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Vollautomatisch

Kapitel 26


  
Männerstimmen rissen Juliane aus dem Halbschlaf.

"Hier riechts nach Lagerfeuer. Lass uns mal stöbern, obs da was zum Abzocken gibt."

Ganz in der Nähe knackten Zweige, eine andere Stimme fluchte. Juliane machte sich in ihrem Schlafsack ganz klein und hielt die Luft an. Minuten vergingen zäh wie Stunden. Die knacksenden Zweige kamen näher.

Oh je, jetzt sind sie gleich bei meinem Zelt. Hoffentlich finden sie mich nicht. Oh Gott, lass sie vorbeigehen! Bitte! Die Typen hören sich auch noch besoffen an. Wer weiß, was das für Gauner sind?

Zitternd verharrte Juliane in ihrer Körperhaltung. Doch irgendwann musste sie Luft holen, was sie so leise wie möglich tat. Die Männerstimmen entfernten sich, näherten sich dann wieder und blieben eine Weile auf der gleichen Distanz. Bitte! Bitte, lieber Gott! Schick sie weg!

"War wohl doch nix mit Lagerfeuer."

"Du immer mit deiner Nase. Ich hab mir gleich gedacht, dass da nix ist."

"Also gut, lass uns weitergehen. Die Anderen werden auch schon auf uns warten."

Ja, geht fort, ganz weit weg. Hier ist überhaupt nichts. Danke lieber Gott, dass du sie fortgeschickt hast.

Allmählich entfernten sich die Geräusche der Männer. Juliane verharrte noch eine Weile in ihrer verkrampften Haltung, doch nach einer Weile traute sie sich wieder zu atmen und ihren Körper zu bewegen. An Schlafen war jedoch nicht zu denken. Stundenlang lag sie wach und horchte auf jedes Geräusch im Wald. Dass ein Wald auch nachts so reich an Geräuschen war, war ihr vorher nie bewusst gewesen. Auch die Herkunft der Männer ließ ihr keine Ruhe. Wo mochten sie wohl hingehen und wer waren die "Anderen"? Diese Anderen wollte sie morgen am besten umgehen, doch das ging natürlich nur, wenn sie wusste, wo sie sich befanden.

Am besten ist es wohl, wenn ich morgen auf direktem Weg wieder zur Straße zurückkehre, denn dort fahren immerhin soviele Autos, dass ich halbwegs in Sicherheit bin. Der Weg zu dem Dorfprojekt, das am nächsten liegt, führt sowieso noch geraume Zeit über die Straße. Ich hoffe ja, dass mein Knie mich nicht im Stich lässt. Es ist schon ganz warm und geschwollen. Ob ich mir einen kalten Wickel machen sollte? Ach was solls? Dazu bin ich jetzt viel zu müde. Es wird schon irgendwie gehen.

Als der Morgen dämmerte, kroch Juliane aus ihrem Zelt und fühlte sich wie erschlagen. Muskeln schmerzten, von denen sie vorher noch gar nicht gewusst hatte, dass es solche Muskeln überhaupt gab. Ihr Knie war dick, heiß und pochte. Sie klatschte eilig ein feuchtkaltes Tuch auf die Knieschwellung und befestigte ihre Bandage darüber. Dann baute sie das Zelt ab und verstaute ihre Habseligkeiten. So schnell wie möglich wollte sie wieder in zivilisiertem Territorium ankommen und das hieß im Moment: die Straße.

Nachdem sie ihr Fahrrad bestiegen hatte, merkte Juliane erst, in welchem Dilemma sie steckte. Jede Beugung des Knies tat weh und Fahrradfahren bestand nun mal hauptsächlich aus dem Beugen und Strecken der Beine. Juliane versuchte einbeinig zu fahren, aber das funktionierte nicht. Dann experimentierte sie mit einer Abstoßtechnik, ähnlich wie bei den Draisinen, die Vorläufer der Fahrräder waren. Aber auch das führte nicht zu befriedigenden Ergebnissen. Bei jeder Technik tat ihr Knie trotzdem weh und sie kam kaum vorwärts. Also entschloss sie sich, immer so lange zu fahren, wie sie es aushielt und dann eine Pause zu machen. Diese Vorgehensweise erwies sich als die beste, aber die Strecke, die sie bewältigte, blieb weit hinter Julianes Erwartungen zurück.

Gegen Abend war Juliane kaum halb so weit gekommen, wie sie kalkuliert hatte und ihr Knie schmerzte so sehr, dass es ihr kaum gelang, ihr Zelt aufzubauen. Aus Sicherheitsgründen zog sie sich noch weiter ins Unterholz zurück als am Vortag. Eine heiße Suppe gab es diesmal nicht, ein paar trockene Riegel mussten reichen. Mit letzter Kraft häufte sie Laub auf ihr Fahrrad, um es unkenntlich zu machen und legte sich dann zum Schlafen hin.

In dieser Nacht blieb es ruhig. Niemand kam, um Julianes mühsam gefundenen Kampfstock zu erproben. Juliane fühlte sich jedoch zu zerschlagen, um diesen Frieden wirklich würdigen zu können. Am nächsten Morgen schaffte sie es kaum, aufzustehen und ihr Zelt abzubauen. Am liebsten wäre sie liegen geblieben. Doch sie wollte nur möglichst kurze Zeit alleine in der Wildnis verbringen. Also galt es weiter zu fahren, egal wie sehr die Beine schmerzten.

An ihren humpeligen Fahrstil hatte sich Juliane inzwischen schon fast gewöhnt, so dass sie im Laufe des Tages etliche Kilometer bewältigte. Am frühen Abend erreichte sie das Dorf, das sie schon am Tag zuvor hatte erreichen wollen. Als sie es am Horizont auftauchen sah, hielt sie erst mal inne, denn sie war sich unsicher, wie sie auf die dortigen Bewohner zugehen sollte.

Was werden das für Menschen sein? "Ökodorf-Kooperative" nennt sich das Projekt. Die betreiben bestimmt viel Landwirtschaft. Ob die jemand wie mich gebrauchen können? So eine Stadtpflanze? Immerhin habe ich in World 3000 fleißig das Leben auf dem Lande trainiert, aber das ist bestimmt völlig anders als in der Wirklichkeit. Na ja, ich fahr einfach mal hin. Langes Grübeln bringt mich jetzt auch nicht mehr weiter.

Juliane setzte sich auf ihr Fahrrad und strampelte mit letzter Beinkraft zu dem Dorf. Auf einem Feld vor dem Dorf sah sie einen Mann, der den Boden hackte. Sie winkte dem Mann zu und er nickte zurück. Ob ich den vielleicht mal fragen soll, ob ich hier richtig bin? Nein, besser lasse ich ihn in Ruhe arbeiten.

Beim Näherkommen sah Juliane schiefe Fensterläden mit abblätternder Farbe, rußgeschwärzte Fassaden, herabhängende Regenrinnen und fehlende Dachziegel, die teilweise noch auf dem Dach lagen. Na ja, die werden hier viel mit der Landwirtschaft zu tun haben. Soviel, dass sie nicht dazu kommen, ihre Häuser in Schuss zu halten. Ist ja auch sehr teuer, Häuser zu renovieren.

Als sie die ersten Häuser erreichte, stieg Juliane ab und schob ihr Fahrrad bis zur Dorfmitte. Sie blickte sich um, um herauszufinden, wo sie sich am besten hinwenden sollte. Die Dorfstraßen waren menschenleer. Aus einem Haus hörte sie Männerstimmen. Über dem Eingang dieses Hauses baumelte ein metallener Hirsch, sodass Juliane annahm, vor einem Wirtshaus zu stehen. Unschlüssig stand Juliane vor dem Haus.

Auf was warte ich denn? Dass sich ein Willkommens-Schild entfaltet? Oder ein großer Pfeil erscheint? Oder auf ein pompöses Empfangskomitee? Da werde ich wohl lange warten müssen. Auf, gib dir einen Ruck, Mädel!

Juliane lehnte ihr Fahrrad an die Hauswand und schnallte ihren Rucksack vom Gepäckträger. Schwer bepackt humpelte sie auf die Tür zu. Sie holte tief Luft, um ihren Mut zu sammeln. Gerade als sie die Tür öffnen wollte, wurde sie von innen aufgerissen und ein bärtiger Mann torkelte ihr entgegen. Hastig trat Juliane einen Schritt zur Seite.

"Was haben wir denn hier für ein junges Vögelchen?"

"Ich bin Juliane. Darf ich in das Haus reingehen?"

"Aber ja doch, immer zu. Wenn du ein Minütchen wartest, komme ich gleich mit. Dann kann ich dich den anderen vorstellen."

Der Mann grinste Juliane mit all seinen Zahnlücken fröhlich an. Dann ging er bis zum Ende des Hauses und pinkelte an die Hauswand. Er kam zurück und schlug Juliane kameradschaftlich auf die unbepackte Schulter.

"Nur zu! Keine falsche Schüchternheit. Ich bin übrigens der Hansi."

Er öffnete die Tür und machte eine einladende Geste. Juliane holte noch einmal tief Luft, dann betrat sie den Hausflur. Es roch nach Schnaps.

"Schaut mal, was ich da für ein junges Dingelchen aufgegabelt habe!" sagte Hansi zu einer Gruppe bärtiger Männer, nachdem er die Tür zu einem Raum mit mehreren Tischen aufgestoßen hatte.

"Na, da ist dir doch mal richtig was gelungen, Hansi! Willkommen Mädel! Wie heißt du denn?"

"Ich bin Juliane und komme aus der Stadt. Aber ich möchte lieber auf dem Land leben. Darum bin ich hier."

"Da bist du genau richtig hier bei uns. Wir haben viel Landleben zu bieten", dabei lachte der Mann meckernd.

"Komm, setz dich her und trink ein Schlückchen mit uns", lud ein anderer Juliane ein.

Juliane stellte ihren Rucksack auf den Boden und setzte sich auf den eilig herbeigeholten Stuhl. Einer der Männer füllte einen Becher mit einer undefinierbaren alkoholischen Flüssigkeit und prostete ihr zu. Juliane hob ihren Becher und erwiderte die Anstoßgeste.

"Zum Wohl! Prost!" tönte es aus allen Kehlen.

Das Gebräu schmeckte grässlich, aber Juliane trank tapfer ein paar Schlucke, um nicht undankbar zu wirken.

"Und, wie stellst du dir das Landleben so vor?" fragte einer der Männer.

"Ich weiß nicht so recht, denn ich war noch nie auf dem Land, außer als Kind bei einer Wanderung. Aber in einer Computersimulation habe ich schon Melken, Käsezubereitung und Bierbrauen geübt."

"Oh, Bierbrauen! Dann bist du hier ja hochwillkommen. Unser Fruchtwein gelingt uns bisher nicht so gut, wie dir bestimmt schon aufgefallen ist, aber angereichert mit unserem Selbstgebrannten ist er halbwegs genießbar", dabei nahm er einen tiefen Schluck und rülpste.

"Für das Bierbrauen brauche ich aber eine Ausrüstung, Gerste und Hopfen."

"Das können wir dir bestimmt alles besorgen. Zerbrech dir mal nicht deinen hübschen Kopf."

Juliane fühlte sich unbehaglich unter all den rauen Kerlen, obwohl sie bisher alle freundlich zu ihr gewesen waren. Wahrscheinlich wird man eben rau beim Leben auf dem Lande. Stell dich nicht so an, Mädel! Du wirst dich schon einleben.

"Bin ich hier eigentlich richtig gelandet? Ich wollte zur Ökodorf-Kooperative."

"Aber ja doch, Kleine! So hieß das hier mal. Aber die Zeiten haben sich geändert, weißt du. Was die damals getrieben haben, war uns zu stressig. Wir wollten mehr Freiheit und die haben wir inzwischen. Es lebe die Freiheit!"

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Vollautomatisch
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208 Seiten
ISBN 3-938764-01-5

Preis: 14.80 Euro

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