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Vollautomatisch

Kapitel 15


  
Ein neuer Auftrag war nicht in Sicht. Niemand meldete sich auf Julianes Werbemaßnahmen. Nachdem sie eine Weile mit sich gekämpft hatte, rief Juliane bei Theo an, um ihre Arbeitskraft anzupreisen. Tatsächlich hatte auch er alte Akten zum verarbeiten. Bei diesem Auftrag saß Juliane jedoch alleine im Aktenkeller, der allerdings vornehmer wirkte als Thomas ganze Kanzlei. Immerhin war die Bezahlung üppiger als bei Thomas. Juliane fragte sich, ob dieser Auftrag eigentlich eine Art Almosen von Theo war. Leider war auch dieser Auftrag viel zu schnell vorbei. Die Sucherei fing wieder von vorne an.

Bei ihren seltenen Supermarktbesuchen fiel Juliane auf, dass sich die Stimme der Kasse wieder verändert hatte. Der Grundklang erinnerte noch an sie selbst, aber da waren auch Elemente von Nora und Martina durch zu hören. Das hätte Juliane nicht weiter gestört, aber die Tantiemenüberweisung im nächsten Monat fiel niedriger aus als erhofft und gebraucht. Eine Randbemerkung auf der Abrechnung klärte Juliane darüber auf, dass ihre Stimme jetzt nur noch Teil einer synthetischen Stimme war, was deutlich weniger Geld einbrachte. Das ist ja gemein! Davon hat niemand was gesagt, auch nicht meine Mitsprecherinnen.

Juliane rief bei Martina an, die auch ganz empört war. Als sie sich gemeinsam bei Trotzi meldeten, war dieser schon ganz entnervt, denn auch ihn hatte die Tatsache kalt erwischt, dass die Stimmen jetzt synthetisch zusammengestellt wurden. Er war gerade dabei, seine Siebensachen zusammen zu packen als Juliane und Martina ankamen.

Dank Theos großzügiger Bezahlung schaffte Juliane es trotzdem, den nächsten Monat zu bewältigen, aber es wurde allmählich enger.

Und dann kam die Nebenkostenabrechnung für November.

Obwohl es ein besonders kalter November gewesen war, hatte Juliane mit dem Heizen gegeizt und sich auch beim Sitzen oft genug in ihre Decke gehüllt, die Füße in dicken Puschen steckend. Aber das hatte alles nicht gereicht. Die Nachzahlung für die Heizung überstieg die Kosten für die Kaltmiete. Juliane musste ihre Notreserven anbrechen, um die Rechnung zu bezahlen.

Noch so eine Rechnung und ich bin verloren. Da es immer noch kalt ist, sogar noch kälter als im November, wird die Dezember-Nachzahlung bestimmt noch teurer als die vom November. Kein Wunder, dass die älteren Häuser abgerissen werden, weil man sich die Nebenkosten nicht mehr leisten kann. Dabei hat meine Wohnung gar keine zugigen Ritzen, aber das reicht wohl heutzutage nicht mehr.

Zu Weihnachten gönnte sich Juliane eine selbstgebackene Pizza und eine Flasche Wein, die sie beide über die Feiertage hinweg streckte.

Am 27. rief sie bei ihrem Vermieter an, der bereits darauf vorbereitet war, dass Juliane bald das Geld ausgehen würde. Juliane wollte nämlich die normalen Kündigungsfristen umgehen und hatte mit dem Vermieter einen kurzfristigen Auszug vereinbart - Nachmieter gab es sowieso keine mehr.

"Ich fürchte, es ist soweit. Die Januarmiete werde ich nicht mehr zahlen können."

"Tja, schade. Das wars dann wohl mit meinem Haus. Im Februar zieht ihre einzig verbliebene Nachbarin aus. Dann wird das Haus wohl abgerissen."

"Abgerissen? Aber es ist doch noch tadellos in Ordnung außer in Bezug auf die teuren Heizkosten."

"Das nützt leider gar nichts, dass das Haus noch gut dasteht. Mit solchen Nebenkosten wird es keine neuen Mieter mehr geben. Und ich kann es mir leider nicht leisten, das Haus einfach leer stehen zu lassen."

"Wie schade. Kann man es denn nicht besser isolieren?"

"Alles was in dieser Hinsicht möglich ist, habe ich doch schon längst machen lassen. Aber mit der modernen Technik bei Neubauten kann das leider nicht andeutungsweise mithalten."

"Das tut mir wirklich leid für Sie. Aber auch für mich, denn ohne die hohen Nebenkosten hätte ich mir das Leben in Freiheit wahrscheinlich noch ein paar Monate leisten können."

"Tja, so hat jeder sein Päckchen zu tragen. Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihr weiteres Leben."

"Ich Ihnen auch. Auf Wiedersehen."

In diesen Zeiten ist man ja nicht mal vor Absturz gesichert, wenn man große Häuser besitzt. Erschreckend! Dabei dachte ich mir, die Reichen seien fein raus. Aber das gilt wohl nicht für alle Reichen.

Und jetzt sollte ich wohl meine Siebensachen sortieren und raussuchen, was ich mitnehmen will, in mein Schwarmleben. Das wird gar nicht so einfach. Außerdem wird es wohl Zeit, dass ich dem Bürgeramt mitteile, dass ich jetzt ihre Hilfe brauche.

"Computer, verbinde mich mit dem Bürgeramt. Es ist soweit."

"Ok, mache ich. Mein herzliches Beileid."

Das Infoangebot des Bürgeramtes wirkte fast wie ein Reiseprospekt. Ein automatischer Begleiter meldete sich aus den Lautsprechern von Julianes Computer.

"Willkommen bei der Aufnahmeprozedur für staatlich unterstütztes Leben. Zunächst haben Sie die Wahl zwischen unterschiedlichen Lebensstilen. Wollen Sie die Auswahl der angebotenen Varianten sehen?"

"Ja, bitte."

"Drei Grundvarianten der Lebensführung stehen Ihnen zur Auswahl. Innerhalb dieser Varianten gibt es noch unterschiedliche Formen der Unterbringung und verschiedene Sonderregelungen je nach Familienstand. Sie sind ledig?"

"Ja, ich bin ledig."

"Ok, dann entfallen die Sonderregelungen für Familien. Hier also die verschiedenen Möglichkeiten der Lebensführung: Da wäre zunächst das Leben im aktiven Schwarm. Geeignet für Menschen, die die Hoffnung auf eine zukünftige Arbeitsstelle nicht aufgeben wollen. Hier wird regelmäßige Aktivität gefördert und gefordert: Frühsport, Pflege der Unterkünfte und freiwillige Tätigkeiten innerhalb der Gemeinschaft. Untergebracht werden Sie in modernen Aktivhäusern in großzügigen Zweibettzimmern. Jedes Stockwerk hat großflächige Aufenthaltsräume und eine eigene Kantine."

Auf dem Bildschirm erschienen die wohlbekannten Glitzerhäuser in Reih und Glied. Die Kamera flog über eine ganze Siedlung dieser Häuser und zeigte sie von allen Seiten. Dann zoomte die Kamera näher an ein Haus heran und sprang gleichsam ins Innere des Gebäudes. Dort glitt sie durch die Räume und zeigte ein adrettes Zweibettzimmer, einen gemütlichen Gemeinschaftsraum und eine großzügige Kantine. Das Zweibettzimmer wirkte erheblich größer als Juliane es von ihrem Besuch bei Susanne in Erinnerung hatte, aber das lag wohl am Weitwinkel der Kamera.

"Ihre Aktivitäten werden intensiv von speziellen Programmen unterstützt, damit Sie weiterhin in der Lage sind, aktiv am Leben der Gemeinschaft teilzunehmen. In regelmäßigen Abständen finden Job-Castings statt, bei denen Sie sich für Arbeitsplätze Ihrer Wahl bewerben können. Die großzügigen Sportanlagen dienen dem Erhalt der körperlichen Fitness."

Man sah eine Gruppe junger Frauen, die unter freiem Himmel Gymnastik-Übungen machten. Es wirkte wie ein Aerobic-Kurs. Andere wurden bei der Arbeit in der Küche und weiteren Gemeinschaftseinrichtungen gefilmt. Alle wirkten sehr zufrieden; man hörte vereinzeltes Kichern und fröhliches Geplauder.

"Alternativ dazu gibt es das Leben im Passiv-Schwarm, wenn Sie kein Interesse an zukünftigen Arbeitsplätzen haben. Hier können Sie sich in aller Ruhe virtuellen Freizeitaktivitäten widmen. Die Mahlzeiten sind speziell für die vorwiegend sitzende und liegende Lebensweise konzipiert. Reinigungsmaschinen sorgen für die Sauberkeit in Ihren Quartieren. Niemand beeinflusst Sie bei Ihrer täglichen Freizeitgestaltung, keinerlei Erwartungen werden an Sie gestellt. Spezielle Massagematratzen sorgen auf Wunsch für eine gewisse Beweglichkeit und Gesunderhaltung Ihres Körpers."

Die Siedlung, über der die Kamera diesmal kreiste, wirkte genau so wie die vorherige, mit dem Unterschied, dass zwischen den Häusern keine Sportplätze, sondern Sitzbänke zum Verweilen einluden. In den Zweibettzimmern lagen die Bewohner auf ihren Betten, mit Headsets, die ihre Köpfe umschlossen. Der Rundflug durch irgendwelche Gemeinschaftsräume entfiel - vielleicht war dort niemand an Gemeinschaft interessiert.

"Wenn Sie nach mehr Freiheit und Individualismus streben, können Sie sich auch für eine freie Siedlung entscheiden. Dort können Sie leben, wie Sie möchten, egal ob aktiv oder passiv. Sie erhalten die Möglichkeit einer Unterkunft und Versorgung mit Nahrungsmitteln. Diese Siedlungen gibt es wahlweise mit modernen Aktivhäusern oder im traditionellen urbanen Satelliten-Stil."

Wieder flog die Kamera über Glitzercontainer. Doch diese Häuser wirkten teilweise beschädigt; die Solarflächen glänzten nicht so stark wie bei den anderen Häusern und fehlten an einigen Stellen sogar. Zwischen den Häusern bewegten sich Gruppen von jungen Männern in dunklen Klamotten, hier und da konnte man einen kleinen Gemüsegarten erahnen.

Dann wechselte die Szene und man sah eine Gruppe älterer Hochhäuser, früher häufig als Plattenbauten bezeichnet. Diese Siedlung war von einer hohen Mauer umgeben, die aber schnell von der Kamera überflogen wurde, so dass man nicht viel erkennen konnte. Auch hier sah man zwischen den Häusern Menschengruppen und kleine Gärten. Die Kamera flog hier jedoch höher als bei den anderen Rundflügen, sodass kaum Details zu sehen waren.

Freiheit und Individualismus klingen ja gut, aber irgendwie sind mir diese Siedlungen suspekt. Die Macher der Filme haben bestimmt Gründe, warum sie hier so hoch fliegen, dass man keine Details erkennen kann.

"Haben Sie sich für einen der Lebensführungs-Varianten entschieden?"

"Ja, ich nehme den Aktiv-Schwarm."

"Zu dieser Entscheidung kann ich Sie nur beglückwünschen. Wann wollen Sie einziehen?"

"Pünktlich zum Jahreswechsel."

"Sehr gut. Hier ist Ihre neue Adresse. Melden Sie sich beim Schwarm-Koordinator, sobald Sie eintreffen. Gepäck bis zu dreißig Kilo ist zugelassen."

Die Adresse lag in dem Stadtviertel, wo Juliane noch vor kurzer Zeit die vollautomatische Baustelle bewundert hatte. Vielleicht würde sie dort wohnen, wo der freundliche alte Herr früher seine Wohnung gehabt hatte.

Juliane starrte geraume Zeit auf die Adresse und die modernen Häuserzeilen, die im Hintergrund als Werbekulisse eingeblendet waren.

Dort wird dann also mein Leben sein. Wenn man es überhaupt Leben nennen kann, als Nummer in einem Schwarm zu hausen. Wir sind doch keine Ameisen.

Vollautomatisch

Robotik
von Alois Knoll, Thomas Christaller

Die Virenjägerin
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Vollautomatisch
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208 Seiten
ISBN 3-938764-01-5

Preis: 14.80 Euro

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