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Vollautomatisch

Kapitel 22


  
"Die Woche ist rum. Jetzt will ich wieder spazierengehen, Computer."

"Das ist korrekt. Deine Ausgangssperre ist aufgehoben. Du darfst zehn Minuten lang spazierengehen."

"Zehn Minuten? Du spinnst wohl! In der Zeit komme ich ja nicht mal bis zum Fluss."

"Keiner zwingt dich, zum Fluss zu gehen. Du musst Disziplin lernen. Hier im Schwarm ist es wichtig, die Regeln einzuhalten. Nur so ist ein reibungsloses Zusammenleben möglich."

"Zehn Minuten! Ich fasse es nicht. Na gut. Dann gehe ich jetzt raus."

"Viel Vergnügen, Juliane."

Deine Freundlichkeit kannst du dir sonstwohin schieben.

Juliane zog ihre Jacke an und verließ das Schwarmhaus. Wenn ich renne, schaffe ich es wohl gerade zum Fluss und wieder zurück in diesen zehn Minuten. Also los!

Keuchend erreichte Juliane den Fluss. Immerhin kann ich mich beim Rennen etwas austoben. Wie gut es das Wasser des Flusses hat. Völlig ungehindert kann es Richtung Meer fließen. Ich sollte jetzt aber wieder zurückrennen, um keine neue Ausgangssperre zu erhalten.

"Juliane, du bist gerannt. Das ist unzulässig!"

"Was? Ich darf nicht mal rennen?"

"Rennen ist potentiell gefährlich und es bringt Unruhe in das Schwarmleben. In Zukunft bitte nur noch gemäßigt gehen!"

Darauf sag ich jetzt besser nichts mehr. Sonst bekomme ich nur eine Ausgangssperre wegen Aufsässigkeit.

Wie gelähmt schlich Juliane die Treppen hoch bis zu ihrem Zimmer. Nicht mal bei den Strickerinnen schaute sie vorbei, denn sie wollte die beiden nicht mit ihrer schlechten Laune anstecken. Die Lebendigkeit, die Juliane beim Rennen verspürt hatte, war wie weggeblasen. Sie war froh, dass Tina in ihre eigene Welt vertieft war und gar nicht wahrnahm, dass Juliane wieder zurückgekommen war.

Zur Ablenkung setzte Juliane ihr Headset auf und betrat die Mittelalterwelt. Doch diesmal klappte es nicht mit dem Eintauchen in die Spielwelt. Dumpf starrte Juliane in die künstliche Landschaft, ohne irgendetwas wahrzunehmen. So vergingen Stunden.

"Juliane, he Juliane, was ist denn mit dir los? Seit Stunden rührst du dich nicht mehr. Es gibt Abendessen."

"Hä? Was? Abendessen? Danke dir Tina, aber ich habe keinen Appetit."

"Nix da, du kommst jetzt mit in die Kantine. Reicht ja, wenn du ein Glas Wasser trinkst. Hauptsache du hörst auf, so unheimlich in die Luft zu gucken."

Tina zerrte so lange an Julianes Arm, bis sich diese von ihrem Stuhl erhob und widerwillig mit kam.

"Was ist denn eigentlich los mit dir?", fragte Tina, als sie an einem Esstisch Platz genommen hatten.

"Ach, ich fühle mich so eingesperrt."

"Stimmt schon, sie halten einen am liebsten brav im Zimmer. Mach halt das Beste draus. Ich habe heute ein wunderbares Gedicht geschrieben. Meine Gedichte will zwar niemand lesen, aber es macht Spaß, sie zu schreiben."

"Juliane, gut dass ich dich treffe. Kommst du nachher noch mal zu uns in den Gemeinschaftsraum. Dein Paar Strümpfe ist fertig und du musst es anprobieren."

Sabine war an den Tisch von Tina und Juliane getreten und strahlte übers ganze Gesicht.

"Oh, die Strümpfe! Ja, ich komme gleich vorbei, wenn ich hier fertig bin", antwortete Juliane und versuchte etwas Freude aufzubringen.

Tina schüttelte den Kopf. "Das ist ja kaum auszuhalten, was für ein trauriger Tropf du heute bist. Nicht mal geheuchelte Freude will dir gelingen. So, ich hol dir jetzt einen Erdbeerpudding und den löffelst du brav aus. Und dann gehst du deine Strümpfe anprobieren."

Juliane tat wie geheißen und schon nach wenigen Minuten sah die Welt nicht mehr ganz so trostlos aus. Echte Lebensfreude kam aber auch nicht auf. Immerhin besser als vorher. Tina ist wirklich ein Schatz. Wie sie in diesem Elend gute Laune behält ist mir ein Rätsel. Ob es an den Gedichten liegt?

Die Strümpfe, die Juliane kurz danach anprobierte, passten wie angegossen. Auch Petra war kurz vor der Vollendung ihres Sockenpaares für Juliane. Sabine hatte sogar schon mit dem nächsten Paar angefangen.

"Weißt du was, Juliane? Morgen kommt bestimmt deine Wolle und dann setzt du dich zu uns zum Strickenlernen. Dann bessert sich deine Laune bestimmt wieder. Jede hat hier ab und zu den großen Frust, aber man kann was dagegen tun."

"Danke Sabine! Du hast wohl recht. Hoffen wir mal, dass die Wolle tatsächlich morgen kommt."

Mit kuschelwarmen Füßen ging Juliane wieder in ihr Zimmer und diesmal konnte sie dem Mittelalterspiel wieder mehr Freude abgewinnen.

In der Gaststube durfte sie ihr erstes selbstgebrautes Bier servieren und wurde von allen Seiten dafür gelobt.

Am nächsten Morgen schlug der Frust gleich nach Betreten der Küche wieder zu. Hedwig betrachtete nachdenklich ein kleines Häufchen Kartoffeln und Zwiebeln.

"Stell dir vor Juliane, das ist alles, was wir heute zum Kochen haben. Das gibt eine traurig dünne Suppe. Und für morgen haben wir noch gar keine Zutaten."

"Oh je, und bestimmt hast du die Kartoffeln hier schon aus der eigenen Tasche bezahlt."

"Ja, habe ich, aber jetzt bin ich restlos pleite. Das Bürgergeld wurde übrigens auch gekürzt."

"Wie gemein! Weisst du was? Für morgen spendiere ich eine Kiste Nudeln für Nudelsuppe. Aber mehr kann ich mir wohl auch nicht leisten."

"Das ist lieb von dir mit den Nudeln. Aber es wird wohl kaum unser Problem lösen."

"Stimmt! Es ist auch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Warum die uns wohl in letzter Zeit das Leben so schwer machen? Das Kochen war bisher das Beste am Schwarmleben."

"Ich frage mich auch, was los ist. Vielleicht geht denen da oben das Geld aus. Jahrelang lief es ja gut mit der Kocherei und ich hatte den Eindruck, dass es ihnen auch ganz lieb ist, wenn wir kreativ beschäftigt sind. Aber das hat sich anscheinend geändert."

"Ob sie uns wirklich am liebsten alle in den Faulenzer-Schwärmen sehen würden?"

"Scheint so. Anders kann ich mir das alles kaum erklären."

"Wahrscheinlich werden wir Arbeitslosen auch immer mehr und die Verdienenden immer weniger. Kein Wunder, wenn dann nicht mehr genug Geld da ist. Wahrscheinlich müssen wir noch froh sein, dass sie uns nicht verhungern lassen."

"Möglich. Ich weiß fast nichts davon, was in der restlichen Welt geschieht."

"Ich bekomme auch nichts mehr mit, seit ich hier lebe. Das ist bestimmt beabsichtigt. Ach was solls? Für Morgen zahle ich die Nudeln und dann sehen wir weiter. Gib mir mal die Zwiebeln rüber. Ich schneide sie auch ganz dünn."

"Hier hast du sie. Du hast wohl Recht. Vom Sorgenmachen wird auch nichts besser. Dabei war ich hier geraume Zeit richtiggehend glücklich, weil ich keine Zukunftssorgen mehr haben musste - dachte ich."

"Selbst ich fing schon an, hier glücklich zu werden. Aber seit meiner Ausgangssperre fühle ich mich zunehmend unwohl. Es scheint mit immer mehr wie ein Gefängnis."

"Stimmt! Lass uns an was anderes denken."

"Gerne!"

Schweigend schnippelten sie das wenige Gemüse. Die Suppe wurde dünn, wie immer in letzter Zeit. Als sie fertig waren, säuberte Juliane das Kochbesteck und räumte es in die Schubladen. Eines der kleinen Küchenmesser betrachtete sie zögernd und steckte es dann in ihre Jackentasche. Wer weiß, vielleicht brauche ich es ja noch.

Später stritt sich Juliane schon wieder mit dem Computer über die Ausgangszeiten. Diesmal boykottierte sie die zehn Minuten, die ihr erlaubt wurden und blieb lieber drinnen. Es schien ihr nämlich unsinnig, zehn Minuten lang im Hof auf und ab zu gehen. Rennen war ihr ja verboten worden.

Die Wollelieferung ließ noch auf sich warten, sodass Juliane nur die Mittelalterwelt blieb, um sich den Nachmittag zu vertreiben.

Ach, es ist ja ganz nett, in der Phantasie Käse und Bier herzustellen, aber wofür soll das gut sein? Tina ist schon wieder ganz in ihrer Poesie versunken; da will ich sie auch nicht rausreißen und ihr den Tag vermiesen. Wenn ich doch bloß auch Freude an Gedichten hätte. Aber dazu kann ich mich beim besten Willen nicht durchringen.

Oh, ich will was Nützliches tun!

"Computer, gibt es irgendeine Möglichkeit, hier was Sinnvolles zu tun?"

"Die Arbeit im Büro habe ich dir schon angeboten, aber die hat dir ja nicht gefallen. Genieß doch deine Freizeit."

"Aber ich lebe doch nicht, um ständig nur nutzloses Freizeitvergnügen zu betreiben."

"Wenn es dir hier nicht passt, kannst du ja in einen der freien Schwärme ziehen."

"Was heisst hier freie Schwärme? Das sind doch Slums von der übelsten Sorte. Mit Mauer drumherum und Bandenkriminalität, sodass man nie sicher sein kann, ob man den nächsten Tag erlebt oder nicht. Nein! Da will ich ganz bestimmt nicht hin! Du hättest mich wohl am liebsten tot?"

"Aber nein, Juliane. Beruhige dich doch!"

"Ich will mich aber nicht beruhigen, sondern etwas Sinnvolles mit meinem Leben anfangen."

"Früher hätten sich die Menschen über soviel Freizeit gefreut. Genieß doch einfach dein Computerspiel."

"Oh, du kannst mich mal! Geh mir aus den Ohren!"

"Wie du wünschst, Juliane."

Zornbebend aktivierte Juliane ihr World 3000 und hackte in der Phantasiewelt Holz, um sich abzureagieren. Es half nicht besonders gut, weil ihr Körper regungslos auf dem Stuhl saß, statt sich auszutoben.

Abends wartete Juliane, bis Tina eingeschlafen war. Dann schlich sie ins Bad und zückte das Küchenmesser.

Soll ich es wirklich tun? Na klar! Das ist doch kein Leben hier im Schwarm. Und Perpektiven gibt es auch keine. Also los!

Nachdenklich betrachtete sie das Messer, um Mut zu sammeln.

Vollautomatisch

Künstliche Intelligenz
von Günter Görz, Bernhard Nebel

Die Virenjägerin
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Vollautomatisch
Vollautomatisch

208 Seiten
ISBN 3-938764-01-5

Preis: 14.80 Euro

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