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Vollautomatisch

Kapitel 9


  
Kräftiges Rütteln an der Schulter weckte Juliane. Boah, das ist aber wirklich lebensecht. Die Schulter tut fast weh vom Schütteln.

Sie sprang auf und blickte sich um - es war stockdunkel.

"Psst, du bist dran mit der Wache!"

"Ok, wo soll ich mich am besten postieren?"

"Draußen vor dem Scheunentor. Da hast du auch den besten Überblick."

Juliane folgte den schlurfenden Geräuschen und tastete sich vorsichtig um Hindernisse herum. Draußen konnte man schon einen schwachgrauen Schimmer am Horizont erahnen, daher fiel die Orientierung leichter.

Der Wachtposten, der sie geweckt hatte, deutete auf eine umgedrehte Holzkiste und zog sich ins Innere der Scheune zurück. Juliane machte es sich auf der Kiste so bequem wie möglich und ließ ihren Blick über das Tal schweifen.

Dort, wo Juliane den Fluss vermutete, stieg Dunst auf. Die Nebelfetzen sahen aus wie transparente Feen, die sich im Wind wiegten. Etwas weiter links, wo sich der Fluss in der Ferne verlor, leuchtete der Himmel in Bodennähe etwas stärker; dort musste Osten sein.

Es war ruhig - und kalt.

Verdammt realistisch! Es fühlt sich tatsächlich kalt an, vor allem wenn mir so eine Windböe um die Nase weht. Die Leute sind hier ja ziemlich vertrauenswürdig: lassen mich hier alleine aufpassen. Ich könnte schließlich alle abmurksen und mit der Beute fliehen. Daran merkt man wohl, dass es ein Spiel ist, denn als Einsteiger hätte man sonst wohl keine Chance. Oder die Wächter testen mich und bewachen mich heimlich im Hintergrund. So wirds sein.

Der östliche Himmel wurde allmählich heller. Eine Spur Rosa mischte sich in das Grau und nahm nach und nach an Stärke zu. Die Vögel zwitscherten um die Wette, so dass es schon fast laut war. Aus der Hütte neben der Gaststube drang der Duft von frischem Brot.

Die Nebelfeen am Fluss tanzten immer schneller, als wären sie in wilde Ekstase geraten. Die Sonne tauchte ihre Himmelshälfte inzwischen in leuchtendes Rot und schob sich über den Horizont. Das Vogelkonzert änderte die Tonart und die Feen eilten davon.

Die Wächter kamen einer nach dem anderen aus der Scheune, gähnten und rieben sich die Augen. Der Wirt trat aus seinem Gasthaus, warf einen Blick in die Runde und streckte sich. Das nahm auch Juliane zum Anlass, sich von ihrem Wachtposten zu erheben und zu strecken. Der Morgentau hatte sich feucht auf ihre Haare und Kleider gelegt, ließ sich aber leicht abwischen. Ob das die Reste der Nebelfeen sind?

Juliane versicherte sich beim Chef der Wächter mit einem Blick, dass ihre Schicht beendet war und ging zurück in die Scheune zu den Frauen. Dort half sie beim Zusammenpacken des überall verstreuten Gepäcks der kleinen Familie. Ihre eigenen Habseligkeiten waren mit zwei Handgriffen verstaut.

Anschließend gab es für alle im Wirtshaus ein herzhaftes Frühstück mit Haferbrei und dicken Scheiben des frischgebackenen Brotes belegt mit Schinken. Oh, wie das schmeckt und duftet! Es hat sich wirklich gelohnt, heute in die Stadt zu gehen. Die Sinneswahrnehmungen sind genial.

Bis die Reisegesellschaft abmarschbereit war, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Die Krieger saßen auf stolzen Rössern und die Damen reisten in einer Kutsche. Jeweils sechs Ochsen zogen mehrere schwere Lastkarren. Rufus brachte Juliane eine temperamentvolle Stute, deren braunes Fell von einer weißen Blesse geziert wurde. Die Stute stupste Juliane freundlich an die Schulter und senkte dann den Kopf zu Julianes Hand, in der sie einen Apfel trug. Der Apfel war schneller weg als Juliane Luft holen konnte, aber die Stute schien sehr zufrieden mit der Willkommensgabe und ließ Juliane bereitwillig aufsitzen.

Langsam setzte sich die Karawane in Bewegung. Durch die Ochsenkarren kamen sie nur langsam voran. Dennoch verlor sich das Dorf bald hinter ihnen in der Ferne.

Nach etwa zwei Stunden hielt die Kutsche unvermittelt an. Betty streckte ihren Kopf durch die Kutschentür und sagte: "Klein Georg muss mal."

Juliane sprang vom Pferd und half Betty und dem kleinen Jungen aus der Kutsche. Georg klemmte die Beine zusammen, also war es schon ziemlich dringend. Mit gezücktem Schwert begleitete Juliane die beiden in ein nahes Gebüsch.

Als hätten die Räuber nur auf diesen Moment gewartet, sprangen sie sofort aus dem Unterholz sobald Georg die Hosen runtergelassen hatte. Juliane wechselte das Schwert in die Linke, zog mit der Rechten ihren Dolch aus der Beintasche und warf ihn auf den entfernteren der beiden Räuber, der röchelnd zusammenbrach. Dann nahm sie das Schwert wieder in die gewohnte Hand und stürmte auf den anderen Räuber zu, der sich verwirrt umblickte. Juliane nutzte die Verwirrung und enthauptete den Unhold.

Erst danach bemerkte sie die erschreckten Schreie von Betty und Georg. Rufus und einige andere Krieger tauchten auf, steckten ihre Schwerter aber wieder ein als Juliane sagte: "Schon erledigt".

Rufus schlug ihr anerkennend auf die Schulter und wies seine Männer an, die Leichen zu entfernen. Einer der Männer brachte Juliane ihren Dolch zurück. Sie wischte das Blut an einem Büschel Gras ab und steckte ihn wieder ein. Schließlich zogen sich die Männer wieder zurück und überließen Georg seinem dringenden Geschäft. Echt einfach das Töten. Das liegt bestimmt daran, dass es ein Spiel ist.

Der restliche Tag verlief ohne Scharmützel und Juliane genoss das Reiten durch die rauhe Landschaft. Abends machten sie wieder Station in einem Gasthaus. Diesmal gab es sogar ein richtiges Gastzimmer für die Frauen. Juliane als Wächterin musste auf dem Boden vor dem Bett schlafen, aber das war ihr ganz recht, denn in den Matratzen vermutete sie Ungeziefer.

Ab und zu tauchte Juliane aus ihrer mittelalterlichen Welt wieder auf und überprüfte, ob sich ihr Computer auch brav bei jeder freien Stelle bewarb. Manchmal riss sie auch ihr knurrender Magen aus dem Spiel, wenn er mal wieder nicht aufhörte, obwohl sie gerade ein virtuelles Steak verzehrt hatte. Dann machte sie sich schnell eine Stulle, um möglichst bald wieder in der lebensstrotzenden Mittelalter-Welt einzutauchen.

Im Laufe der Woche schlug sie sich durch mindestens ein Dutzend Scharmützel, aus denen sie jedes Mal siegreich hervorging. Nach zwei Spieltagen in der Stadt, wo Juliane ihren Sold beim Würfeln verlor, ging die Reise weiter in Richtung Hauptstadt. Meistens zogen sie auf Nebenstraßen, sodass sie nicht viele andere Reisende, dafür umso mehr Einheimische trafen.

Der Verdacht, dass die Frauen keine Händlerinnen, sondern Adlige auf der Flucht waren, erhärtete sich von Tag zu Tag. Doch sie versuchten immer noch ihre Tarnung aufrecht zu erhalten, auch gegenüber Juliane, sodass sie sich noch nicht sicher war.

"Juliane, du hast eine wichtige Nachricht!"

Die Stimme ihres Computers riss sie unsanft aus einem interessanten Gespräch über Schwertkampf. Juliane zog ihr Headset vom Kopf, um die Nachricht mit ihren normalen Augen entgegen zu nehmen. Für ernsthafte Zwecke war ihr die 3D-Welt des Headsets noch unheimlich und sie zog den Bildschirm vor.

"Das Callcenter hat geschrieben. Morgen nachmittag hast du ein Live-Gespräch mit einem menschlichen Personalchef."

"Sehr gut! Vielleicht nehmen die mich ja. Wenn die sich schon die Mühe machen, einen Menschen zu bemühen."

"Du solltest vorher aber ordentlich ausschlafen, was essen und vor allem duschen."

"Ist ja gut, ich weiß schon, dass ich mich erstmal wieder ansehnlich hinkriegen muss. Betüddel mich nicht so!"

"Du hast aber meinen mütterlichen Modus aktiviert."

"Aber übertreib es nicht so, sonst deaktivier ich den Muttermodus!"

"Wie du wünschst."

Juliane setzte ihr Headset wieder auf und führte ihr Gespräch über Schwertkampf fort. Aber als ihr Magen das nächste Mal unstillbar knurrte, nahm sie sich den Rat ihres Computers zu Herzen und kochte sich eine ordentliche Portion Spaghetti. Anschließend duschte sie ausgiebig, was sie bitter nötig hatte. Ihre Haare hingen in fettigen Strähnen um ihren Kopf, so sehr hatte sie sich die ganze Zeit über in das Spiel vertieft.

Da hab ich mich schon ordentlich hinreißen lassen in der letzten Woche. Das Leben in World 3000 macht aber auch wirklich Spaß. Man wird gebraucht und hat Erfolgserlebnisse. Und es ist so lebendig dort. Nicht so grau und trostlos wie im echten Leben. Mich wunderts nicht mehr, dass manche Leute sich total in solchen Spielen verlieren und mit der Realität nichts zu tun haben wollen. Aber mir soll das nicht passieren!

Am nächsten Nachmittag saß Juliane schon ganz unruhig vor ihrem Bildschirm und wartete auf den Anruf. Hoffentlich schwätze ich kein dummes Zeug. Was der mich wohl alles fragen wird?

Als schließlich das Gesicht eines dynamisch wirkenden Mittvierzigers auf dem Bildschirm erschien, schlug Julianes Herz bis zum Halse.

Das Gespräch verlief jedoch schnell und schmerzlos. Schon nach wenigen Minuten sagte ihr Gegenüber: "Sie hören von uns", und noch bevor Juliane fragen konnte: "wann", verschwand er aus der Leitung.

Ob das jetzt ein gutes Zeichen ist oder eher ein ganz schlechtes? Wie schnell der jetzt plötzlich weg war. Und er wollte kaum etwas wissen. Ich werds wohl erfahren. Aber wann? Es ist zum Verrücktwerden. Na ja, dann kann ich genau so gut weiter durchs wilde Mittelalter reisen.

In der Mittelalterwelt wartete ein Scharmützel auf sie. Gleich ein Dutzend Räuber hatte es auf ihre Reisegruppe abgesehen. Einer der Verteidiger erhielt eine Fleischwunde am Arm, sodass er verbunden werden musste. Ansonsten kamen sie aber ungeschoren davon und konnten ihre Reise fortsetzen. Juliane genoss die raue Natur in vollen Zügen. Auch die derbe Kameradschaft unter den Kriegern behagte ihr, sie fühlte sich inzwischen wie ein Teil einer großen Familie.

Eines Abends saß sie mit den Kindern am Feuer und lauschte Sabinas Geschichten aus der Heimat. Sabina hatte gerade angefangen, von ihrem großen Haus zu erzählen, so dass Juliane hoffte, endlich Genaueres über die Herkunft der Reisenden zu erfahren.

"Juliane, du hast eine wichtige Nachricht!"

Das Gesicht des Personalchefs erschien als Aufzeichnung auf Julianes Bildschirm.

"Wir haben uns für Sie entschieden. Bitte kommen Sie morgen früh um neun in unser Firmengebäude und melden Sie sich im vierten Stock bei Herrn Trotzmann. Willkommen im Team!"

Das war alles. Im Anhang fand Juliane noch eine Wegbeschreibung. Als sie versuchte, sich ihre zukünftige Arbeit vorzustellen, merkte sie, dass sie kaum etwas darüber wusste. Eigentlich war ihr nur bekannt, dass es um ein Callcenter ging. Eigentlich sagt das ja schon alles. Dort muss ich halt mit vielen Kunden telefonieren. Und immer freundlich bleiben. Erstaunlich, dass die noch Menschen zum Arbeiten brauchen.

Zuerst saß sie eine Weile einfach da und starrte in ihren Bildschirm. Ihre Gefühle waren völlig durcheinandergeraten. Doch nach und nach begriff sie, dass ihre aussichtslos scheinende Arbeitssuche eine glückliches Ende gefunden hatte.

Schließlich sprang sie auf und tanzte durch ihre Wohnung. "Hurra, ich hab einen Job! Hurra!"

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208 Seiten
ISBN 3-938764-01-5

Preis: 14.80 Euro

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