Hausdächern rumkletterten und die Dachziegel erneuerten. An anderer Stelle wurde ein Haus frisch gestrichen. Auch hier wurde ihr Gruß freundlich erwidert. Ein Reiter preschte eilig an ihr vorbei und ließ dabei seine Peitsche knallen. Eh sich Juliane versah, hatte der Reiter das Dorf schon verlassen und befand sich auf dem Weg auf die Felder.

Wie in den anderen Dörfern sah Juliane niemanden untätig auf den Wegen des Dorfes. Sie fuhr wie gewohnt in die Dorfmitte und sah sich nach einem gemeinschaftlichen Speiseraum oder einem Wirtshaus um. Auch in diesem Dorf wurde sie schnell fündig und stellte ihr Fahrrad vor dem Speisehaus ab.

Diesmal fand Juliane schneller den Mut zu klopfen und einzutreten.

"Hallo, ist dort jemand?" rief sie in einen Raum mit vielen Tischen, der hier, wie bei den Esoterikern, sehr aufgeräumt wirkte.

Eine freundlich wirkende Frau mittleren Alters begrüßte Juliane und forderte sie auf, ihr Gepäck abzulegen.

"Du kommst gerade richtig, denn ich kann dringend Hilfe in der Küche gebrauchen."

Vollautomatisch

Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft. Neue Konzepte für das 21. Jahrhundert
von Jeremy Rifkin

Die Virenjägerin
< <   > >

1  2  3  4  5  6  7  8  9  10  11  12  13  14  15  16  17  18  19  20  21  22  23  24  25  26  27  28  29  30  31  32  33 

Vollautomatisch
Vollautomatisch

208 Seiten
ISBN 3-938764-01-5

Preis: 14.80 Euro

Bestellen...