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Vollautomatisch

Kapitel 16


  
Schaudernd stand Juliane vor dem Eingang des Schwarmhauses. Die Fassade des Hauses glitzerte in der Januarsonne, so dass das Gebäude der Bezeichnung "Glitzerhaus", wie Juliane diese Häuser gerne nannte, alle Ehre machte.

Soll ich da jetzt wirklich reingehen? Ob ich da je wieder rauskomme? Vielleicht sollte ich doch lieber unter der Brücke leben. Oder am liebsten gar nicht mehr. Wozu lohnt es sich überhaupt weiter zu leben? Das ist doch kein Leben, wenn man so gar nicht gebraucht wird. Oh, Mist, jetzt schießen mir auch noch die Tränen in die Augen, wie peinlich.

Mit aller Kraft kniff Juliane die Augen zu, um die Tränen wegzudrücken. Da das nicht ausreichte, stellte sie eine ihrer Reisetaschen ab und wischte sich energisch mit der freigewordenen Hand über die Augen. Dann atmete sie ein paar Mal tief durch und konzentrierte sich dabei darauf, tapfer zu sein. Es funktionierte und die Augen blieben trocken.

"Willkommen Juliane! Wie schön, dass du bei uns leben wirst", begrüßte sie die Haustür, sobald sich Juliane ihr auf zwei Meter näherte.

"Danke, danke, freut mich auch!" murmelte Juliane bitter.

Eigentlich ist es ja ganz nett, so begrüßt zu werden und die Haustür kann schließlich nichts dafür, dass ich keinen Job gefunden habe. Reiß dich zusammen, Mädel!

"Bitte melde dich gleich im ersten Zimmer rechts für die Aufnahmeformalitäten", sagte die Haustür nachdem sie sich geöffnet hatte.

"Ja, werde ich machen."

Nach kurzem Zögern betrat Juliane entschlossen das Gebäude, zuckte jedoch zusammen, als sich die Tür hinter ihr wieder schloss. Gefangen!

Der Eingang zum ersten Zimmer rechts glitt auf wie von Geisterhand und Juliane fügte sich ins Unvermeidliche.

"Willkommen Juliane. Wie schön, dich hier zu haben", säuselte das Zimmer, ohne dass erkennbar war, woher die Stimme kam. "Nimm bitte Platz auf dem Sessel!"

Juliane stellte ihr Taschen auf den Boden und setzte sich auf den angebotenen Sessel.

"Du bist zum ersten Mal in einer Schwarmsiedlung?" fragte die Stimme.

"Ja, bisher hatte ich mich noch in der echten Welt durchgeschlagen."

"Ok, dann müssen wir dir ein neues ID-Implantat setzen. Keine Sorge, das tut kaum weh und geht ruckzuck."

Eine Klappe in der Wand öffnete sich und ein Roboter rollte auf Juliane zu.

"Bitte krempel deinen Ärmel hoch."

Juliane tat wie geheißen und spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Tapfer bleiben, Mädel. Der kleine Pieks machts jetzt auch nicht mehr schlimmer.

Ein kurzer, kalter Hauch betäubte Julianes Unterarm, dort wo die alte Narbe sie immer wieder gepiesackt hatte. Den Stich spürte sie kaum, doch es ruckte etwas, als ihr altes Implantat entfernt wurde. Das Gefühl, als das neue, größere Implantant zwischen ihre Knochen geschoben wurde, fand sie äußerst unangenehm, aber sie vermutete, dass das vor allem an ihrem Widerwillen gegen das Ding lag.

Jetzt kann jeder RFID-Scanner dieser Welt feststellen, dass ich eine Versagerin bin. Na ja, wenigstens bin ich nicht die Einzige, der es so geht.

"So, das war es schon. Jetzt kannst du es dir in deinem Zimmer gemütlich machen. Zimmer 311 im dritten Stock. Morgen um halb neun ist Weckzeit und anschließend Frühsport. Bis dahin kannst du deine Zeit frei gestalten und deine Mitbewohner kennenlernen. Mittagessen gibt es um eins in der Kantine und Abendessen um sieben."

"Danke!"

Juliane sah noch, wie der Roboter in seiner Wandnische verschwand und erhob sich dann vom Sessel. Sie ergriff die Taschen mit ihren Habseligkeiten und machte sich auf den Weg in den dritten Stock. Beim Ersteigen der Treppe dachte sie an ihren Besuch bei Susanne und wie diese ihr erklärt hatte, dass die Treppe dazu diente, die Bewohner arbeitsfähig zu halten. Mit den schweren Taschen wäre Juliane jetzt aber ein Aufzug lieber gewesen, wie er in den Faulenzer-Schwärmen zur Verfügung stand.

Als sie im dritten Stock ankam, wäre sie am liebsten wieder umgekehrt, aber sie war jetzt schon so weit in die Höhle des Löwen vorgedrungen, dass es für eine Umkehr wohl zu spät war.

Wer und was mich wohl hinter dieser Tür erwartet? Welche der beiden Türen ist es überhaupt?

Sie musste nicht lange rätseln, denn die linke Tür öffnete sich von selbst und begrüßte sie ähnlich wie die Haustür.

Klingt irgendwie ähnlich wie ich, oder doch eher wie Martina? Das ist ja echt gemein, dass mir hier meine ehemalige Arbeit entgegenschwallt. Reicht es denn nicht, dass ich hier gestrandet bin? Müssen sie mich auch noch so verhöhnen? Aber bestimmt wissen sie es gar nicht, dass ich diese Stimme teilweise aufgezeichnet habe. Oh, wenn ich doch nur ganz weit weg wäre.

Juliane überschritt die Schwelle und kam in einen Gang, der genauso aussah wie der Gang in Susannes ehemaligem Schwarmhaus, nur spiegelverkehrt. Sie spähte vorsichtig in den Gemeinschaftsraum, doch niemand der dort sitzenden schien ihre Ankunft bemerkt zu haben. Deshalb ging sie leise und möglichst unauffällig bis zum Zimmer mit der Aufschrift 311.

Sie klopfte.

Ob da überhaupt schon jemand anders lebt? Na ja, das werde ich wohl gleich wissen.

Ein grummeliges Geräusch, dass ungefähr wie ein "Herein" klang, drang durch die Tür. Klopfenden Herzens öffnete Juliane die Tür zu ihrem neuen Zuhause und warf einen Blick hinein.

"Bist du die Neue? Ja, sieht so aus. Komm nur rein, ich bin die Tina."

"Ja, stimmt, ich bin die Neue und heiße Juliane. Hallo!"

"Willkommen! Aber das haben dir bestimmt schon die Türen bis zum Erbrechen gesagt."

"Stimmt, die Türen haben nicht mit Willkommen-Grüßen gespart."

"Hm, drollig, wenn ich nicht wüsste, dass du ein Mensch bist, könnte man meinen, du wärst unsere Stockwerkstür - zumindest klingst du irgendwie ähnlich."

"Das kann sogar sein, denn mein letzter regulärer Job war Stimmmuster-Aufzeichnung. Ich bin auch schon über den Klang der Tür gestolpert. Aber der ist vermischt mit meinen Exkolleginnen. Und weil das jetzt als synthetisch zusammengestellt gilt, sind unsere Tantiemen ausgeblieben. Darum bin ich hier gelandet."

"Tröste dich, da bist du in guter Gesellschaft. Ich habe mich bis vor zwei Monaten als Arzthelferin durchgekämpft. Aber dann starb meine Ärztin und ich habe nichts Neues mehr gefunden. Wer braucht heutzutage denn noch Arzthelferinnen?"

"Wer braucht heute überhaupt noch irgendjemanden? Na ja, machen wir das Beste draus. Ich nehme an, mir gehört die linke Hälfte des Raumes?"

"Stimmt genau. Oh, sorry, ich räume meine Bücher gleich von deinem Bett."

"Macht nix, ich will ja noch nicht schlafen. Mein Zeug räume ich wohl am besten in den Schrank. Und muss man dann was bestimmtes tun, wenn man hier frisch einzieht?"

"Krempel einräumen ist schon mal gut. Und dann kannst du deinen Computer in Besitz nehmen und dir die Zeit bis zum Essen vertreiben. Das Essen ist hier übrigens überraschend gut. Das liegt angeblich an Mutter Hedwig, die arbeitet in der Hausküche und kann das wirklich gut. Aber leider habe ich sie bisher noch nicht kennengelernt, denn sie wohnt im zweiten Stock."

"Leckeres Essen klingt sehr erfreulich. Da kann man sich ein wenig über den Frust hinwegtrösten. Wie gut, dass wir Sport machen müssen, sonst würden wir bestimmt zunehmen, wenn Essen der einzige Trost im Leben ist."

"Stimmt, bei Mutter Hedwigs Kost könnte man ohne Sport schnell kugelrund werden."

Während Juliane ihren Schrank mit den wenigen Habseligkeiten füllte, die sie in ihr neues Leben mitgebracht hatte, widmete sich Tina wieder ihrem Bildschirm.

Wenn ich an all die vielen Dinge denke, von denen ich mich verabschieden musste. Wie gut, dass eine Entrümplungsfirma das Entsorgen meiner "Reichtümer" übernommen hat. Sonst hätte ich wohl bei jedem Einzelteil einen Heulkrampf bekommen. Der eine Typ von der Entrümplungsfirma wirkte eigentlich ganz nett bei der Vorbesprechung. Und vielleicht springt beim Verkauf ja auch noch ein bisschen Geld raus, so dass ich hier nicht völlig mittellos bin. Wenigstens konnte ich die Persönlichkeit meines Computers mitnehmen. An den habe ich mich wirklich schon gewöhnt. Vielleicht sollte ich einfach ne Runde World 3000 spielen. Meine Mitkrieger warten bestimmt schon auf mich.

Sie schob den mitgebrachten Datenträger in den bereitstehenden Computer und übertrug ihre persönlichen Daten in das neue Gerät. Nach kurzer Zeit meldete sich ihr vertrauter Computer-Avatar mit den üblichen Sprüchen. Sofort fühlte sich Juliane deutlich heimischer. Auch die Mittelalterwelt half, das neue Leben im Schwarm für eine Weile zu vergessen.

Ein Klingeln schreckte sie auf.

"Mittagessen!", rief Tina und strebte zur Tür.

Juliane setzte ihr Headset ab und folgte Tina zur Kantine.

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208 Seiten
ISBN 3-938764-01-5

Preis: 14.80 Euro

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