Home
Romane
Vita
Projekte
News
Impressum

Vollautomatisch

Kapitel 20


  
Da drüben steht ja Thomas. Wie kommt der denn hier her? Mist, er sieht nicht, wie ich winke. Und jetzt dreht er sich auch noch weg und geht weiter. Wie kann ich ihn denn bloß auf mich aufmerksam machen? Er sieht mich immer noch nicht winken. Am besten ich laufe durch den Fluss, dann sieht er mich bestimmt. Und außerdem bin ich dann ja auf seiner Seite.

Puh, ist das Wasser kalt. Wie schnell es um die Knöchel strömt. Und ich komme kaum vorwärs. Jetzt geht mir das Wasser schon bis über die Knie. Oh je, und jetzt über die Hüfte. Es wird ja immer tiefer. So tief habe ich mir das aber nicht vorgestellt. Kein Stück weiter bin ich gekommen. Hilfe, jetzt reicht es schon über den Hals. Ich kann mich nicht mehr halten. Wie gut, dass ich schwimmen kann. Aber die Strömung reißt mich weg. Und Thomas sieht mich immer noch nicht. Er geht ja auch in die andere Richtung, da kann er mich ja gar nicht sehen.

"Hilfe, Thomas! Ich will zu dir. Hilfe! Ich treibe ab"

Er hört mich nicht. Das Wasser rauscht ja auch viel zu laut. Jetzt schlägt es über mir zusammen. Ich kann nicht mehr schwimmen. Hilfe, ich ertrinke.


Mit einem Ruck schreckte Juliane aus dem Schlaf. Sie war schweißgebadet. Das Rauschen der Toilettenspülung drang an ihre Ohren. Tina war anscheinend schon aufgestanden.

Was war denn das? So ein absurder Traum! Und was sollte Thomas bei der Sache? Das ist ja richtig peinlich. Wie gut, dass niemand Träume mitschauen kann.

Kopfschüttelnd verließ Juliane ihr durchschwitztes Bett und bereitete sich auf den Frühsport vor.

Der Traum ging ihr nicht aus dem Kopf, weder beim Sport, noch beim Frühstück und auch nicht bei der Arbeit in der Küche.

Ob der Traum wohl eine Bedeutung hatte? Warum bloß mit Thomas in der Hauptrolle? Dabei habe ich ihn doch schon seit Monaten nicht gesehen, und man kann auch nicht behaupten, dass wir je enge Freunde gewesen sind. Was solls? Konzentriere ich mich lieber auf meine Arbeit, damit die Zwiebelstückchen schön gleichmäßig werden.

"Juliane, bitte schneide das Gemüse heute sehr viel dünner als normalerweise."

"Ja gerne, Hedwig, aber warum denn das?"

"Heute ist es windstill und bedeckt. Da reicht der Strom nicht für das übliche Kochen. Bisher haben wir an solchen Tagen Strom von außerhalb bekommen, aber das wurde gestrichen. Jetzt muß das Essen schneller gar werden und darum sollte das Gemüse dünner sein als sonst."

"Ok, mache ich. Das klingt aber merkwürdig mit der Strombeschränkung."

"Finde ich auch. Ich habe den Eindruck, dass der Staatsmacht unser fleißiges Kochen nicht so behagt."

"Aber warum denn?"

"Wenn ich das nur wüsste. Ich habe ja nicht mal Beweise dafür, dass es überhaupt so ist, geschweige denn Informationen über die Gründe. Es ist mehr so ein Bauchgefühl."

"Ob es sie stört, dass wir ohne Drogen kochen?"

"Mag sein, in diese Richtung hatte ich auch schon gedacht. Wahrscheinlich ist ihnen auch der Aufwand zu groß. Das industriell hergestellte Essen ist wohl viel billiger als unser selbstgekochtes."

"Aber wir kochen doch hier schon große Mengen und verwenden keinerlei Luxusprodukte."

"Stimmt. Aber das ist wohl immer noch teuer als der Kunstkram. Oft genug schaffe ich es kaum, genügend Gemüse zu bekommen."

"Wo kommt das Gemüse überhaupt her?"

"Gewisse Grundmengen erhalten wir vom Staat, aber das wird immer weniger. Einen Teil kaufe ich von meinem Bürgergeld, vor allem alles Exotische."

"Was? Du kaufst die Kochzutaten von deinem schwer verdienten Taschengeld? Ich fasse es nicht. Natürlich wäre ich bereit, auch etwas beizusteuern, aber das ist doch eine Frechheit, wenn du das selbst zahlen musst."

"Ja, finde ich auch. Aber ich kann ja wohl kaum erwarten, dass der Staat uns mit allem großzügig versorgt, nur damit wir es leckerer haben. Er finanziert ja schon die ganze Fertignahrung und unsere Unterkünfte."

"Schon, aber wir verbraten ja keinen Kaviar oder Hummer, sondern preisgünstiges Gemüse der Saison."

"Klar, aber wie schon gesagt, das ist immer noch teurer als die Fabriknahrung."

"Wahrscheinlich wollen sie auch, dass wir uns komplett mit Stillhalte-Drogen vollstopfen."

"So ähnlich. Manchmal befürchte ich, dass es ihnen am liebsten wäre, wenn wir alle in Faulenzerschwärmen leben würden. Die sind wengistens pflegeleicht."

"Wie grässlich! Da wird man doch krank vor lauter Untätigkeit."

"Genau! Und bei schlechter Versorgung stirbt man dann auch viel schneller und dann sind sie wieder einen unnützen Esser los."

"Meinst du ehrlich?"

"Ja klar. Wozu sind wir für den Staat denn nütze? Zu gar nix. Die Stadt hätte es viel leichter, wenn sie uns alle los wäre."

"Das gefällt mir aber gar nicht."

"Mir auch nicht. Machen wir halt das Beste draus. Woanders verhungern Menschen ohne Arbeit. Das droht uns hier immerhin nicht."

Juliane schnippelte das Eintopfgemüse so fein sie konnte, aber ihr war nicht wohl bei der Sache. Wie lange ich hier wohl noch kochen darf? Alles was Freude macht, geht kaputt. Diese Welt ist wirklich nicht freundlich zu den Menschen.

Nachmittags zog es Juliane nach draußen. Der Traum arbeitete noch in ihr und sie hatte das Gefühl, dass es ihr leichter fallen würde, ihn zu verarbeiten, wenn sie zum Fluss gehen würde.

Eigentlich ist das Wetter ja gar nicht verlockend. So lichtlos und feucht. Aber dann sind auch bestimmt weniger Leute unterwegs und ich bin ungestörter.

Diesmal wollte Juliane alles richtig machen und beantragte den Spaziergang schon in ihrem Zimmer beim Computer.

"Warum willst du denn schon wieder Ausgang haben?", fragte ihr Computer mit der Stimme der Türen, die so sehr nach ihr selbst klangen.

"Mir ist eben danach. Ich brauche einfach frische Luft und schließlich habe ich nachmittags Zeit."

"Deine Nachmittage solltest du bevorzugt in deinem Zimmer verbringen oder auch im Gemeinschaftsraum, wenn du Gesellschaft haben willst."

"Ich will aber raus und am Fluss spazierengehen."

"Ich könnte dir eine Flusslandschaft auf den Bildschirm projizieren."

"Nein, ich will zum echten Fluss. Was spricht denn dagegen?"

"Also gut, wenn du unbedingt willst. Aber nur eine halbe Stunde!"

"Das ist aber kurz. Na gut, immerhin besser als gar kein Spaziergang."

Der spinnt wohl der Computer. Warum soll ich denn nicht spazierengehen? Das ist doch wirklich ein harmloses Vergnügen.

Missmutig verließ Juliane das Schwarmhaus. Draußen nieselte es. Juliane schlug ihren Kragen hoch und zog fröstelnd die Schultern zusammen. Nach ein paar hundert Metern wurde ihr jedoch wärmer und sie schritt locker aus.

Ah, trotz allem ist es schön hier draußen. Es hat sich gelohnt, sich gegen den blöden Computer durchzusetzen.

Bald schon erreichte sie den Fluss, der leise gluckernd gen Meer plätscherte. Das Wasser war kaum knöcheltief. An einigen Stellen ragten sogar Steine aus dem Wasser. Außer Juliane war heute niemand am Fluss. Sie konnte in aller Ruhe am Ufer entlang gehen.

Wie friedlich es hier heute ist. Keine Spur von dem reißenden Ungeheuer, das mich heute nacht fast ertränkt hätte. Wie bin ich bloß zu diesem Traum gekommen? Wenn es nicht so kalt wäre, würde es mich glatt reizen, den Fluss zu durchwaten und zu schauen, was auf der anderen Seite ist. Aber die Häuser sehen dort drüben sowieso genauso langweilig aus wie auf dieser Seite. Das Abenteuer würde sich wohl kaum lohnen.

Nachdenklich ging Juliane entlang des Flussufers auf dem geradlinigen Kiesweg, der unter ihren Füßen knirschte. Sie dachte über ihr Schwarmleben nach und fragte sich, ob sie wohl ihr ganzes zukünfitges Leben so eintönig würde leben müssen.

Plötzlich stand sie vor einem Zaun, der das Weitergehen verhinderte. In drei Meter Höhe war der Zaun mit mehreren Reihen Stacheldraht gesichert.

Was soll denn das nun wieder? Bin ich etwa doch im Gefängnis gelandet, ohne dass es mir bewusst geworden ist? Dabei bin ich doch freiwillig hier her gekommen, wenn auch nicht gerne. Na gut, ich sollte sowieso umkehren, denn der Computer wartet bestimmt schon auf mich.

Als sie sich umdrehte und den Weg zurück zu ihrem Schwarmhaus entlang blickte, wurde ihr erst klar, wie weit sie gegangen war. Sie beschleunigte ihre Schritte, denn sie befürchtete, dass die genehmigte halbe Stunde längst um war.

Ach, das hat der Computer bestimmt nicht so ernst gemeint, mit der halben Stunde. Es stört ja schließlich nicht, wenn ich ein bisschen länger durch den Regen spaziere. Und mir tut es gut, in der frischen Luft zu sein.

Die letzten Meter rannte sie jedoch, ihr wurde nämlich mulmig zumute. Als sie sich der Haustür auf drei Meter näherte, öffnete sich diese schon, als hätte sie ungeduldig auf Juliane gewartet. In der Stimme vermeinte Juliane eine neue Schärfe durch zu hören.

"Juliane, du bist zu spät! Du warst über eine Stunde weg. Du hast jetzt eine Woche lang Ausgangssperre! Geh sofort in dein Zimmer!"

Vollautomatisch

111 Tipps für Arbeitslose. Arbeitslosengeld I
von Rolf Winkel, Hans Nakielski

Die Virenjägerin
< <   > >

1  2  3  4  5  6  7  8  9  10  11  12  13  14  15  16  17  18  19  20  21  22  23  24  25  26  27  28  29  30  31  32  33 

Vollautomatisch
Vollautomatisch

208 Seiten
ISBN 3-938764-01-5

Preis: 14.80 Euro

Bestellen...