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Vollautomatisch

Kapitel 2


  
Weckerschrillen riss Juliane aus dem Schlaf. Oh, nein, jetzt nochmal zur Arbeit. Die brauchen mich dort doch gar nicht. Am liebsten hätte sie sich krank gemeldet, aber diese Blöße wollte sie sich nicht geben.

Also stellte sie sich lange unter die Dusche und geizte anschliessend nicht mit einem kaltem Nachschauer. Trotzdem sah sie im Spiegel immernoch die dick verquollenen Augen. Naja, es zerstört keine ausgeprägte Schönheit. Mit Make-Up versuchte sie den Schaden zu mindern, doch weil sie sich nicht vollständig zukleistern wollte, schien die Rötung der Augen am Schluss noch durch. Was solls?

Für die Fahrt zur Arbeit kramte Juliane eine Sonnenbrille aus der Schreibtischschublade. Beim Aufsetzen fühlte sie sich wie eine Agentin auf geheimer Mission. Diese Vorstellung heiterte sie etwas auf, sodass sie forschen Schrittes zur U-Bahnstation marschierte. Heute hatte sie wieder soviel Schwung im Bein, dass ihr Hinken kaum auffiel.

Vor ihrem Laden erlahmte der Schwung jedoch nach und nach. Bis sie im Personalraum angekommen war, schlich sie wie ein getretener Hund und fühlte sich auch so.

Genieß die letzten Tage, höhnte es in ihrem Kopf. Was für ein Unfug, als ob Kassieren mein Traumjob wäre. Andererseits ist auch was dran: schließlich will ich Arbeit und hier habe ich Arbeit, wenn auch nicht mehr lange. Also reiß dich zusammen, Mädel!

Juliane bemühte sich, ihre wenigen Kunden besonders freundlich anzulächeln. Das kann ich ihnen immerhin bieten: ein echtes menschliches Lächeln.

Neben ihr schleuste die automatische Kasse einen Kunden nach dem anderen durch. Wahrscheinlich werden sie gar keine zweite Kasse dieser Art brauchen, so schnell wie die ist. Heutzutage haben eh nur noch wenige Leute genug Geld, um in Supermärkten einzukaufen.

Abends setzte sich Juliane an die Bildwand in ihrem Zimmer und schickte unzählige Bewerbungen ab. Einen Text hatte sie noch vom letzten Mal.

Nicht nur bei den schlechbezahlten Jobs versuchte sie es, sondern sie wagte auch mal wieder Versuche als Betriebswirtin. Ihre fehlende Berufserfahrung würde sie zwar disqualifizieren, aber sie hoffte auf eventuelle Glückstreffer. Die meisten meiner Bewerbungen werden bestimmt sofort in den Papierkorb wandern. Aber was hilfts: Ohne Bewerbungen gibt es gar keine Chance auf Arbeit.

Am Samstag nachmittag entschloss sich Juliane, doch zum Juristenball zu gehen. Nimm es als inoffiziellen Bewerbungsversuch. Es geht schliesslich nicht ums Vergnügen.

Stundenlang stand sie vor dem Spiegel, um mit möglichst wenig Make-Up das Beste aus sich herauszuholen. Halbwegs zufrieden begutachtete sie schließlich ihr Werk. Ihre blaugrauen Augen hatte sie dazu gebracht in einem Blau zu leuchten, das an den Sommerhimmel erinnerte. Durch ihre dunkelblaue Bluse wurde dieser Effekt noch verstärkt. Damit ihr Hinken möglichst wenig auffiel, entschied sie sich für einen langen Rock, der um die Hüften eng anlag. Dadurch hatte sie auch gleich einen Blickfänger für ihr wohlgerundetes Hinterteil.

Auf dem Weg zur U-Bahn blickten ihr wieder viele Passanten hinterher, doch diesmal war Juliane sicher, dass es an ihrer schicken Aufmachung lag. Die Blicke fühlten sich auch anders an als sonst: Von Männern lüstern und von den Frauen bissig. Sonst rochen die Blicke eher nach Mitleid oder Verachtung.

Die Party fand im Bankenviertel statt, dort wo die Bürotürme in den Himmel ragen. Juliane gefiel das Schimmern, das von manchen solarverkleideten Fassaden ausging. Unzählige Solarzellen hatten sich so ausgerichtet, dass sie das Abendlicht einfingen. Sieht fast so aus wie eine Katze mit gesträubtem Fell. Aber mit Glitzerfell. Die meisten der Hochhäuser hatten jedoch starre Solarzellen als Fassade, andere waren traditionell verkleidet.

Überall Solarfassaden. Die haben sich inzwischen ja mächtig durchgesetzt. Macht auch Sinn, wenn man seine Büros preiswert mit Strom versorgen will. Außerdem sieht es hübsch aus. Was das wohl kosten mag, so einen ganzen Wolkenkratzer in bewegliche Solarmodule einzukleiden?

Auch der Austragungsort der Party, ein Nobelhotel, schimmerte im Abendlicht. Julianes ID-Karte, die in ihrem Handtäschchen steckte, erlaubte ihr ungehinderten Zugang zur Lobby. Die Scangeräte am Eingang erkannten sie offenbar als geladenen Gast der Party, ohne dass Juliane die Karte auch nur auspacken musste.

Monströse Kronleuchter und zahllose Spiegel verliehen der Empfangshalle etwas Majestätisches. Ein Wachtposten im schwarzen Anzug wies Juliane den Weg zum Ballsaal. Sie fühlte sich etwas deplaziert in diesem noblen Ambiente. Durch eine breite Tür gelangte sie in den Festsaal. Rechterhand war ein üppiges Buffet aufgebaut; Juliane erkannte auf den ersten Blick, dass auch Hummer geboten wurde.

Die meisten der Anwesenden balancierten schwer beladene Teller in ihren Händen und standen in Grüppchen zusammen. Andere lümmelten sich auf den wenigen Sofaplätzen. Tanzmusik tönte aus allen Ecken des Raumes, gerade so laut, dass man sich noch unterhalten konnte.

Drei Gäste wiegten sich mitten im Raum im Rhythmus der Musik. Früher hätte ich auch erstmal getanzt, um mit der Atmosphäre warm zu werden. Schade, dass das nicht mehr geht. Ob ich überhaupt ein bekanntes Gesicht entdecke? Was solls? Erstmal lasse ich mich vom Buffet verwöhnen, der Rest wird sich dann zeigen.

Juliane nahm sich einen der wagenradgroßen Teller und gruppierte teure Häppchen zu einer gemischten Gesellschaft auf ihrem Teller zusammen. Sie griff vor allem zu Delikatessen, die sie sich sonst nicht leisten konnte: Hummersushi, Krabbensalat, Lachsröllchen und Kaviar. Nur um die Austern machte sie einen großen Bogen, denn mit dieser Glibbermasse hatte sie sich nie anfreunden können.

Sie schaute sich um, ob sie jemand entdeckte, zu dessen Plaudergruppe sie sich gesellen konnte, aber die Gäste in Buffetnähe waren ihr bestenfalls vom Sehen bekannt. So stellte sie sich etwas abseits an den Rand des Geschehens, um den Hungrigen nicht im Weg zu stehen.

Merkwürdig, die meisten sehen nicht so selbstzufrieden aus, wie ich sie in Erinnerung habe. Manche scheinen gar sorgenvoll. Aus den Gesprächsfetzen drang immer wieder "Advokat 5.0" an Julianes Ohr. Einer der Partygäste gestikulierte sogar wild und stieß dabei immer wieder "5.0" aus seinem empört verzogenen Mund. Ob dieses "Advokat 5.0" wohl das Äqivalent zu meiner automatischen Kasse ist? Das ist ja fast so, wie ich mir das schon ausgemalt habe. Unheimlich.

"Na, junge Lady! So ganz allein hier?" ein junger Unbekannter stand plötzlich neben Juliane.

"Nein, das nicht. Meine Bekannten habe ich in dem Gewühl nur noch nicht entdeckt."

"Ja, es ist ordentlich voll hier. Sie wollen wohl alle nochmal standesgemäß feiern, bevor ihnen das Licht ausgeht."

"Wegen dieses Advokat-Programmes?"

"Ja genau, der Tod aller Anwälte. Außer natürlich für die Inhaber der großen Kanzleien. Die profitieren davon, weil sie die meisten Fälle jetzt vollautomatisch abwickeln können."

"Ist das Programm soviel besser als die Vorgängerversion?"

"Die letzte war auch schon recht leistungsfähig. Aber mit dieser neuen Version werden wir fast völlig überflüssig."

"Hat es Sie auch erwischt?"

"Nur indirekt. Ich habe eine eigene kleine Kanzlei und spare natürlich Zeit bei der Bearbeitung meiner Fälle. Aber die Fälle werden immer weniger, weil die Mandanten ihre Rechtsfragen jetzt einfach vom Programm beantworten lassen. Bei mir landen fast nur noch Fälle mit Anwaltspflicht. Davon kann ich aber auf Dauer nicht leben."

"Klingt ja auch nicht so berauschend. Immerhin haben Sie Ihr festes Tarifsystem."

"Noch. Einflussreiche Kanzleien kämpfen für die Liberalisierung der Gebührenordnung, um mit Dumpingpreisen mehr Mandanten anlocken zu können. Dann gehts uns endgültig an den Kragen."

"Da müsste man wohl Richter oder Staatsanwalt sein, um seine Schäfchen trocken zu halten, oder?"

"Selbst das nützt nicht mehr viel, denn Justitia 7.0 erledigt die meisten Fälle automatisch. Die Urteile müssen nur noch von einem menschlichen Richter abgesegnet werden, so will es das Gesetz. Als Beamte können die Richter natürlich nicht einfach entlassen werden, aber jede Gelegenheit wird genutzt, um ihre Bezüge zu kürzen. Junge Richter gibt es zur Zeit gar nicht."

"Gibt es überhaupt noch eine Branche, in der Menschen gebraucht werden?"

"Mir fällt spontan keine ein. Da sind höchstens noch Nischen oder Spitzenpositionen."

"Es ist schon bitter, dass wir letzlich zu Opfern der Automatisierung werden. Dabei sollten sie uns doch die unerfreulichen Tätigkeiten abnehmen."

"Genau das tun sie ja auch, aber sie sind inzwischen zu gut geworden. Eigentlich machen mir die langweiligen Standardfälle sowieso keinen Spaß, aber uneigentlich bräuchte ich sie zum Leben. Lieben Sie Ihre aktuelle Tätigkeit?"

"Beileibe nicht, es ist nur ein Notjob, denn als Betriebswirtin habe ich keine Stelle gefunden. Aber selbst diese Arbeit bin ich nächste Woche los. Ich würde lieber Steine schleppen, als in den Erwerbslosen-Schwärmen vor mich hinzuvegetieren. Sie brauchen nicht zufällig eine fähige Sekretärin?"

"Leider nein, keine Chance, obwohl ich es mir gerne leisten können würde."

"Ich habe auch nicht damit gerechnet, nachdem was Sie berichtet haben, Herr ... wie darf ich Sie eigentlich nennen?"

"Sorry, ich vergaß mich vorzustellen. Thomas ist mein Name."

"Gut, Thomas, ich heiße Juliane."

Scheint ein netter Typ zu sein; wenigstens kann man gut mit ihm reden. Sieht auch gut aus. Zu gut für mich. So jemand interessiert sich nur für makellose Frauen. Was solls? Amouröse Verwicklungen könnte ich jetzt sowieso nicht gebrauchen.

"Wer profitiert eigentlich von der ganzen Automatisierung? Das können doch nur ein paar Reiche sein, oder?", versuchte Juliane, das Gespräch wieder in Gang zu bringen.

"Nichtmal die. Die Steuern für Gewinne und Vermögen sind so exorbitant, dass selbst in diesen Kreisen helle Aufregung herrscht. Schließlich muss jemand die Versorgung der ganzen Erwerbslosen finanzieren. Diese Last wird immer größer und verteilt sich auf immer weniger Schultern. Nichtmal mehr auswandern lohnt sich, weil es inzwischen überall gleich ist."

"Das haben wir Menschen mal wieder prima hingekriegt. Rationalisieren uns einfach selber weg."

Sie unterhielten sich noch eine Weile, bis sich Juliane daran erinnerte, dass sie nach möglichen Jobs Ausschau halten wollte. Die würde sie bestimmt nicht finden, wenn sie sich die ganze Zeit mit einem einzigen Gast unterhielt. Also verabschiedete sie sich, nicht ohne gegenseitig die Adressen auszutauschen.

Sowas Blödes. Jetzt habe ich mich schweren Herzens losgerissen und weiss gar nicht, wohin mit mir. Na ja, steuern wir einfach mal eine andere Ecke an. Juliane bahnte sich einen Weg durch die Gästeschar, wich nahe der Tanzfläche einem schleuderndem Arm aus und drang schließlich in eine ruhigere Zone vor.

Dort sah sie endlich einen Bekannten. Schnöselig wie eh und je, hochgewachsen, braungebrannt, von hübschen Mädchen umringt, lächelte er Juliane einladend zu: Theo.

Vollautomatisch

Künstliche Intelligenz
von Günter Görz, Bernhard Nebel

Die Virenjägerin
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Vollautomatisch
Vollautomatisch

208 Seiten
ISBN 3-938764-01-5

Preis: 14.80 Euro

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