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Vollautomatisch

Kapitel 13


  
Nach Nora kam Sarah und ehe sie sich versah, war Juliane die Dienstälteste bei der Stimmmuster-Aufzeichnung. Der letzte Arbeitsmonat diente dem Auffüllen von Lücken und eventuellen Korrekturen. Juliane telefonierte in dieser Zeit mehrmals mit Martina, der es sehr gut zu gehen schien.

Immer wieder hatte Juliane durchgerechnet, wie lange sie ohne Job durchhalten könnte, war aber noch zu keinem befriedigenden Ergebnis gekommen. Drei Monate würde sie mit Sicherheit schaffen, denn der erste Monat wurde ja noch vom Callcenter finanziert. Für zwei weitere Monate hatte sie genug angespart, um die Miete im Voraus zahlen zu können. Danach hing Julianes Leben aber davon ab, wie sparsam sie lebte.

Den ersten freien Monat genoss Juliane in vollen Zügen. Ihren Computer hatte sie natürlich beauftragt, weiterhin nach Jobs zu suchen, außerdem hatte sie sich als Anbieter von Bürodienstleistungen registrieren lassen. Aber da keine Angebote reinkamen, hatte sie den ganzen Tag zur freien Verfügung.

Im Gegensatz zum letzten Mal grauste sich Juliane jedoch nicht vor jedem neuen Tag, der sie vermeintlich dem Schwarm näher brachte, sondern konnte den kommenden Monaten entspannter entgegensehen.

Sie verbrachte ganze Tage in der Mittelalterwelt. Inzwischen hatten sie die Hauptstadt längst erreicht und die Königsfamilie war wohlbehalten der Obhut des hiesigen Königs anvertraut worden. Juliane hatte sich einer Kriegertruppe angeschlossen, die das besetzte Nachbarland befreien wollte. So erlebte sie die weite Reise noch einmal in der umgekehrten Richtung, diesmal jedoch mit mehr Erfahrung.

Als der zweite freie Monat anfing wurde Juliane unruhiger, obwohl das Callcenter ihr mehr Tantiemen überwiesen hatte als erwartet. Sie beschloss, sich aktiver um Büroaufträge zu kümmern. Dazu richtete sie sich eine seriös wirkende Webseite ein, auf der sie sich vorstellte und ihr Angebot detailliert beschrieb. Sie opferte sogar etwas Geld, um sich in Verzeichnisse eintragen zu lassen. Doch diese Maßnahmen brachten keinerlei Resonanz.

Ob ich vielleicht doch mal bei diesem Thomas anrufe, den ich damals auf der Party kennengelernt habe? So ganz ohne Sekretärin sammelt sich bestimmt einiges an Arbeit an, trotz der tollsten Computerprogramme. Oh, es ist mir aber so peinlich, wie ich mich damals aufgeführt habe. Ach was, ich tu einfach so als wär nichts Peinliches gewesen. Er kann ja schließlich auch absagen. Ob ich es wirklich wagen soll? Gib dir einen Ruck, Mädel!

Lange feilte Juliane an einer Nachricht, um sie Thomas zu schicken. Nachdem sie die Nachricht abgeschickt hatte, lief sie unruhig in ihrer Wohnung auf und ab. Nicht mal auf ihre Mittelalterwelt konnte sie sich richtig konzentrieren. Dabei kann es Tage dauern, bis er antwortet. Wenn er sich überhaupt je meldet. Immmer mit der Ruhe!

Schon am gleichen Abend wurde Juliane von ihren Qualen erlöst. Thomas meldete sich nicht nur direkt zu einem Livegespräch, sondern er schien sich auch über Julianes Anruf zu freuen.

"Zuerst dachte ich ja, ich hätte keinen Büroauftrag zu vergeben. Aber ich wollte dich gerne mal wieder sehen. Und dann fielen mir die alten handschriftlichen Akten ein, die sich bei mir auf den Schränken türmen. Die automatische Schrifterkennung hat bei meiner Handschrift versagt und so fehlen mir einige Daten im Computer."

"Das klingt gerade richtig für mich. Wann soll ich anfangen?"

"Sobald du willst. Aber ich kann nicht viel zahlen. Eigentlich kann ich kaum einen Hungerlohn zahlen."

"Kein Problem, ich machs dir billig. Wenn es dir recht ist, komme ich gleich morgen."

"Ja, das wäre wunderbar. Dann bis morgen."

"Bis morgen."

Huch, das ging jetzt aber plötzlich. Hurra! Ich habe einen Auftrag!

Juliane sprang von ihrem Drehstuhl auf und tanzte ausgelassen durch die Wohnung. Sie fühlte sich, als hätte sie im Lotto gewonnen. Dabei war ihr eigentlich klar, dass der Auftrag bestenfalls helfen würde, einen weiteren Monat zu überbrücken.

Am nächsten Morgen wachte sie schon frühmorgens auf, voll gespannter Erwartung. Sie duschte besonders ausgiebig und gönnte sich ein üppiges Frühstück, weniger weil sie Hunger hatte, sondern um sich die Zeit zu vertreiben, bis sie bei Thomas aufkreuzen durfte.

Als sie dann vor dem Haus stand, wunderte sie sich nicht mehr, dass Thomas Geschäfte nicht besonders gut liefen. Seine "Kanzlei" befand sich im Souterrain eines stinknormalen Einfamilienhauses.

Thomas bat Juliane gleich nach dem ersten Klingeln gestenreich ins Innere seiner Kanzlei. Juliane betrat die Wohnung - neugierig, wie Thomas wohl lebte und arbeitete. Der Wohnungsflur war als Rezeption getarnt, der man auf den ersten Blick ansah, dass sie selten benutzt wurde. Das Büro war wohl ursprünglich als Wohnzimmer geplant gewesen. Jetzt beeindruckte es vor allem durch Papierfülle.

Hastig räumte Thomas einen Aktenstapel von einem Stuhl und forderte Juliane auf, Platz zu nehmen. Juliane setzte sich und nickte zustimmend, als Thomas sie fragte, ob sie Kaffee wollte. Während Thomas unterwegs war, um den Kaffee zu organisieren, schaute Juliane sich im Büro um.

Hier fehlt wirklich eine ordnende Hand. Da geht es ja nicht nur um ein paar Akten auf den Schränken. Obwohl sich auf den Schränken natürlich auch die Akten stapeln.

"Hier ist dein Kaffee. Und willkommen in meinem Chaos!"

"Danke! Sieht ja eigentlich so aus, als hättest du gut zu tun."

"Das soll es einerseits auch. Andererseits wäre ich schon sehr froh, wenn die ältesten Fälle auf den Schränken mal verschwinden könnten. Denn dann habe ich mehr Luft für die aktuelleren Akten."

"Ja, das leuchtet ein. Dann mach ich mich am besten wohl gleich an die Arbeit."

"Hiermit kannst du anfangen und dich dann nach und nach im Uhrzeigersinn vorarbeiten."

Thomas schob einen Stufenhocker an die Tür, stieg nach oben und griff nach dem dicken Stapel Akten. Kurzfristig verlor der Stapel das Gleichgewicht und die Akten drohten einzeln auf den Boden zu fliegen. Juliane sprang schnell auf, um sie aufzufangen. Doch dann gelang es Thomas gerade noch rechtzeitig, den Stapel auszubalancieren und unbeschadet auf den Schreibtisch gleiten zu lassen. Eine Staubwolke stieg auf.

"Puh, hast du irgendwo ein Tuch?"

"Ja, dort auf meinem Tisch."

Juliane zog ein Tuch aus dem Spender und begann, die blassroten Akten zu entstauben.

"Und was genau soll ich jetzt mit den Akten anstellen?"

"Schau hier: die maschinengeschriebenen Texte sind natürlich alle längst im Computer. Es geht nur um die Randbemerkungen und Gesprächsprotokolle. Dort an dem Schreibtisch kannst du dich ausbreiten. Das Programm ist schon instruiert, dass du alte Fälle ergänzen willst. Falls du nicht klar kommst, frag einfach."

"Ich seh hier gerade die Jahreszahl. Bist du schon so lange im Geschäft?"

"Jein. Schon in der Schulzeit habe ich in der Kanzlei meines Patenonkels ausgeholfen. Dort habe ich mir auch mein Studium verdient und nach dem Studium bin ich als Juniorpartner in die Kanzlei eingestiegen. Kurz danach ist mein Onkel jedoch gestorben und hat mir all die Akten hinterlassen. Leider hatte er kaum reiche Kunden und die anderen bleiben weg, weil der Staat keine Prozesse mehr finanziert. Wer kein Geld hat, muss heutzutage mit einem juristischen Beratungsprogramm auskommen."

"Das klingt ja gar nicht erfreulich."

"Stimmt. Aber wer solls bezahlen? Was solls? Du blickst soweit durch?"

"Ja, alles klar und wenn was unklar wird, frage ich."

Juliane nahm die oberste Akte vom Stapel und öffnete sie. Das Gekrakel am Rand war eines Arztes würdig, so schlecht konnte man es entziffern. Der Name des Mandanten war jedoch deutlich gedruckt und so fand Juliane den Mandanten schnell im Computer. Nachdem sie den Stapel Blätter mehrmals durchgesehen hatte, bekam sie auch ein Gefühl für die Handschrift und es gelang ihr, die Randbemerkungen in der Maschine zu verewigen.

Das Anwalt-Programm war anscheinend bestens auf die Aufgabe mit den alten Akten vorbereitet. Es bot Juliane geeignete Stellen, um Kommentare einzutippen und erklärte sich von selbst.

Wahrscheinlich sitzen jetzt überall billig angeheuerte Aushilfskräfte, die gut genug für die Verwaltung eines Konzerns ausgebildet wären, und tippen unleserliche Akten ab. Die letzte Bastion menschlicher Arbeit. Nicht mal mehr den Boden kehren müssen wir Menschen.

Dort, wo einige Staubflocken von den Akten zu Boden gefallen waren, sauste ein babykatzen-großes Gerät zur Bodenreinigung über den Staub und hinterließ eine makellose Fläche.

Auf jeden Fall ist es besser als alleine zuhause sitzen. Und es ist ja durchaus eine sinnvolle Tätigkeit. Eigentlich geht es sogar ganz flott von der Hand.

Nach kurzer Zeit hatte Juliane den Stapel abgearbeitet, schob ihn an das freie Ende ihres Tisches und kletterte auf den Hocker, um Nachschub zu holen.

"Nimm erst mal nur die obere Hälfte und reich sie mir. Sonst gehts dir wie mir."

Juliane tat wie geheißen und reichte Thomas die obere Hälfte des Stapels. Mit dem Rest in der Hand erreichte sie unbeschadet den Boden.

"Du kommst ja richtig flott voran. Klappt alles?"

"Ja, geht einfach. Nachdem ich mich mal in die Handschrift eingelesen hatte, war der Rest ein Kinderspiel."

"Erstaunlich, dass du die Klaue lesen kannst."

"Tja, an mir ist wohl eine Apothekerin verloren gegangen. Ich mach mal weiter."

Als Juliane gerade den dritten Stapel vom Schrank holen wollte, bremste Thomas sie.

"Lass uns erst mal was essen. Ich habe schon Hunger. Was hältst du von einer Pizza? Ich lade dich ein."

"Da sage ich nicht nein. Pizza klingt sehr lecker."

"Ok, ich bestell schnell welche."

Keine zehn Minuten später klingelte es im Gang. Thomas stand auf und öffnete eine Klappe hinter der Rezeption. Im Warenaufzug dampften die beiden Pizzas.

"Schau, man kann den Tresen der Rezi umklappen, dann hat man einen Tisch."

Juliane staunte über den praktischen Wandeltisch und legte die Pizzapackungen an passende Plätze. Thomas holte Besteck aus einem Schrank, der sich als verborgene Kochnische entpuppte. Dann ließen sie es sich schmecken.

"Schmeckts dir?"

"Oh ja, wunderbar!"

"Schade, dass es ein teures Vergnügen ist, sonst würde ich wahrscheinlich täglich Pizza bestellen."

"Weisst du was? Ich könnte uns ab morgen was kochen. In letzter Zeit habe ich einen Haufen billige Rezepte gesammelt, aber für eine Person lohnt es sich kaum zu kochen."

"Das ist ja eine phantastische Idee. Gekochte Mahlzeiten sind eine Seltenheit für mich."

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208 Seiten
ISBN 3-938764-01-5

Preis: 14.80 Euro

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