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Vollautomatisch

Kapitel 1


  
"Kommen Sie bitte nachher zu mir ins Büro", forderte der Filialleiter Juliane im Vorbeigehen auf. Juliane spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte und der Magen zusammenzog. Sie hatte Angst, schreckliche Angst.

Ihrer Kollegin, der automatischen Kasse, warf sie einen zornigen Blick zu. Vor wenigen Monaten hatte diese schon drei Kassiererinnen von ihren Arbeitsplätzen vertrieben. Und das Schlimmste war: die automatische Kasse funktionierte hervorragend und die Kunden waren sehr zufrieden mit ihr.

Man musste nur mit dem Einkaufswagen am RFID-Scanner vorbeifahren und sofort wurde die Summe des gesamten Einkaufs ausgerechnet, ganz ohne die Einkäufe auf ein Band legen zu müssen. Bezahlt wurde per Karte oder Bargeld, das man in passende Schlitze schieben konnte, wie es schon seit Jahrzehnten bei vielen Automaten üblich war. Bargeld wurde jedoch nur noch selten benutzt, denn Karten waren deutlich bequemer.

Menschliche Kassiererinnen wurden nur noch gebraucht, um Kunden zu bedienen, die Angst vor der modernen Technik hatten, aber das wurden täglich weniger. Die meisten Kunden Julianes waren ältere Damen, die wenige Artikel kauften und stundenlang nach ihrem Kleingeld suchen mussten. Daher waren ihre Umsätze verschwindend gering im Gegensatz zu denen der automatischen Kasse.

Julianes Kündigung war nur noch eine Frage der Zeit und anscheinend war der gefürchtete Zeitpunkt jetzt gekommen. Am liebsten hätte sie die automatische Kasse zerstört, aber das hätte ihr bestimmt auch nicht geholfen, außer einen kurzen Moment der Befriedigung zu spenden.

Vor lauter Aufregung machte Juliane bei den nächsten Kunden ständig Fehler und ihr manueller RFID-Scanner schien sich gegen sie verschworen zu haben. Als ihre Finger anfingen zu zittern und sie die Tränen kaum noch zurückhalten konnte, machte sie sich klar, dass es auf ein paar Fehler jetzt auch nicht mehr ankam. Auch eine völlig fehlerfreie Abwicklung der Kassiervorgänge würde sie nicht retten können.

Juliane zwang sich, nicht daran zu denken, was ihr als Arbeitslose blühen würde.

Das half nicht besonders gut, aber immerhin gelang es ihr, nicht loszuheulen. Die Stunden bis zum Dienstschluss zogen sich hin wie ein Gummiband. Wenn ich es nur endlich hinter mir hätte, dachte Juliane.

Endlich war es soweit: mit weichen Knien ging Juliane zum Büro des Filialleiters. Beim Gehen fiel ihr auf, dass sie noch stärker hinkte als sonst. Ihr linkes Bein schien den schweren Gang hinauszögern zu wollen.

Im Büro setzte sie sich auf den Besucherstuhl, atmete noch einmal tief durch und sah den Filialleiter an. So ähnlich muss sich ein Kaninchen fühlen, dem klar wird, dass es gleich geschlachtet wird, schoss ihr durch den Kopf. Die wortreichen Erklärungen des Vorgesetzten erreichten sie wie durch einen Nebel. Eine Information war jedoch klirrend deutlich: die kommende Woche würde ihre letzte Arbeitswoche sein.

Benommen verließ Juliane das Büro und machte sich auf den Heimweg. In ihrem Kopf raste es so wild durcheinander, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte, aber ihre Füße fanden den Weg nach draußen auch ohne ihr Mitdenken. Auf dem Weg zur U-Bahnhaltestelle fiel ihr auf, dass haufenweise Menschen ihr nachstarrten. Das hat mir gerade noch gefehlt. Ist aber auch kein Wunder, so stark wie ich heute hinke. Was muss die dumme Haxe ausgerechnet jetzt so wehtun? Ach, was solls: lass sie doch alle sehen, dass du zu nix zu gebrauchen bist. Unnötiger Ballast der Gesellschaft. Juliane atmete ein paarmal tief durch, um die Tränen am Aufsteigen zu hindern.

In der U-Bahn räumte ein Herr mittleren Alters seinen Platz, damit Juliane sich hinsetzen konnte. Juliane bedankte sich artig. Auch noch sowas. Als wäre ich eine alte Oma, dabei bin ich doch erst achtundzwanzig. Heute bleibt mir aber auch nichts erspart.

Nicht mal mehr als Kassiererin werde ich gebraucht. Dass es heutzutage für Betriebswirte schwierig ist, einen Job zu finden, konnte ich ja noch akzeptieren, aber gibt es denn gar nichts mehr, wo man als halbwegs intelligenter Mensch einen Platz finden kann? Das war schon so bitter, als ich von "Secretary 7.0" aus meinem Sekretärinnen-Hilfsjob geworden wurde. Zugegeben, das Programm ist wirklich spitze: aus einer hingeworfenen Bemerkung des Chefs macht es einen formvollendeten Geschäftsbrief, besser und vor allem schneller als jede menschliche Sekretärin. Genau wie diese grauenvolle Kasse: nicht nur billiger, sondern auch besser.

Wo soll ich es denn überhaupt noch probieren? Die Putzbranche ist fest in der Hand der "Clean-Bots". Selbst wenn man willig ist, einen niederen, schlecht bezahlten Job anzunehmen, wird man nicht gebraucht. Sogar die Windeln im Altersheim werden von "Geriatic-Bots" gewechselt.

Und wenn ich innerhalb eines Monats nichts finde, dann droht der Schwarm. Dann bin ich wirklich Abschaum. Oh Mist, jetzt bloß nicht losheulen. Tief atmen, Mädel!


Endlich war die U-Bahn an Julianes Haltestelle angekommen. Gesenkten Hauptes verließ Juliane den Waggon, in der Hoffnung, dass niemand ihren Zustand bemerken würde. Am liebsten wäre sie nach Hause gerannt, aber dazu tat ihr heute das Bein zu sehr weh. Also schritt sie so zügig wie möglich aus, und versuchte, die Passanten zu ignorieren, als wäre sie mutterseelenallein unterwegs.

Zuhause stieß sie einen tiefen Seufzer aus, als die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss fiel. Die lange zurückgehaltenen Tränen brachen heraus.

Halbblind bahnte sich Juliane den Weg zu ihrem Computer. Als Juliane sich dem Bildschirm näherte, schaltete sich die dahintersteckende Maschinerie vollautomatisch ein.

"Du hast eine neue Nachricht.", tönte die samtene Männerstimme ihres Computers.

Nachrichten konnte Juliane jetzt gar nicht gebrauchen.

"Arbeitsagentur!", befahl sie ihrem Computer mit zittriger Stimme.

"Ich kann dich leider nicht verstehen. Bitte wiederhole deine Anordnung!"

"A r b e i t s a g e n t u r", mühsam versuchte Juliane ihre Stimme unter Kontrolle zu bringen.

"Ok."

Die Seite der Arbeitsagentur erschien auf ihrem Wandbildschirm. Nur ungern meldete sich Juliane arbeitslos, doch es war Pflicht, dies innerhalb eines Tages nach einer Kündigung zu erledigen. Tat man es nicht, entfiel sogar der Übergangsmonat, der einem eine geringe Chance gab, dem Schwarm nochmal zu entkommen. Dabei wird dieser Monat doch sowieso von den Arbeitgebern bezahlt. Welch eine Schikane.

Weil sie ihrer Stimme nicht traute, griff Juliane zur Maus, doch durch den Tränenschleier konnte sie kaum etwas erkennen. Vor allem fand sie nicht die Stelle, wo man sich arbeitslos melden konnte. Also doch wieder Voice-Control.

"Arbeitslos melden!"

Das verschwommene Bild änderte sich. Wie gut, dass all meine Daten automatisch ausgefüllt werden.

"Ab wann?", fragte der Computer.

"Ende ..., Ende nächster ... Woche."

"Ende nächster Woche?"

"Ja!"

"Ok, die Meldung wurde der Arbeitsagentur mitgeteilt. Soll ich dir jetzt das Regularium vortragen?"

"Nein danke, .... das kenn ich noch vom letzten Mal."

"Da wäre noch die ungelesene Nachricht."

"Ach, lass mich doch zufrieden damit. Oder wart: Lies sie mir halt vor."

"Einladung zum Juristenball. Hallo Juliane, zu unserem Juristenball am Samstag bist du herzlich eingeladen. Deine Juri-Clique!"

Oh, diese arroganten Lackaffen. Die können mir gestohlen bleiben. Pah, die werden sich noch umgucken, wenn erstmal ein Programm wie "Justizia 9.0" auf den Markt kommt. Ruckzuck wird ihnen das überhebliche Grinsen aus dem Gesicht gewischt werden.

"Schmeiss sie in den Müll, diese blöde Einladung. Oder besser doch nicht. Heb sie erstmal auf, vielleicht haben diese Fatzken ja einen Aushilfsjob für mich. Ich muss da drüber nachdenken."

"Ok, ich hebe die Nachricht auf. Soll ich dich an sie erinnern?"

"Ja, bitte morgen. Und lass mich jetzt ne Weile in Ruhe."

"Ok, ich lasse dich in Ruhe. Es muss sehr schmerzhaft für dich sein, schon wieder den Job zu verlieren. Soll ich deine Lieblingsmusik aktivieren?"

"LASS MICH EINFACH IN RUHE!"

Juliane tastete sich, inzwischen fast vollständig tränenblind, zu ihrem Schlafzimmer und warf sich aufs Bett. Endlich konnte sie ihrem Kummer freien Lauf lassen. Schluchzer schüttelten ihren ganzen Körper. Sie zog die Decke über den Kopf und versuchte in der Matratze zu verschwinden. Nur weg aus dieser Welt; verkriechen, bis nichts mehr übrig ist. Wird doch eh niemandem auffallen. Wer braucht mich schon?

Vollautomatisch

Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft. Neue Konzepte für das 21. Jahrhundert
von Jeremy Rifkin

Die Virenjägerin
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Vollautomatisch
Vollautomatisch

208 Seiten
ISBN 3-938764-01-5

Preis: 14.80 Euro

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