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Vollautomatisch

Kapitel 29


  
Diesmal wurde Juliane für die Nacht ein richtiges Gästezimmer zugewiesen. Es war zwar klein und spartanisch möbliert aber dennoch der erste Privatraum, der Juliane seit ihrem Auszug aus der eigenen Wohnung zur Verfügung stand. Sogar ein Duschbad gab es zu dem Zimmer. Juliane duschte ausgiebig und steckte ihre Kleidung in den Waschautomaten. Sie genoss es unendlich, sauber gewaschen im frisch bezogenen Bett zu liegen.

Eigentlich ist es hier gar nicht so schlecht. Das Leben hier hat offensichtlich einige Vorteile. Aber diese ganze Esoterik finde ich jetzt schon unerträglich. Ich fürchte, das ist nichts für mich. Mal sehen, wie mir morgen früh diese Pflichtveranstaltung gefällt. Mich grausts ja schon, aber vielleicht wird es weniger schlimm als befürchtet.

Am frühen Morgen wurde Juliane durch glockenartiges Klingeln geweckt, das von einem Lautsprecher in ihrem Zimmer ausging. Juliane duschte zügig und schlüpfte dann in die dunkelblaue Kutte, die extra für die Veranstaltung bereit lag. Weil ihr noch ein paar Minuten Zeit blieben, holte sie ihre Kleidung aus dem Waschautomaten und steckte stattdessen ihren Schlafsack hinein, denn seit der Nacht in dem anderen Dorf traute sie ihm nicht mehr so recht.

Dann war Zeit für die Lektura, wie die morgendliche Pflichtveranstaltung genannt wurde. Juliane reihte sich in die Schlange der Gläubigen ein. In langsamen Trippelschritten bewegte sich die Schlange auf den Eingang zu. In der Halle angekommen musste man bis ganz nach vorne tippeln, sich dort mit den Händen in Bethaltung vor einer Buddhastatue verbeugen, dann erst durfte man sich einen Platz suchen. Die ersten Reihen waren schon besetzt von lauter Silbergesichtern, die sehr feierlich im Lotussitz auf dem Boden saßen.

Juliane suchte sich einen Platz ganz am Ende der Halle, um möglichst wenig aufzufallen. Doch das stellte sich als Fehler heraus, denn auch als alle Platz genommen hatten, war die Halle nur halb gefüllt. Also rutschte Juliane auf ihrem dünnen Sitzkissen vorsichtig nach vorne zur hintersten Reihe der Anderen. Ein paar der Bewohner drehten sich neugierig um und manche warfen ihr vorwurfsvolle Blicke zu.

Sphärenklänge begannen den Raum zu füllen. Taliga hatte Juliane am Vortag erklärt, dass sie während der Lektura einfach nur stillsitzen müsse. Genau das versuchte Juliane. Am Anfang ging das auch, aber schon nach wenigen Minuten schmerzte ihr Knie, das an Sitzen im Schneidersitz nicht gewöhnt war. Wie die anderen das nur aushalten, solange perfekt im Lotussitz zu sitzen? Mir tut ja sogar das Bein weh, das gesund ist und das andere schmerzt höllisch. Dabei sitze ich ja nur im Schneidersitz. Wie soll ich das nur aushalten?

Einige Minuten später konnte Juliane es nicht mehr ertragen und streckte ihr verletztes Bein. Kurz darauf fing ihre Nase an, wie wild zu jucken. Sie bewegte die Nase hin und her, in der Hoffnung, dass dies den Juckreiz mindern würde. Doch es wurde eher noch schlimmer. Auch ihr Rücken begann zu jucken. Ganz langsam bewegte Juliane ihre Hand zur Nase und kratzte sich. Aber auch das half nicht.

Inzwischen spürten schon einige der Dorfbewohner Julianes Unruhe, obwohl sich Juliane soviel Mühe gegeben hatte, sich unauffällig zu bewegen. Die Anderen drehten sich zu Juliane um und warfen ihr Mörderblicke zu. Juliane hielt die Luft an und sandte ein Stoßgebet gen Himmel. Für ein paar Minuten konnte sie daraufhin still halten, doch dann fing das Jucken wieder an und das noch gekrümmte Bein fing an zu zittern.

Weil das Zittern nicht aufhörte, musste Juliane nach einer Weile auch dieses Bein ausstrecken. Schließlich saß sie da, wie ein Kleinkind beim Spielen, von meditativer Haltung keine Spur. Die feierliche Musik rauschte ungehört an Juliane vorbei.

Nach unendlich scheinender Zeit wechselte eine der Bewohnerinnen aus der ersten Reihe ihren Platz und setzte sich neben die Buddhastatue. Mit salbungsvoller Stimme laß sie einen religiösen Text vor. Juliane fand nicht heraus, aus welcher Quelle dieser Text stammte, aber sie war erleichtert, dass sie sich auf etwas konzentrieren konnte. Die Aussage des Textes fand sie durchaus interessant. Es ging um Bewusstsein und Klarheit.

Doch der Text war langatmig und Julianes Hüften begann zu schmerzen, denn sie war das Sitzen in der Kleinkind-Spielhaltung nicht gewöhnt. Verstohlen beobachtete sie mit halb gesenkten Augenlidern ihre Sitznachbarn. Auch einige der Anderen zuckten mit ihren Nasen, kratzten sich heimlich und guckten in der Gegend rum. Aber die meisten saßen stocksteif da und rührten sich nicht. Bestimmt haben die lange geübt, um so still sitzen zu können. Mit meinem Knie habe ich keinerlei Chancen das je zu lernen.

Geraume Zeit später hörte die Lesung auf und die Musik begann aufs Neue. Wann diese Tortur wohl endlich fertig ist? Es scheint schon Stunden zu dauern. Irgendwann muss diese Rumhockerei doch mal ein Ende haben.

Die Musik zog sich jedoch hin, so lang, das Juliane wieder die Stellung ihrer Beine ändern musste, um das Sitzen auszuhalten. Endlich, als Juliane schon kurz davor war, aus dem Saal zu flüchten, endete die Musik und die Meditierenden erhoben sich. Mit gemessener Feierlichkeit verließen sie die Halle, doch kaum waren sie draußen, begannen sie zu plappern wie eine Schulklasse in der großen Pause.

Im Speisesaal staunte Juliane, in welcher Geschwindigkeit die Dorfbewohner ihr Frühstück verschlangen. Von Heiligkeit war kaum noch etwas zu spüren. Die meisten nahmen sich mehrmals nach, so dass sie auf Nahrungsmengen kamen, die Juliane für einen ganzen Tag gereicht hätten. Anscheinend macht das feierliche Rumgehocke enorm hungrig. Ich habe zwar auch schon eine doppelte Portion gegessen, aber schließlich bin ich auch tagelang mit dem Fahrrad gefahren und hatte zu wenig Proviant dabei. Ob die Dorfbewohner wohl viel auf den Feldern arbeiten? Am besten melde ich mich bei Taliga in der Küche, um dort zu helfen, denn mit Taliga kann man wenigstens einigermaßen reden. Die meisten der anderen sind mir irgendwie unheimlich. Am liebsten würde ich ja gleich wieder abhauen, aber ich sollte es mir wohl noch ein Weilchen anschauen. Immerhin gibt es hier gutes Essen und Sauberkeit.

Taliga schien sehr zufrieden über Julianes freiwillige Mithilfe in der Küche.

"Das ist ja nett, dass du helfen kommst. Eigentlich würden wir hier ja gar nicht gebraucht, weil die Maschinen das Kochen auch komplett übernehmen könnten, aber ich mache gerne etwas Vernünftiges. Dennoch ist es in der Küche oft ziemlich einsam, weil ich die Einzige bin, die gerne kocht."

"Was machen denn die anderen den lieben, langen Tag?"

"Die widmen sich ihrer Spiritualität. Manche pendeln fast den ganzen Tag, andere lesen viel philosophische Texte und auch Spazierengehen ist beliebt."

"Und wie verdient ihr euren Lebensunterhalt?"

"Das erledigen hauptsächlich unsere Landwirtschaftsmaschinen. Fast die Hälfte der Ernte wird zwar von Räubern geklaut, aber der Rest reicht uns locker. Unsere Rinder sind auch gut bewacht und geben reichlich Milch, die maschinell zu verschiedenen Käsesorten verarbeitet wird."

"Und das alles ohne Menschen?"

"Ja, so läuft das heutzutage. Manchmal besuche ich die Kühe, damit sie auch mal einen Menschen zu Gesicht bekommen, aber wirklich nötig ist das nicht. Wir sind ja schließlich hier, um uns unserer spirituellen Entwicklung zu widmen und nicht, um Landwirtschaft zu betreiben."

"Das leuchtet ein. Da machst du mit der Küchenarbeit aber eine große Ausnahme, oder?"

"Ich bin nicht die Einzige, die gerne Arbeitsmeditation betreibt. Einige pflegen die Blumenbeete, andere malen Schilder für die Häuser und wieder andere töpfern. Einer putzt sogar regelmäßig Toiletten, quasi als Buße für seine Unbewusstheit, wie er nicht müde wird zu betonen."

"Ich fürchte, ich bin für dieses spirituelle Leben nicht geschaffen. Bei der Lektura sind mir fast die Beine abgefallen."

"Das ist ganz normal am Anfang. Mir ist aber aufgefallen, dass du beim Gehen hinkst. Das dürfte deine Probleme noch verstärken."

"Ja, ich habe einen Dauerschaden am Knie. Damit kann ich kaum im Schneidersitz sitzen. Vom Lotussitz ganz zu schweigen."

"Mit einer Beinbehinderung wäre es auch in Ordnung, wenn du bei der Lektura auf einem Stuhl sitzt."

"Das wäre mir wohl zu auffällig. Ich fühle mich sowieso schon wie ein bunter Hund."

"Zugegeben, wir sind hier ein sehr eingespieltes Grüppchen. Jemand Neues würde uns aber gut tun, denn in den letzten Jahren sind mehr von uns gestorben als neu dazu gekommen sind. Die halbleere Halle hast du ja gesehen."

"Aber hier gibt es doch gar keine wirklich Alten."

"Unsere Leute sterben teilweise schon mittelalt. Krebs, Herzinfarkt und solche Sachen."

"Heutzutage muss aber doch niemand mehr an Krebs sterben. Außer man ist bitterarm, aber das scheint ihr hier ja nicht zu sein."

"Arm sind wir mitnichten. Aber die kalte Schulmedizin will hier keiner an sich ranlassen. Wir schwören auf Alternativmedizin."

"Und der Preis dafür ist ein früher Tod?"

"Nicht immer, gewiss nicht. Aber in manchen Fällen. Lieber früh gestorben als künstlich am Leben rumgepfuscht."

"Ich glaube, das wäre nichts für mich. Zwar bin ich bitterarm und könnte mir zur Zeit gar keine Medizin leisten, aber freiwillig würde ich nicht darauf verzichten."

"Auch den Tod muss man umarmen. Er ist eine Pforte in ein neues Leben, darum wäre es sündhaft, sich ihm entgegen zu stellen."

"Oh je, ich glaube, dieses Leben ist nichts für mich, auch wenn es einige Annehmlichkeiten hat."

"Schade, mir gefällt es, mit dir zu reden. Du hast so eine Frische, die ich hier sonst oft vermisse. Aber wahrscheinlich hast du Recht. Bestimmt brauchst du Proviant für deine Reise."

"Proviant wäre wirklich prima, denn meiner ist so gut wie alle."

"Gut, dann packe ich dir was ein, was ein paar Tage reichen sollte. Ich wünsche dir, dass du bald ein Zuhause findest, wo du dich zugehörig fühlst."

"Das hoffe ich auch."

Taliga packte ganze Berge von Nahrungsmitteln zusammen. Brot, Schinken, Nussmus aber auch Fertigsuppen wanderten in einen Stoffbeutel.

"Das ist ja überaus großzügig, was du mir da alles einpackst. Das kann ich ja kaum annehmen."

"Wir haben reichlich Nahrung und du hast mir wunderbare Gespräche gegönnt, die etwas Leben in meinen eintönigen Alltag gebracht haben. Ich würde mich übrigens freuen, wenn du mir schreibst, sobald du ein Zuhause gefunden hast, denn ich bin furchtbar neugierig. Über unser Netzangebot kannst du mich erreichen."

"Gerne schreibe ich dir, wenn es mal soweit ist."

Schon kurze Zeit später war Juliane reisefertig. Sie fühlte sich ausgeruht und gut ausgestattet. Bis zum Spätnachmittag hatte sie schon ein gutes Stück Weg zurückgelegt. In einer lauschigen Lichtung machte sie Halt und aktivierte mal wieder ihren Minicomputer. Auf ein Schwätzchen mit dem Dorfmagier verzichtete sie auch diesmal, denn ihre Stromladung reichte nur für eine kurze Recherche.

Beim Suchen im großen Buch fand sie eine Dorfkommune, wo die Bewohner auf alle Maschinen verzichteten und selbst arbeiteten. Von Spiritualität war nichts zu lesen und auch nicht von extremen Freiheitsgelüsten.

Ob das wohl was für mich ist? Vielleicht sind es wirklich die Maschinen, die die ganzen Probleme mit sich bringen. In dem einen Dorf haben sie die Leute faul gemacht und im anderen so abgehoben, dass man kaum noch was mit ihnen anfangen konnte. Ordentliche Handarbeit macht die Menschen bestimmt bodenständig. Da werde ich hinfahren.

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Vollautomatisch
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208 Seiten
ISBN 3-938764-01-5

Preis: 14.80 Euro

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