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Vollautomatisch

Kapitel 4


  
"Die Absätze müssten noch fünf Zentimeter höher sein. Dreh dich mal, Juliane. Ja, so ist schön. Und jetzt etwas weicher in den Hüften wiegen", aus Theos Augen sprach Besitzerstolz.

Schweißgebadet fuhr Juliane aus dem Schlaf. Was für ein schauderhafter Traum.

Wo ich jetzt schonmal wach bin, kann ich mich auch gleich um die Bewerbungen kümmern. Juliane duschte ausgiebig, um sich nicht nur den Schweiß vom Leib zu spülen. Dann setzte sie sich an ihre Bildschirmwand und rief zuerst die neuesten Ablehnungen ab. Die ersten Ablehnungen waren schon eine Stunde nachdem sie ihre Bewerbungen geschrieben hatte eingetrudelt. Alle mit Begründungen wie "die Stelle ist bereits vergeben".

Diesmal kam immerhin ein persönliches Anschreiben, in dem bedauert wurde, dass Juliane aufgrund mangelnder Berufserfahrung nicht in Frage käme. Woher soll die Berufserfahrung denn kommen, wenn ich nie eine Stelle kriege?

"Du hast eine neue Nachricht", ertönte die Stimme ihres Computers.

Juliane nickte. Das Ablehnungsschreiben wurde vom Gesicht ihrer besten Freundin überlagert. Fast hätte Juliane ihre Freundin nicht erkannt, denn sie wirkte alt; alt und ausgewrungen wie ein Putzlappen.

"Hallo Juliane. Ich habe heute Geburtstag und deshalb Ausgang. Den Nachmittag würde ich gerne mit dir verbringen. Ich warte in der Cafeteria auf dich."

Juliane versuchte, die Verbindung aktiv zu schalten, doch ihre Freundin Susanne hatte sich nach dem Absenden der Nachricht wohl sofort ausgeklinkt. Schon wieder Susannes Geburtstag? Dann ist sie jetzt schon über ein Jahr im Schwarm. Scheint ihr nicht so gut zu bekommen. Na ja, das werde ich ja bald genauer in Erfahrung bringen.

Bis zum Nachmittag blieb Juliane noch genügend Zeit, um fruchtlos nach Stellenangeboten zu suchen. Die Firmen, die Jobs anboten, hatte sie längst alle angeschrieben, außer natürlich bei Jobs wie Baggerfahren, von denen sie nichts verstand. Auf den meisten anderen Firmenseiten im Netz stand ausdrücklich, dass Bewerbungen nicht erwünscht seien. Wenn sie denen trotzdem eine Bewerbung schicken würde, riskierte sie eine Strafgebühr. Stundenlang stöberte Juliane durchs Netz, in der Hoffnung, doch einen potentiellen Arbeitgeber zu finden. Aber nichtmal als Küchenhilfe hatte sie eine Chance.

Entnervt gab Juliane auf und stellte sich unter die Dusche. Das warme Wasser rann entspannend über ihren Körper. Sie seifte sich genussvoll ein. Da stehe ich nun in der Blüte meines Lebens. Selbst mein Körper ist noch fast makellos. Und trotzdem bin ich auf dem besten Weg, in die Aufbewahrungsanstalt abgeschoben zu werden. Das ist ja fast wie Altersheim. Irgendwie graust mir schon vor dem Besuch bei Susanne. Ob das auch meine Zukunft ist?

Viel zu schnell wurde das Wasser lauwarm. Juliane stellte den Hahn auf kalt, um sich ordentlich zu erfrischen. Sie keuchte, als die kalten Strahlen sie trafen. Doch jeder einzelne Eistropfen peitschte neues Leben in ihre Zellen und sie fühlte, wie bisher unentdeckte Spannungen abflossen. So, jetzt müsste ich eigentlich bereit sein, um mir das Elend anzuschauen.

Sie schlüpfte in bequeme Klamotten, denn damit würde sie bei den Schwarmbewohnern kaum auffallen. Unterwegs machte Juliane bei einem Kiosk halt, denn sie wollte Susanne ein Geschenk kaufen. Rauchende Schwarmleute freuten sich meistens besonders über Zigaretten. Daher bestellte Juliane zehn Packungen Zigaretten beim Verkaufsautomaten; ein stolzes Geschenk, das Juliane einen spürbaren Teil ihres Monatsüberschusses kostete. Der Preis wurde von Julianes Karte abgebucht und die Stange Zigaretten polterte in das Ausgabefach. Sogar in Geschenkpapier war sie verpackt; gegen Aufpreis natürlich.

Beim Verlassen der U-Bahnstation wurde Juliane mulmig zumute. Ob das wohl meine zukünftige Heimat ist? All diese gleichartigen Häuser. Uniformität bis zum Gehtnichtmehr. Nein, ich will nicht! Am liebsten würde ich wieder umkehren. Aber dann wäre Susanne bestimmt tödlich beleidigt. Zu Recht! Ich sollte mich nicht so zimperlich anstellen.

Zuerst musste sie durch eine Kontrollstation gehen, wo ihre Identität gespeichert wurde. Außerdem fragte ein Terminal nach dem Zweck ihres Besuches. Nur durch diese Formalitäten würde es ihr später problemlos möglich sein, das Viertel wieder zu verlassen.

Die Erwerbslosen waren keine Gefangenen in ihrem Viertel, zumindest nicht in diesem, aber in der Praxis durften sie es trotzdem nicht verlassen, außer nach einem aufwendigen Formalitäten-Prozedere. Darum hatte Susanne es auch aufgegeben, Juliane zu besuchen. Bei den seltenen Treffen machte sich immer Juliane auf den Weg in die Stadt der Hoffnungslosen.

Die Kästen, die als Unterkunft für die Erwerbslosen dienten, reckten sich wie glänzende Mauern in die Höhe. Fünf Stockwerke hoch und einen kleinen Spaziergang lang, erstreckte sich ein Haus dieser Art hinter dem anderen, soweit das Auge reichte.

Alle Südfronten der modernen Unterkünfte waren mit Solarzellen vertäfelt und schimmerten im Nachmittagslicht. Auf den Dächern drehten sich träge Windräder, die zusammen mit den Solarzellen dafür sorgten, dass jedes Gebäude seinen eigenen Strom produzierte. Die Stadt hatte für diese Anlage sogar einen Preis erhalten, weil sie die erste Stadt gewesen war, die ihre Erwerbslosen in energieproduzierenden Häusern untergebracht hatte.

Zur Straße hin reihte sich Laden an Laden und hin und wieder eine Cafeteria oder Schnellrestaurant. Hier konnten die Erwerbslosen ihr mühsam verdientes Bürgergeld ausgeben. Heute war vergleichsweise viel los auf der Straße. Anscheinend hatten etliche Bewohner ihren wöchentlichen Ausgang genommen; vielleicht weil die Sonne mit ihren warmen Strahlen nach draußen lockte, nachdem es eine Woche lang bewölkt gewesen war. Normalerweise schien das Schwarmviertel wie tot; diesmal nur wie in den letzten Zügen liegend.

Juliane hatte Aufnahmen vom Leben in den "freien" Erwerbslosen-Vierteln gesehen. Dort kochten die Straßen vor Leben, aber jeder musste ständig auf der Hut sein, nicht hinterrücks abgestochen zu werden. Diese Viertel waren natürlich streng von der restlichen Stadt abgeschottet und erlaubten auch kaum Besucher von außen.

Ganz anders war es in den Schwarm-Vierteln, wie diesem. Hier herrschten Ruhe und Ordnung. Alles war auf Strengste reglementiert. Wer sich nicht anpasste, wurde in ein "Faulenzer-Viertel" oder gar in ein "freies" Viertel verbannt.

Juliane hörte hinter sich ein schleifendes Geräusch näherkommen. Sie sah einen Kehrwagen, der langsam die Straße entlang rollte und Juliane überholte. Seine Bürstenräder schrubbten deutlich vernehmbar über den Beton. Susanne hatte erzählt, dass diese Kehrwagen eigentlich mobile Überwachungsanlagen waren, die zur Not auch kämpfen konnten. Da sie sowieso Tag und Nacht über die Straßen patrouillierten, wurden sie außerdem zur Straßenreinigung eingesetzt.

Nach einem ordentlichen Fußmarsch erreichte Juliane die Cafeteria in der Nähe von Susannes Schwarmhaus. Die Glastür öffnete sich automatisch, sobald Juliane in den Eingangsbereich trat. Junge Frauen saßen an den kleinen Tischen und schnatterten miteinander. Die seichte Begleitmusik war kaum durchzuhören, dennoch schien sie zur aufgelockerten Stimmung beizutragen.

In einer Ecke nahe des Fensters entdeckte Juliane ihre Freundin. Susanne winkte ihr zu, sobald sie Juliane entdeckte. Sie lächelt zwar, aber ihre Augen sehen traurig aus.

Susanne stand auf, als Juliane näherkam, damit sie sich richtig umarmen konnten. Nach der Umarmung reichte Juliane Susanne ihr Geschenk und nahm Platz.

"Da sind bestimmt Zigaretten drin. Danke! Hab schon ewig keine mehr geraucht", Susanne riss das Geschenkpapier auf und holte eine Packung hervor.

Juliane kramte ein Feuerzeug und ihre eigenen Zigaretten aus ihrer Handtasche. Dann hielt sie Susanne die Flamme hin. Nach dem ersten Zug hustete Susanne sich fast die Lunge aus dem Hals.

"Ich bin wohl nichts mehr gewöhnt", sagte sie, als sie wieder atmen konnte. "Vielleicht sollte ich es bleiben lassen, wenn ich schon mal soweit bin."

"Das tut mir echt leid. Wenn ich gewusst hätte, dass du nicht mehr rauchst, hätte ich mir was Anderes einfallen lassen."

"Braucht dir nicht leid tun. Ich habs mir ja nicht absichtlich abgewöhnt; konnte mir das Rauchen halt nicht mehr leisten. Außerdem sind Zigaretten hier ein gutes Tauschmittel. Dafür kriegt man fast alles."

Juliane warf einen Blick auf das Bestellpanel. Sie drückte auf die Fläche für Milchkaffee und bestellte außerdem zwei Stücke Schwarzwälder Kirschtorte; zur Feier des Tages. Die Anzeige des Panels zeigte Julianes ID-Nummer an und bestätigte die Abbuchung von ihrer Karte. Anschließend klappte Juliane das Panel wieder zur Seite.

In der Mitte des Tisches erhob sich die Ausgabesäule und öffnete die Klappe. Juliane entnahm zuerst die Kaffeetasse, der erst der eine und dann der andere Kuchenteller folgten. Die Säule verschwand wieder in der Versenkung.

"Lass es dir schmecken", sagte Juliane, als sie Susanne die Torte reichte.

"Lecker! Schwarzwälder Kirsch! Du erinnerst dich gut."

"Na klar, wie könnte ich sowas vergessen?"

Susanne rauchte die Zigarette schnell fertig, diesmal ohne zu husten, und stach dann begierig mit der Kuchengabel in die Torte.

"Mjam, sowas könnte ich täglich essen, aber dann wäre ich bestimmt kugelrund."

"Wie gehts dir eigentlich so?"

"Och, eigentlich ganz gut. Man lebt halt so vor sich hin und die Zeit vergeht. Und was treibst du so?"

"Ich such grade nach einem neuen Job, denn an der Kasse brauchen sie mich nicht mehr."

"Dann kommst du bestimmt auch bald zu uns. Die Jobfinderei soll ja von Monat zu Monat schwieriger werden."

"Ja, einfach ist es nicht. Eine Maschine nach der anderen übernimmt die Arbeit. Aber ich will nicht in einen Schwarm ziehen."

"Wieso denn nicht? Dann bist du wenigstens die Sorgen los. Weisst du was? Meine Zimmerkollegin Michaela ist kurz davor zu den Faulenzern abzurutschen. Vielleicht könntest du dann zu mir ins Zimmer ziehen. Das würde mir gefallen."

"Wie kommts, dass sie am Abrutschen ist?"

"Sie kommt morgens nicht zum Frühsport aus dem Bett. Dabei ist neun Uhr doch eigentlich nicht so schlimm. Aber nein, sie taucht regelmäßig erst um halb zehn auf, wenn das Meiste schon rum ist und manchmal kommt sie gar nicht. Da nützt es auch nichts, wenn ich sie wecke. Sie schläft einfach wieder ein."

"Hm, neun Uhr ist wirklich nicht zu früh. Ich muss immer vor acht aufstehen. Und warum ist der Frühsport so wichtig, dass man rausgeschmissen wird?"

"Der Frühsport ist ein wesentlicher Bestandteil des Schwarmlebens und absolute Pflicht. Wenn man morgens nicht mehr aufsteht und sich bewegt, dann verfällt man auf Dauer komplett und ist gar nicht mehr arbeitsfähig. Durch den Frühsport halten wir uns arbeitsfähig. Nur so haben wir eine minimale Chance mal wieder eine Arbeit zu finden."

Das klingt wie auswendig gelernt. "Und wie gehts dann nach dem Frühsport weiter?"

"Anschliessend haben wir eine halbe Stunde, um unser Zimmer tiptop zu reinigen und uns zu duschen. Danach gibts Frühstück."

"Das ist ja noch ein recht überschaubares Programm. Und was machst du den Rest des Tages?"

"Dreimal in der Woche arbeite ich vormittags für mein Bürgergeld; meistens im Verwaltungsbüro."

"Wird das nicht alles von Computern erledigt?"

"Eigentlich schon, aber sie lassen uns einen Teil der Arbeit übrig, damit wir arbeitsfähig bleiben. Andere helfen in der Küche oder halten die Grünanlagen sauber; lauter Kleinkram eben, der dem Erhalt der Schwärme dient."

"Ist die Arbeit Pflicht?"

"Nein, jede kann soviel mitarbeiten wie sie will, aber wenn man nochmal einen Job haben will, sollte man mindestens drei halbe Tage arbeiten. Außerdem will ich ja auch was verdienen, wenns auch wenig ist."

"Und nachmittags?"

"Nachmittags habe ich Zeit für mich. Da kann ich im Netz rumstöbern, was lernen, lesen oder Filme anschauen. Meistens spiele ich aber "World 3000", das ist ein spannendes Simulationsspiel."

"Klingt eigentlich ziemlich lässig."

"Ist es auch; sag ich doch. Außerdem bist du die elenden Sorgen um den Arbeitsplatz los. Hier schikaniert dich niemand wegen Jobsuche. Ab und zu gibts ein Jobcasting, aber da stürmen genug Freiwillige hin."

Und warum sieht sie dann so traurig aus? Nein, das frage ich besser nicht, sonst verderbe ich ihr nur den Tag.

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208 Seiten
ISBN 3-938764-01-5

Preis: 14.80 Euro

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