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EMP - Ein Survivalroman

Kapitel 29


  
Mit einem Ruck setzte Ulli sich auf. Er hatte unendlich viel zu tun. Die ganze Welt musste er retten.

Verwirrt machte er die Augen auf. Was für ein Traum? Einfach unglaublich. Er hatte im Traum versprochen, die Welt zu retten. Es wurde allmählich hell. Sein Studentenappartement sah so ungewohnt aus.

Nach und nach dämmerte es ihm. Er war weder in seinem Appartement noch im Zelt des Notfall-Lagers. Die vertraute Welt war tatsächlich untergegangen. Er hatte tatsächlich versprochen, die Welt zu retten, wenn auch nicht die ganze Welt. Die Rettung von München oder zumindest dieses Lagers war schon gewaltig genug. Ob er es nicht doch geträumt hatte?

Aber wie war er sonst in dieses hotelähnliche Zimmer gekommen? Sein Kompass lag direkt neben ihm und zeigte unbeirrt nach Norden.

Ulli schlug die Hände vors Gesicht, um mit seinem spontanen Entsetzen besser klarzukommen. Irgendwie half diese Geste, denn nach einigen Augenblicken fühlte er sich wieder näher.

Wenn er die Idee, dass ausgerechnet er, der kleine Ulli, München retten sollte, im Augenblick auch für völlig absurd hielt, wuchs in ihm jedoch das Gefühl, dass er eben das Beste aus der Situation machen müsste. Besser er zur Rettung der Stadt, als überhaupt keiner.

Immerhin konnte er rechnen. Und das war etwas, das viele Politker nicht von sich behaupten konnten.

Ulli schüttelte sich und dann straffte er sich in Erinnerung an die Militärs, die er gestern kennengelernt hatte.

Er würde es ihnen zeigen. Jawoll, eine richtig gute Stadtrettung würde er hinlegen, mit seinen mathematischen Fähigkeiten und seinem hellen Verstand.

Hatte er nicht immer auf eine Chance gehofft, um zu zeigen, was in ihm steckt?

War nicht der dynamische Fritz immer der jugendliche Held der Familie gewesen und er nur das Mathegenie? Ganz so war es wohl nicht gewesen, aber ein wenig neidisch war er oft auf Fritz gewesen, obwohl dieser sogar jünger war als er. Aber Fritz ging halt immer alles viel lockerer und männlicher an, wohingegen er, Ulli, oft voller Skepsis und Vorsicht war.

Wie oft hatte er sich gedacht, dass er den Job des Bundeskanzlers viel besser hinkriegen würde, wenn sie ihn nur lassen würden?

Und jetzt wurde er gelassen. Ihm war tatsächlich die Aufgabe anvertraut, das ganze Lager zu organisieren und darüber hinaus, soviel wie möglich von der Stadt zu retten.

Er würde beweisen, dass das grosse Vertrauen, dass in ihn gesetzt wurde, gerechtfertigt war.

Ja, er würde das Beste draus machen.

Obwohl er am liebsten sofort aufgesprungen wäre, um sich seinen unendlichen neuen Aufgaben zu widmen, schüttelte er sich erst nochmal gründlich durch und dann nahm er zehn tiefe langsame Atemzüge, die er nutzte, um sich innerlich auf das Kommende vorzubereiten.

Seine Soldatenkleider passten ihm noch immer gut, und gaben ihm ein gewisses zusätzliches Gefühl von Stärke. Je mehr Zeit verging, desto mehr schlug sein Herz für seine Aufgabe und voller Tatendrang verliess er sein Zimmer, um nach seinem Mitstreiter und einem eventuellen Frühstück Ausschau zu halten.

Seinen Mitstreiter fand er nicht auf Anhieb, aber seine Nase führte ihn ohne Umwege direkt in den Speisesaal, denn der Kaffeeduft war schon vor seiner Zimmertür deutlich zu erkennen. Er stellte sich in die kurze Schlange und versorgte sich mit einem rundum zufriedenstellenden Frühstück. Es war wohl noch sehr früh, denn der Speisesaal war fast leer, sodass er einen ganzen Tisch fand, um sein Frühstück und seine Papiere grosszügig auszubreiten.

Während des Essens nutzte er die Zeit, um sich die heutigen Vorhaben nochmal durch den Kopf gehen zu lassen. Nach und nach blätterte er seine Aufzeichnungen durch. Das heutige Problem war vor allem das Timing, um möglichst viele Leute mit möglichst wenig Aufwand zu erreichen. Am besten wäre es, wenn in der allgemeinen Aufwachzeit in jedem Zelt eine kurze Ansage gemacht werden würde. Leider konnte er nicht in zwanzig Zelten gleichzeitig sein. Also brauchte er eine bessere Lösung oder er musste die Bekanntgabe der Neuerungen zeitlich strecken.

Was müsste man den aufwachenden Leuten in den Zelten alles sagen, damit sie wüssten, worum es geht, aber nicht zuviel aufeinmal zu verdauen hätten? Ulli notierte sich ein paar Punkte, von denen er einen Teil gleich wieder strich, weil es zuviel werden würde. Nach einer Weile hatte er folgendes auf seinem Papier notiert:

"Achtung! Dies ist eine offizielle Ansage: Wir suchen freiwillige Mithelfer zur Organisation dieses Lagers. Alle Arten von Fähigkeiten werden gesucht. Unter anderem brauchen wir auch Verantwortliche für jedes Zelt. Bitte melden Sie sich im Laufe des Tages im Bereich der Anschlagstafeln. Abends um 18 Uhr gibt es in jedem Zelt ein Treffen für Fragen, die das jeweilige Zelt betreffen.".

Das klang nicht gerade nach einem werbewirksamen Aufruf, der die Massen mobilisiert, aber am ersten Tag würden Ulli und seine Helfer gar keinen Massenansturm bewältigen können, daher konnte es fürs Erste reichen.

Gerade als er sich seinen Aufruf nochmal durchlas, setzte sich Markus mit einem Frühstückstablett an seinen Tisch und grinste ihn an.

"Schon wieder fleissig?", fragte er.

"Ja, klar. Wir sollen ja schliesslich die Welt retten.", versuchte Ulli einen Witz zu machen, der aber nur halb wie ein Witz klang. "Aber mal im Ernst: Wir könnten zwanzig Frühaufsteher gebrauchen, die in jedem Zelt diesen Aufruf laut verlesen. Ob sich das wohl machen lässt?".

"Immer mit der Ruhe. Zwanzig Mann für eine kurze Aktion; das lässt sich wohl machen. Aber erstmal trink ich meinen Kaffee.", entgegnete Markus.

Ulli schob ihm mit fragendem Blick seinen Aufruf rüber. Markus überflog ihn und nickte.

"Wird fürs Erste gehen.", murmelte er zwischen zwei Bissen.

Ulli nahm diese Bestätigung zum Anlass, seine wenigen Sätze auf möglichst viele Blätter zu schreiben. Bis Markus sein Frühstück beendet hatte, waren zwanzig Blätter beschrieben.

Sobald Markus einsatzbereit war, dauerte es keine fünf Minuten, bis sich zwanzig Leute um die beiden scharten. Ulli staunte nicht schlecht, wie schnell sowas gehen konnte. Er erklärte den Helfern worum es ging und händigte jedem ein mit dem Aufruf beschriebenes Blatt Papier aus.

Gemeinsam verliessen sie das Hotel und gingen strammen Schrittes rüber zum Lager. An der Eingangskontrolle wurden sie mit neugierigen Blicken in Empfang genommen, konnten jedoch ungehindert einfach weitergehen.

Die zwanzig Helfer schwärmten aus zu den Zelten, während sich Markus und Ulli einen geeigneten Platz suchten, um ihr Arbeitsvermittlungszentrum aufzubauen. Sie stellten ein paar Biertische und Bänke zusammen und breiteten ihre Papiere aus. Schon war "Arbeitsamt" eingerichtet, die freiwilligen Helfer konnten kommen.

"Leute mit Verwaltungsfähigkeiten können wir gleich hierbehalten, damit sie bei der Einteilung in die einzelnen Arbeitsbereichen mithelfen konnten. Und Leute mit allgemeinen Fähigkeiten können bei der Essensausgabe oder anderen Schlangen helfen. Das bringt gleich schon mal Bewegung in die Sache.", schlug Ulli vor.

Markus nickte, und sagte mit einem verschmitzten Grinsen "Zu Befehl Herr General.".

Nach kurzer Zeit kamen die ersten Menschen zu ihren Tischen geströmt. Ulli und Markus waren sehr froh, dass unter den ersten schon mehrere Sekretärinnen und ein Manager waren, denn so konnten sie ihr Team zügig erweitern.

Der Manager sprach kurz mit Ulli, um sich das Vorhaben erklären zu lassen, dann liess er eine der Sekretärinnen mit einem dicken Stift improvisierte Schilder für Arbeitsbereiche schreiben. Eine andere schickte er zusammen mit Markus aus, um Ständer für diese Schilder zu mobilisieren. Offiziell war es natürlich Markus Befehl gewesen, aber er war dem Vorschlag des Managers ohne zu zögern gefolgt. Die anderen Sekretärinnen verteilten sich auf die Bänke, um sich den vielen Freiwilligen zu widmen, die inzwischen in grossen Scharen herbeiströmten. Je nachdem, welche Fähigkeiten die Leute hatten, wurde ihnen gleich eine Arbeit zugeteilt oder sie wurden aufgefordert, am Nachmittag oder am nächsten Morgen wiederzukommen. Ihre Namen und Fähigkeiten wurden natürlich sorgfältig aufgeschrieben, jeweils auf ein Blatt, das nach Anfangsbuchstaben geordnet war und ein Blatt, das zur Fähigkeit passte.

Nach einer Viertelstunde hingen die Schilder an mobilen Verkehrsschildern und wiesen den Freiwilligen schon frühzeitig den Weg zu den verschiedenen "Branchen". Die freigewordene Sekretärin lief jetzt zwischen den Freiwilligen umher und bot ihnen Rat und Hilfe an.

Ulli staunte, wie sich die Arbeitsorganisation wie durch Zauberei entwickelt hatte, kaum hatten sie den ersten kleinen Schritt getan.

Kurze Zeit später kamen auch die zwanzig Ansage-Helfer an Ullis Tisch vorbei und waren genauso erstaunt, wieviel sich hier in kürzester Zeit getan hatte. Sie widmeten sich anschliessend wieder ihren gewohnten Pflichten, denn ihr Job als Katalysator war getan.

In den Essensschlangen standen jetzt mehrere Helfer, sodass sich die Schlangen teilen konnten und sehr viel schneller vorwärtskamen. Bei den Kloschlangen konnte man schon Helfer mit Klopapierrollen und Putzeimern sehen.

Ein Freiwilliger, der Pantomime als Fähigkeit angegeben hatte, was spontan zu den Kindern geschickt worden. Daher hörte man jetzt fröhliches Kinderlachen und Klatschen aus der Ecke, wo sich immer mehr Kinder und Erwachsene ansammelten.

Die längsten Schlangen waren an diesem Morgen die Schlangen in Ullis Arbeitsamt, das von einer der fleissigen Sekretärinnen "Helfer-Zentrum" getauft worden war. Die Länge der Schlangen lag aber nicht an der langsamen Abfertigung, denn diese ging eigentlich sehr schnell, sondern an dem überwältigenden Interesse der Menschen mitzuhelfen. Ulli kam es so vor, als hätten alle nur darauf gewartet, endlich anpacken zu können.

Bald fanden sich noch mehr hilfsbereite Sekretärinnen, die sich an zusätzlich aufgestellten Tischen verteilten. Eine erste Gruppe junger Männer wurde von Markus zur militärischen Kurzausbildung zu einem geeigneten Ausbilder gebracht, der sich schon auf die Verstärkung freute. Eine andere Gruppe kräftiger Helfer begannen mit dem wenigen vorhandenen Grabwerkzeug in einer eher abgelegenen Ecke einen tiefen Graben auszuheben, aus dem eine Reihe Plumpsklo-Häuschen werden sollte.

Gegen Mittag schwärmten eifrige Küchenhelfer mit Tabletts aus, um die anderen Helfer direkt vor Ort zu versorgen, damit diese sich nicht in die Warteschlangen stellen mussten. Das ganze Lager summte wie ein Bienenschwarm.

Ulli baute sich im Hintergrund einen kleinen Tisch auf, an dem er zusammen mit Markus das weitere Vorgehen beratschlagen konnte, ohne den Überblick über das Geschehen zu verlieren. Sie kamen erheblich schneller voran, als in den kühnsten Träumen erwartet, darum mussten sie ihre Pläne etwas umstrukturieren.

Am Nachmittag wollten sie sich mit den Helfern zusammensetzen, die Interesse an der Betreuung der Zelte gezeigt hatten. Da die Versammlungen in den Zelten nicht alle von Ulli oder Markus begleitet werden konnten, war es nötig, die Vorgehensweise vorher zu klären. In jedem Zelt sollten abends per einfacher Wahl durch Handheben drei Verantwortliche gewählt werden. Danach sollte ein Bewachungsplan zusammengestellt werden, damit die Sicherheit in den Zelten gewährleistet war.

Zwei Mütter hatten sich freiwillig gemeldet, um die gesamte Kinderbetreuung zu organisieren. Eine kurze Besprechung reichte, um die Marschrichtung festzulegen, dann kümmerten sich die beiden Frauen um die Umsetzung.

Zwischendrin kam auch die Soldatin vom Vortag vorbei und forderte Ulli auf, sich bei Oberleutnant Wunsmann zu melden. Im Kommandozelt führte er ein interessantes Gespräch mit Herrn Wunsmann, der sich sehr erfreut über die Fortschritte zeigte. Ein Teil des Gespräches drehte sich um die jungen Männer, die eine militärische Kurzausbildung erhalten sollten, um möglichst bald die Stadt zu sichern. Besonders erfreut zeigte sich Herr Wunsmann auch über mehrere Ingenieure, die sich zur Mithilfe gemeldet hatten. Sie sassen schon in einem Verwaltungszelt und überlegten, wie man mit den verfügbaren Mitteln eine Wasserversorgung aufbauen könnte. Im Anschluss an das Gespräch zwischen Ulli und Herrn Wunsmann gingen beide zusammen zu der Gruppe der Ingenieure, in der Hoffnung auf aktuelle Informationen zum Stand der Dinge. Ulli blieb nur kurz, um sich einen Eindruck über die Ingenieure zu machen und begab sich dann wieder zum Helferzentrum.

Da alles so reibungslos lief, unterhielt er sich eine Weile mit Markus.

"Wie kommt es eigentlich, dass Oberleutnant Wunsmann kein General ist? Er scheint mir sehr kompetent und ist bestimmt auch nicht erst seit gestern bei dem Laden.", fragte Ulli, dem dunkel in Erinnerung war, dass der Rang eines Oberleutnant für die Aufgabe von Herrn Wunsmann eigentlich viel zu niedrig war.

"Das ist eine lange Geschichte und keiner weiss so recht, was daran stimmt und was nicht. Als er jung war, hatte er wohl etwas zuviele freigeistige Ideen und wurde dann laut Gerücht sogar mal degradiert. Später war er wohl meistens zur falschen Zeit am falschen Ort, um befördert zu werden. So ganz kann sich nämlich niemand erklären, warum er nicht mindestens Major ist. Denn er ist in den meisten Punkten der kompetenteste Soldat im ganzen Bereich München. Alle anderen erfahrenen Leute sind im Ausland unterwegs und nützen uns hier wenig. Die Verbindung zur Zentrale in Berlin ist äusserst schlecht bis hinzu nicht existent. Diese merkwürdige Situation ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, warum Oberleutnant Wunsmann nicht einfach Leute für die Arbeit rekrutiert hat, denn in anderen Situationen wäre das wohl eine ganz normale Vorgehensweise.", erklärte Markus.

"Ich hab mich sowieso schon gewundert, warum er einen grünen Jungen wie mich braucht, um die Leute zum Arbeiten zu bewegen. Aber deine Geschichte erklärt einiges.", sagte Ulli. "Ich kann es gar nicht fassen, wie das alles flutscht. Damit hätte ich nie gerechnet, obwohl ich ja grosse Hoffnung auf freiwillige Mithilfe gesetzt hatte.".

Die nachmittägliche Besprechung mit den Zelt-Organisierern verlief auch weitgehend erfreulich. Die meisten der Leute schienen vertrauenswürdig, sodass man ihnen die Zeltversammlungen ohne grössere Sorge anvertrauen konnte. Bei den Männern von drei Zelten hatte Ulli jedoch kein optimales Gefühl, daher beschloss er spontan, den Versammlungen jeweils noch einen militärischen Beobachter an die Seite zu stellen. Für die drei heiklen Zelte wollte er sogar zwei schicken, damit alles in ordentlichen Bahnen laufen würde. Er äusserte die Idee mit den militärischen Beobachtern, als wäre sie von Anfang an Teil des Plans gewesen. Markus schaute für einen Moment etwas verdutzt, nickte dann jedoch unmerklich.

Anschliessend besprachen die Beiden die Sache mit den militärischen Begleitern, wobei Markus sagte, dass er sehr froh über Ullis Idee gewesen sei, denn die Männer von den drei Zelten waren ihm auch nicht absolut vertrauenswürdig erschienen. Also nahm sich Markus der Aufgabe an, geeignete Soldaten für die Versammlungen zu finden. Ein Teil der frühaufstehenden Verkünder vom Morgen erklärten sich bereit, regelmässig für "ihre" Zelte zur Verfügung zu stehen. Auch für die anderen Zelte fanden sich Betreuer. Für die drei heiklen Zelte fand Markus besonders erfahrene Männer als Zusatzbetreuung. Viele andere hielten sich während der Zeit der Versammlungen in Bereitschaft, wohl vor allem, weil sie neugierig auf das Geschehen waren.

Als es soweit war, trat Oberleutnant Wunsmann zu Ulli und Markus, denn er wollte mit den beiden zusammen in jedem Zelt eine kurze Stippvisite abhalten, um allen zu zeigen, wie gut das Militär und die Zivilisten zusammenarbeiten und dass die Organisation der Zelte von der Lagerleitung unterstützt wird.

Seit gestern abend hatte sich Ulli schon Gedanken gemacht, wie er all den Leuten in wenigen Sätzen sagen könnte, was er vorhatte und dass möglichst viele mitmachen sollten. Immer wieder waren Satzfetzen durch seinen Kopf gegeistert, dabei hatte er eigentlich gar nicht damit gerechnet, eine Ansprache halten zu müssen.

Aber jetzt hatte ihm Oberleutnant Wunsmann unmissverständlich klargemacht, dass es seine Aufgabe sei, nach einer kurzen Vorstellung ein paar Sätze an die Zeltbewohner zu richten. Ulli schlug das Herz bis zum Hals vor lauter Aufregung. Vor sovielen Leuten hatte er noch nie gesprochen. Und dann gleich zwanzigmal direkt hintereinander. Mit einem Hauch von Sarkasmus dachte er sich: "Naja, am Schluss werd ichs wohl können." und fügte sich in sein Schicksal.

Auf dem Weg zum ersten Zelt sah er von weitem eine der Latrinenbaustellen, auf der schon drei Häuschen in Betrieb genommen worden waren. Dieser schnelle Erfolg ermutigte ihn, das Beste aus seiner Aufgabe zu machen.

Am Eingang des Zeltes wurde zuerst ein junger Soldat reingeschickt, der die Ankunft der Lagerleitung dem zuständigen Zeltbetreuer meldete. So dramatisch, wie es die einfachen Umstände zuliessen, betrat die Abordnung dann das Zelt und wurde mit spontanem Ablaus begrüsst.

Oberleutnant Wunsmann betrat die nichtvorhandene Bühne und brachte die Menschen mit einer kurzen Geste zum Schweigen.

"Ich begrüsse Sie im Namen der Lagerleitung und wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Wahl der Zeltverantwortlichen. Hier stelle ich Ihnen Ulli Burkhardt vor. Er wird einige Worte an Sie richten über das, was wir jetzt hier vorhaben.", mit diesen Worten schob ein junger Soldat Ulli in den Vordergrund, bis er neben Oberleutnant Wunsmann stand.

Der Moment war gekommen; es gab kein Entrinnen mehr. Die Augen der Leute hingen erwartungsvoll an Ullis Lippen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals.

"Mit vereinten Kräften wollen wir zuerst dieses Lager zum reibungslos funktionieren bringen und dann wollen wir uns die Stadt zurückerobern, sodass alle Bewohner Münchens den Winter in richtigen Häusern verbringen können. Eine provisorische Wasserversorgung ist in Vorbereitung, viele junge Männer haben sich jetzt schon bereiterklärt, bei der Rückeroberung der Stadtteile mitzuwirken, eine Schar anderer Helfer hat sich schon an fast jeder Ecke des Lagers eingefunden, um die Situation hier zu verbessern. In dieser Versammlung geht es jetzt darum, jemand zu finden, der sich um das Zusammenleben in diesen provisorischen Zelten kümmert. Ab morgen finden Sie im Helferzentrum nicht nur die Möglichkeit, mitzuhelfen, sondern auch Ansprechpartner für Ihre Wünsche und Bedürfnisse. Helfen Sie alle mit, damit wir bald wieder ein Zuhause haben. Jedem ein Zuhause!".

Das wars. Obs zu kurz gewesen war? Oder zu lang? Ob sie es verstanden hatten? Bange Zehntelsekunden zogen sich hin wie Kaugummi.

Als die Leute anfingen zu trampeln und laut zu rufen, begriff er erst gar nicht, was damit gemeint war. Es war, als würde sich eine Lawine der Gefühle losreissen, die lange aufgestaut gewesen waren. Nach einigen wirren Augenblicken verstand Ulli, dass die Menschen begeistert waren, dass sie ihm aus vollem Herzen zustimmten. Zumindest galt das für die, die sich laut äusserten, denn von eventuellen ruhigen Zeltbewohnern war in dem Tumult naturgemäss nichts zu hören.

Erst fing es an einer Ecke an: "Jedem ein Zuhause!", dann kam es aus immer mehr Ecken: "Jedem ein Zuhause!", bis das ganze Zelt immer wieder "Jedem ein Zuhause!" ausrief, als wäre es ein Schlachtruf. Vereinzelt hörte man aus den anderen Zelten ein paar Rufe, die sehr nach "Jedem ein Zuhause!" klangen.

Sobald die Menge sich wieder beruhigt hatte, verabschiedete sich die Abordnung der Lagerverwaltung samt Ulli aus dem Zelt, damit dort die sachliche Tagesordnung fortschreiten konnte. Für Ulli war jetzt das nächste Zelt dran.

Obwohl er im ersten Zelt ja schon einiges erlebt hatte, war er doch nicht auf die stürmische Begrüssung im zweiten Zelt gefasst. Der Jubel im ersten Zelt hatte die Bewohner des zweiten Zeltes offensichtlich schon in freudige Erwartung und Neugier versetzt.

Ulli konnte seine kurze Rede diesmal schon etwas routinierter halten und auch auf die nachfolgende Reaktion war er diesmal gefasst. Der neue Schlachtruf "Jedem ein Zuhause!" wurde auch hier begeistert skandiert, worauf das Echo aus anderen Zelten erfolgte.

Wie im Traum zog Ulli mit der kleinen Prozession von Zelt zu Zelt, wo sie von den Bewohnern erwartetet wurden, wie gefeierte Pop-Stars. Die drei Zelte mit den potentiell heiklen Bewerbern für die Zeltverantwortung besuchten sie gleich nach den ersten beiden Zelten, um dort bei der Auswahl der Kandidaten behilflich sein zu können. Oberleutnant Wunsmann beobachtete die Zeltbewohner während des Jubel-Tumults, besprach sich kurz mit den beiden diensthabenden Soldaten des Zeltes und schlug dann mehrere der Zeltbewohner offiziell als Kandidaten vor, als sich der Tumult gelegt hatte. Die ausgewählten Zeltbewohner wirkten alle so, als hätten sie das Herz auf dem rechten Fleck und könnten sich durchsetzen. Ulli bewunderte die schnelle Beobachtung und Entschlusskraft des erfahrenen Soldaten.

Nachdem die Prozession jedes der Zelte einmal in Jubel versetzt hatte, setzte sich Ulli reichlich verwirrt an einen der Tische des Helferzentrums, wurde aber schnell in verschiedene Gespräche hineingezogen, sodass er erstmal gar nicht so recht zu sich finden konnte.

Endlich hatten sich die vielen Gesprächspartner untereinander so gefunden, dass Ulli einen Moment unbeachtet für sich hatte. Zur Klärung seiner Gedanken nahm er sich seine Papierstapel vor und fing an, sie zu sortieren.

"Herr General, hätten Sie einen Moment Zeit für mich?", fragte jemand in Ullis Nähe.

Ein wenig wunderte sich Ulli darüber, denn er hatte noch gar keinen General kennengelernt.

"Herr General.", klang es wieder ganz in der Nähe von ihm.

"Herr General!".

Ulli sah von seinen Aufzeichnungen auf, um nach dem General Ausschau zu halten, konnte jedoch keinen entdecken, in dem er einen General vermutete. Daher fing er wieder an, sich Notizen für den nächsten Tag zu machen.

"Herr General!".

"Ähem, Herr Major?".

Ulli sah sich nach der Quelle der Rufe um und entdeckte einen etwas älteren untersetzten Mann, der heftig in seine Richtung gestikulierte.

"Ja, Herr Major, das ist doch richtig so, oder Herr General?", fragte der Mann und meinte ganz offensichtlich Ulli.

Ulli schaute an sich herab, um eventuelle Spuren von einem General an sich zu entdecken, was jedoch erfolglos blieb.

"Oh, Sie meinen mich? Nein weder General noch Major. Einfach Herr Burkhardt. Wie kann ich Ihnen helfen?", klärte Ulli die Situation.

"Ich brauch gar nicht so viel Hilfe, aber ich könnte helfen. Fünfzig Kilometer ausserhalb von München habe ich eine Bettdecken-Fabrik. Weil das Geschäft in den letzten Jahren so schlecht lief, haben wir dort grosse Lagerbestände. Als das Unglück passierte, war ich gerade bei einem wichtigen Banktermin in der Stadt, darum bin ich überhaupt hier. Unsere Decken könnten jetzt bestimmt gut gebraucht werden, weil es ja immer kälter wird.", bot der Mann an.

"Das ist ja wunderbar. Sie kommen wie gerufen. Warme Decken werden dringend benötigt. Kommen Sie doch am besten morgen hier vorbei, dann werde ich sie mit jemand zusammenbringen, der sich um den Transport kümmert. Darf ich mir grad noch notieren, wie Sie heissen und in welchem Zelt Sie momentan anzutreffen sind?", freute sich Ulli über das Angebot.

"Mein Name ist Schumann, Alfons Schumann. Ich bewohne zur Zeit das Zelt mit der Nummer neun. Morgen soll ich herkommen. Gut, gerne komm ich morgen. Dann können wir meine Decken holen.", erklärte der Mann.

Auf Ulli wirkte der Mann recht aufgeregt, aber er dachte sich, dass ein gewisses Mass an Aufregung angesichts der Katastrophe wohl normal sei.

Irgendwann verliefen sich die Menschenmengen und nur noch selten hörte man vereinzelte "Jedem ein Zuhause!"-Rufe. Bei Ulli verdrängte die Erschöpfung allmählich das Hochgefühl des Tages, sodas er gern zustimmte, als Markus vorschlug, sich ins Hotel zurückzuziehen. Auch in der Hotellobby blieb er nur noch kurz, denn die Schultern taten ihm inzwischen weh, weil er soviel Schulterklopfen einfach nicht gewöhnt war.

Auf dem Weg in sein Zimmer dachte er sich, dass es körperlich gar nicht so einfach war, wenn man viel Anlass zum Schulterklopfen bot, denn die Soldaten konnten wirklich kräftig auf den Rücken eindreschen, um ihre Anerkennung auszudrücken. Vorsichtig bewegte er seine Schultergelenke und fragte sich, ob sie mit der Zeit kräftiger werden würden.

Endlich in Ruhe in seinem Zimmer angekommen, kam er nach einer kalten Dusche allmählich wieder zu sich. Es war wie das Aufwachen aus einem Traum. Aber er wusste genau, dass der Tag kein Traum gewesen war.

Er betrachtete nachdenklich seinen Kompass, in der Hoffnung, dass dieser ihm eine klare Richtung weisen würde.

So funktionierte das also mit dem Heldentum, dachte er sich. Da reisst man einmal sein Maul auf und spricht das aus, was sowieso jeder denkt. Das hört einer, der einen wie eine Gallionsfigur an den richtigen Platz stellt und plötzlich bist du der Träger der grossen Hoffnung. Und später in den Legenden fragt kaum jemand nach all den vielen Leuten, die die Aufgabe zusammen bewältigt haben, sondern sie wollen einen grossen Helden. Ulli wunderte sich nur, wie schnell das alles gegangen waren. Die Menschen waren wohl so ausgedürstet nach ein wenig Hoffnung, dass sie auch nach einem dürren Strohhalm wie ihm griffen.

Nach einigen skrupelbehafteten Überlegungen kam Ulli zu dem Schluss, dass es dem Ziel bestimmt dienen würde, wenn die Leute voller Hoffnung mitmachen würden, also wollte er ihnen den Spass nicht verderben.

Als er versuchte, sich an den Namen des Managers zu erinnern, der eigentlich das ganze Helferzentrum organisiert hatte, fielen Ulli langsam die Augen zu. Er folgte dem Ruf seines Körpers und legte seinen Kopf auf das wunderbar weiche und saubere Kissen, nicht ohne sich für den nächsten Tag für Jeden ein Zuhause vorzunehmen.


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