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EMP - Ein Survivalroman

Kapitel 34


  
Beim Aufwachen stach eine nackte Glühbirne in Ronjas Augen. Schlagartig fiel ihr ein, wo sie waren. Auch ihre Gedanken an eine Flucht zu ihren Eltern waren sofort wieder präsent. In den verschiedensten Variationen hatte sie die ganze Nacht davon geträumt.

Zu Fuss würden sie Monate brauchen, bis sie im äussersten Südwesten Deutschlands ankommen würden. Bis dahin war tiefster Winter. Das würde nicht funktionieren. Also versuchte sie, die Idee an eine Flucht wieder zu verdrängen, auch wenn es ihr schwer fiel.

Wie sollten sie hier in Berlin durch den Winter kommen? Wo sie doch schon in so wenigen Tagen fast alles verloren hatten. Sie konnten ja auch nicht den ganzen Winter in diesem Loch verbringen. Während sie noch am Grübeln war, wachten auch Anna und Nanni allmählich auf. Sie aßen jeder einen Müsliriegel und tranken Kaffee aus einer Thermoskanne, die Josh ihnen gebracht hatte.

Ganz von selbst kamen sie ins Gespräch über ihre Situation. Alle drei waren sich einig, dass sie am liebsten von hier verschwinden würden, aber das schien ihnen wie der Wunsch nach der Lotto-Million. Für ein weiteres Überleben in Berlin hatte keiner eine brauchbare Idee. Nachdem sie gesehen hatten, wie das Militär ausser Kontrolle geraten war oder zumindest Teile davon, waren sie alles andere als zuversichtlich, was die Stadt über ihren Köpfen anging. Um sich die Zeit zu vertreiben, spielten sie ein paar Runden Skat, denn dabei konnte man sich so schön an den Karten festhalten, was noch besser ablenkte, als Englisch- oder Medizin-Stunden.

Irgendwann betrat Josh ihr Versteck. In der Hand hielt er ein Blatt Papier.

"Hier. Eure Eltern haben schon geantwortet.", sagte er, als er Ronja das Papier hinhielt.

Im Gegensatz zu sonst setzte sich Josh zu ihnen auf die Matratze und nickte Ronja aufmunternd zu, was wohl heissen sollte, dass sie den Brief vorlesen sollte. Also las Ronja den anderen den Brief ihrer Eltern vor.

"Liebe Ronja, liebe Anna,

Eure Nachricht war eine Riesenfreude.
Dass ihr in Sicherheit seid, beruhigt uns enorm, denn bei dem was wir von Berlin gehört haben, waren wir in ständiger Sorge über euch.
Ob die Sicherheit für euch wohl von Dauer sein kann, oder ist sie nur vorübergehender Natur?

Schade, dass ihr soweit weg wohnt, sonst würden wir euch vorschlagen, hier her zu kommen. Wie ihr wisst, haben wir hier genügend Platz für euch und auch für eure Freundin Nanni.

Lasst möglichst bald wieder von euch hören.

Seid ganz lieb umarmt von euren Eltern und Grosseltern."

"Tja, es ist echt ein Kreuz, dass sie soweit weg wohnen. Vor allem, wo jetzt bald der Winter kommt.", seufzte Ronja.

"Das bringt mich auf das Thema, das ich sowieso mit euch besprechen wollte.", meldete Josh sich zu Wort. "Habt ihr euch schon Gedanken gemacht, wie es mit euch weitergehen soll?".

"Ja, klar.", sagte Ronja. "Wir denken an kaum was anderes. Aber gute Lösungen sind uns leider noch nicht eingefallen. Jetzt wo unser Haus brennt, sind wir ziemlich ratlos. Und eine Flucht in den Schwarzwald würde einfach zu lange dauern. Bis dahin sind wir verhungert oder erfroren.".

"Wenn ihr fliehen wollt, hätte ich vielleicht eine Möglichkeit für euch. Am Bahnhof wird gerade eine Diesellok flott gemacht, mit der die verbliebenen vernünftigen Militärs und Politiker einen Sonderzug nach Frankfurt schicken wollen. Natürlich dürfen da nur besonders wichtige Leute mitfahren. Aber eventuell könnte ich euch Diplomaten-Pässe organisieren.", schlug Josh vor.

"Diplomaten-Pässe? Wie denn das?", fragte Nanni.

"Voraussetzung wäre, dass ihr etwas schweizerdeutsch sprechen könnt. Denn es wären schweizer Diplomaten-Pässe. Sozusagen die Töchter und Enkelkind eines engen Beraters des schweizer Botschafters. Das wäre wichtig genug, um euch einen Platz im Zug zu ermöglichen.", erkläte Josh.

"Hm, richtigen schweizer Dialekt kann ich nicht, aber ich bin im Alemannischen aufgewachsen und das ist recht ähnlich. Ausserdem bemühen sich die meisten Schweizer, im Ausland dialektfrei zu sprechen, oder?", sagte Ronja.

"Das 'oder' klang schon recht brauchbar. Ich denke, damit kommen wir hin. Wie sieht es mit euch beiden anderen aus?", kam von Josh.

Nanni und Anna schüttelten den Kopf. Mit schweizer Dialekt konnten sie nicht dienen.

"Na gut, bei der Kleinen kann das durchgehen. Sie kennt die Schweiz halt nicht, weil sie hier aufgewachsen ist. Aber für dich Nanni müssen wir uns was einfallen lassen. Zur Not musst du eben den Mund halten.", stellte Josh fest. "Der Nachteil dieser Fahrt wäre natürlich, dass sie nur bis Frankfurt geht. Aber in Frankfurt ist es sehr viel friedlicher als hier, die Luden haben dort das Regime übernommen und machen das ganz ordentlich. Ausserdem gibt es dort eine Kontaktperson, die eure Eltern aus ihrem Netz kennen. Ein gewisser CityGuy und der macht einen hilfsbereiten Eindruck. Vielleicht gibt es ja auch eine Möglichkeit für euch, von dort aus weiter zu kommen. Also, wollt ihr das Abenteuer wagen?", fragte er.

"Ja.", sagten alle drei wie aus einem Munde. Auch wenn die Situation in Frankfurt ungewiss war, war es auf jeden Fall gut, aus Berlin wegzukommen.

"Ok, dann werd ich mich mal an die Arbeit machen.", sagte Josh und verschwand.

"Wie aufregend.", seufzte Nanni. "Ob ich das wohl mit dem schweizer Dialekt hinkriege in der kurzen Zeit? Und ob wir von Frankfurt aus weiterkommen? Was bin ich froh, wenn wir hier wegkommen.".

"Mir gehts ganz ähnlich. Ich kann es auch kaum noch abwarten.", sagte Ronja. "Lasst uns einfach mal das typische schweizer 'oder' üben. Das müsste für den Anfang schon reichen. Einen echten Schweizer wird es natürlich nicht beeindrucken, aber dann können wir ja sagen, wir seien hauptsächlich hier in Berlin aufgewachsen.".

Also übten sie gemeinsam das schweizer "oder" am Ende der Sätze, was zwar nicht besonders gut gelang, aber um Norddeutsche zu überzeugen würde es vielleicht reichen. Bei ihren Übungen kamen sie ins Gespräch über Josh. Anna fand ihn "irgendwie komisch, aber ganz nett, oder.". Ronja und Nanni wunderten sich sehr über seine Möglichkeiten in dieser Katastrophen-Situation. Er schien alles bewerkstelligen zu können. Aber wodurch war ihm das möglich? Irgendwie erinnerte Josh etwas an James Bond, wenn er auch nicht so aussah. Kampferfahrung hatte er bestimmt, das stand völlig ausser Frage.

Nachdem das "oder" halbwegs klappte und auch das Geheimnis um Josh ausführlich durchdiskutiert war, verging der Tag quälend langsam, obwohl sie versuchten, ihn mit Kartenspielen, Geschichten und Lernen zu verkürzen.

Erst am späten Abend kam Josh wieder zu ihnen. Er warf ihnen drei Pässe auf den behelfsmässigen Tisch und fragte: "Seid ihr bereit?".

"Ja, sind wir, wann geht es los?", antwortete Ronja.

"Morgen früh um neun fährt der Zug. Bis dahin müsst ihr euch eure neuen Persönlichkeiten noch einprägen.", sagte Josh. "Also, ihr seid Schwestern und eine von euch hat eine Tochter. Eure Vornamen habe ich belassen, wie sie sind, damit ihr euch nicht so leicht verplappert. Euer Vater ist zusammen mit allen anderen schweizer Diplomaten beim Sturm auf die schweizer Botschaft umgekommen. Das war vor drei Tagen. Es wäre also sinnvoll, wenn zumindest ihr beiden Erwachsenen etwas traurig wirken würdet. Ihr seid auf der Reise zu, was weiss ich, eurer Oma vielleicht, in der Schweiz. Diese Story braucht ihr nur, solange ihr im Zug seid. In Frankfurt wird dieser CityGuy euch abholen. Ach und noch was: Wundert euch nicht, wenn ihr beim Verlassen der Stadt Flüchtlingsströme in Richtung Stadt seht. Die Bewohner der gesamten Umgebung versuchen sich nämlich nach Berlin durchzuschlagen, wo sie sich Hilfsmassnahmen erhoffen. In den Vororten stossen diese Flüchtlinge zur Zeit auf diejenigen, die aus der Innenstadt fliehen. Keine schöne Sache, wenn sie feststellen, dass beide Fluchtrichtungen nix taugen. In den Vororten möchte ich zur Zeit nicht gern leben. Euer Zug wird schwer bewacht sein, aber ein paar Störungen könnte es durchaus geben.".

So eine lange Rede hatten sie noch nie von Josh gehört. Als er wieder gegangen war, schauten sich die Drei die neuen Pässe an. Ob sie wirklich genau wie echte schweizer Pässe aussahen konnten sie nicht beurteilen, aber sie wirkten sehr echt. Sie waren sogar etwas abgegriffen, als wären sie schon öfters benutzt worden. Im Innern sahen sie Fotos von sich, die ziemlich aktuell aussahen. Woher Josh die wohl genommen hatte? Sie erinnerten sich nicht daran, dass Josh sie fotografiert hatte. Sie machten sich noch mit dem Gedanken vertraut, für eine Weile Schweizer zu sein, legten sich aber bald schlafen, um am nächsten Tag gut ausgeruht zu sein.

Schon früh am Morgen weckte Josh sie auf und führte sie auf endlos scheinenden verschlungenen Wegen durch die Eingeweide der Stadt. Als sie schon kaum noch glaubten, jemals an ein Ziel zu kommen, kletterte Josh durch einen Schacht nach oben und öffnete den Gullideckel. Er forderte sie auf, ihm nachzuklettern. Oben angekommen fanden sie sich in einer von Bauwagen geschützten Ecke neben dem Bahnhof wieder. Durch einen Nebeneingang betraten sie den Bahnhof. Dort wurden sie von einem Mann mit Klemmbrett in Empfang genommen, der ihre neuen Personalien überprüfte und ihre Namen auf seiner Liste abhakte.

In einer Wartehalle mussten sie noch eine halbe Stunde warten, bevor der Zug losfuhr. Die Halle füllte sich mit jeder Minute, sodass sie bald dichtgedrängt in der Menge standen. Endlich durften sie unter scharfer Bewachung durch den Bahnhof zum Zug gehen. Der Bahnhof war menschenleer, bis auf bewaffnete Männer, die an allen Ausgängen und Gleisen standen.

Der Zug entpuppte sich als alter Bummelzug. Die moderneren Exemplare waren wohl alle viel zu sehr mit Elektronik vollgestopft, um noch zu funktionieren. Irgendjemand behauptete, die Lok sei aus einem Eisenbahnmuseum geholt worden. Im hinteren Bereich des Zuges konnten sie die Lok zwar nicht sehen, aber das Gerücht mit dem Museum klang durchaus plausibel.

Ronja und ihre Familie fand einen Platz in der Mitte des Zuges. Da alle Sitzplätze voll eingeplant waren, setzte sich noch eine ältere Frau in ihre Vierer-Sitzgruppe. Als sich endlich alle niedergelassen hatten, war die Ungeduld der Reisenden so stark zu spüren, dass der Waggon fast vibrierte. Endlich ging auch ein physikalisches Vibrieren durch den Zug und ganz langsam nahm er Fahrt auf.

Kaum hatten sie den Bahnhof hinter sich gelassen, hörten sie laute Rufe und Schüsse. Ein Blick aus dem Fenster zeigte viele Menschen, die versuchten, sich an den Zug zu hängen. Bewaffnete Männer waren damit beschäftigt, sie davon abzuhalten. Soweit Ronja es sehen konnte, schossen sie vorwiegend in die Luft, aber nach ihrer Erfahrung in der Innenstadt schloss sie Tote nicht aus.

Allein die Fahrt durch die Stadt dauerte eine gute Stunde. Seit sie richtig in Fahrt waren, gab es zwar kaum noch Leute, die versuchten, sich an den Zug zu hängen, denn dazu war er inzwischen zu schnell, aber die alte Diesellok schien Mühe zu haben, den langen Zug zu beschleunigen. Als sie die Stadt endlich hinter sich gelassen hatten, konnte man deutlich sehen, dass Josh Recht gehabt hatte, mit seiner Äusserung, dass viele Leute nach Berlin hineinflohen anstatt es fluchtartig zu verlassen. Die parallel verlaufenden Strassen waren voll mit Flüchtlingen, die schwer bepackt oder mit Handkarren unterwegs in Richtung Stadt waren. Ronja stellte sich die Situationen sehr merkwürdig vor, wenn sie im Bereich der Vorstädte auf die Flüchtenden in der anderen Richtung stossen würden.

Als die vorbeieilende Landschaft allmählich eintönig wurde, wandte sich Anna vom Fenster ab und kam mit der älteren Dame an ihrer Seite ins Gespräch.

Mit ernsthafter Miene erzählte sie der Frau von ihrem Opi, der gestorben sei und dass sie deswegen sehr traurig sei. Sogar das typische "oder" baute sie an passenden Stellen am Ende ihrer Sätze ein und das "ch" krächzte sie hervor, als hätte sie es nie anders getan. Mit grossen unschuldigen Augen erzählte sie dann, dass sie auf dem Weg zur Uroma in Zürich seien, dass sie die Uroma aber noch nie gesehen hätte.

Die ältere Frau erzählte, dass sie die Frau eines Staatsekretärs gewesen sei. Dieser sei beim Sturm auf das Regierungsviertel getötet worden und jetzt sei sie ganz allein. Sie hoffte, dass sie es bis Bonn schaffen würde, denn dort hätte sie jahrelang gelebt und in Bonn wäre es angeblich friedlicher als in Berlin. Bei der Erzählung von ihrem getöteten Mann liefen ihr Tränen über die Wangen, aber Anna munterte sie mit einem "Es wird alles gut." erfolgreich wieder auf. Wahrscheinlich war es der Frau etwas peinlich vor einem Kind zu weinen, das selbst so tapfer war.

Ronja staunte nicht schlecht darüber, wie ungerührt ihre Tochter lügen konnte. Freundlicherweise könnte man es natürlich auch "schauspielern" nennen, aber dennoch war es fast ein wenig unheimlich. Die ältere Dame war ganz entzückt von Anna und hätte ihr inzwischen wohl fast alles geglaubt.

Nach etwa zwei Stunden hielt der Zug plötzlich mit einem lauten Quietschen an. Die Passagiere wurden durcheinandergewirbelt und viele fielen ihrem Gegenüber auf den Schoss. Der Zug hielt noch immer, als sich die Passagiere wieder zurechtgesetzt hatten. Unruhe kam auf. Einer der Passagiere ging in den Nachbarwaggon, in der Hoffnung dort mehr zu erfahren. Kurz darauf kam er mit einem bewaffneten Mann zurück, der kurz verkündete, dass ein anderer Zug auf den Schienen stand und dass dieser erst entfernt werden müsste. Eine Stunde später ging es endlich wieder los, aber nur sehr langsam. Der Zug schlich fast im Schritttempo voran. Aus einem anderen Waggon kam das Gerücht, dass der Zug der Flüchtlinge jetzt den anderen Zug bis zu einer Weiche schieben würde. Dort würde er dann aus dem Weg geschoben werden, damit die Strecke wieder frei war. Irgendwann ging dann auch ein Ruck durch den Zug und er fuhr ein Stückchen rückwärts, bis er anschliessend wieder Fahrt aufnahm.

Die Fahrt zog sich endlos lange hin. Bei dem Gedanken daran, dass sie sonst die ganze Strecke hätten laufen müssen, fand Ronja die Fahrt nicht mehr ganz so langsam. Ihre Sitznachbarin erzählte von einem Gerücht, dass ein einzelner Mann namens Josh den Zug flottgemacht hätte, um ihn den verbliebenen Ordnungshütern zur Verfügung zu stellen, als sich herausstellte, dass die Situation ausser Kontrolle geriet. Anna erzählte natürlich sofort, dass sie auch einen Josh kannten. Dass dieser ihnen die Pässe besorgt hatte, verschwieg sie allerdings. Ronja war beeindruckt von der Durchtriebenheit ihrer Tochter, aber so ganz wohl war ihr nicht dabei. Schliesslich sollte man seine Kinder ja nicht zur Unehrlichkeit erziehen und Anna schien es richtig zu geniessen, mit ihrer Tarngeschichte zu jonglieren.

Gegen Abend kuschelte sich Anna auf dem Schoß ihrer Sitznachbarin zusammen und schlief ein. Die ältere Dame schien es mehr zu geniessen, als dass es sie störte. Vielleicht lenkte es sie auch ein wenig vom Tod ihres Mannes ab, so ein warmes kleines Mädchen auf dem Schoss liegen zu haben. Die ganze Nacht über rollte der Zug durch die Dunkelheit. Zweimal hielt er noch an, fuhr aber ohne Zwischenfälle wieder weiter.

Als der Morgen graute, erreichten sie endlich Frankfurt. Rauchsäulen, wie in Berlin, waren keine zu sehen. Auch sonst wirkte die Stadt im Vorbeifahren wie bei den früheren Malen, als Ronja durch Frankfurt gefahren war.

Schliesslich standen sie ziemlich verloren in der Bahnhofshalle und schauten sich um. Diesen CityGuy kannten sie ja gar nicht; ob er wohl wirklich kommen würde? Endlich kam ein junger Mann eilig auf sie zu.

"Seid ihr Ronja, Nanni und Anna?", fragte er die Drei. Als diese nickten, fuhr er fort: "Ich bin CityGuy, zumindest im Netz heisse ich so. Ein gewisser Josh hat euch angekündigt.".

"Ja, der hat uns in Berlin geholfen.", erklärte Nanni.

"Kommt erstmal mit, ich bring euch wohin, wo ihr euch von der Fahrt erholen könnt. Es ist nicht weit.", schlug CityGuy vor.

Dem Vorschlag folgten sie gerne und so verliessen sie den Bahnhof in Richtung Kaiserstrasse. Auf der Kaiserstrasse herrschte viel Betrieb; es sah aus wie ein Flohmarkt auf dem alle Arten von Waren angeboten werden. Der Duft von frischen Brezeln stieg den Reisenden verlockend in die Nase. CityGuy bemerkte das und hielt an, um allen dreien eine noch warme Brezel zu kaufen.

Ronja kannte dieses Viertel als Rotlichtviertel, das allmählich in ein Bankenviertel überging, aber so wie an diesem Tag hatte es noch nie ausgesehen. Zwar prangten immernoch erotische Embleme über vielen Hauseingängen, einige der Verkäuferinnen an den Ständen waren für die Jahreszeit auch ziemlich leicht bekleidet, aber ansonsten hatte die Gegend ihren Rotlichtcharakter völlig verloren. Nach dem brennenden Berlin erschien den Flüchtlingen dieser ehemalige Schandfleck von Frankfurt wie eine Oase der Zivilisation. Aus einem Lautsprecher ertönte sogar Musik. Auf Ronjas fragenden Blick antwortete CityGuy kurz "Autobatterien". Obwohl die Musik nicht unbedingt Ronjas Lieblingsstilrichtung entsprach, konnte sie nicht anders, als beim Weitergehen mitzuwippen. Auch den anderen Beiden schien die Musik gutzutun, Anna hüpfte sogar ausgelassen auf und ab.

Bald führte CityGuy sie in ein Haus, das durch zwei verschränkte Herzen geziert wurde. Anstelle eines Puffs erwartete sie jedoch ein gemütlich aussehendes Bistro. CityGuy brachte sie zu einem Tisch in der Nähe des Tresens und setzte sich zu ihnen. Auf einen Wink hin kam ein junges Mädchen zu ihnen, um ihre Wünsche zu erfragen. Auf Ronja wirkte dieses Mädchen überhaupt nicht wie eine Frau, die jemals in einem Puff gearbeitet hatte. Wenn sie je einen unschuldigen Blick gesehen hatte, dann hatte ihn dieses Mädchen. Zwar sehr unschuldig, aber keineswegs dumm, sondern eher wach und aufmerksam. Ihre fast goldblonden Haare liessen sie fast wie einen Engel wirken, aber einen Engel, der mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand. Wahrscheinlich wusste dieses Mädchen, was es wollte.

Nachdem das Mädchen ihre Bestellungen aufgenommen hatte, schenkte sie CityGuy ein besonders freundliches Lächeln, das dieser sofort erwiderte. Dabei verwandelte sich sein bisher eher unauffälliges Gesicht in das Gesicht eines schönen Mannes mit leuchtenden Augen.

"Das ist Maria.", sagte er, als würde das alles erklären.

Maria brachte ihnen nach kurzer Zeit ein üppiges Frühstück, dass selbst in normalen Zeiten beeindruckt hätte. Anna machte sich ans Vertilgen der Leckereien, als sei es das Normalste der Welt, dass es hier in Frankfurt solchen Luxus gab. Ronja dachte sich, dass das eigentlich auch nur logisch war, denn sie waren schliesslich geflohen, um wieder in eine bessere Gegend zu kommen. Aber Ronja war natürlich klar, dass Frankfurt von den Anschlägen genauso betroffen war wie Berlin. Aber irgendwas war hier anders gelaufen. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass die Zuhälter in Frankfurt dafür verantwortlich waren, dass hier das Leben weiterging. Aber es schien fast so.

Während des Essens bestürmten sie CityGuy mit Fragen, um sich ein besseres Bild von den Geschehnissen in Frankfurt zu machen. Er erzählte ihnen, wie er aus seinem umkämpften Stadtteil hier her gefunden hatte.

"Und dann habe ich hier tatsächlich ein Internet-Cafe aufgebaut. Sogar einen extra Raum habe ich dafür. Wir haben schon etliche Kontakte herstellen können. Dass das Ganze auf dem Netz eurer Eltern beruht, wisst ihr bestimmt.", erzählte er. "Wie ist es denn euch ergangen?".

Abwechselnd erzählten die drei Flüchtlinge ihre Geschichte vom Verstecken in Berlin und der bequemen Flucht mit dem Zug. Sie erzählten auch, wie Josh ihnen die Flucht ermöglicht hatte.

"Ja, dieser Josh scheint ein interessanter Mensch zu sein. Er ist bisher die einzige Verbindung nach Berlin, die wir überhaupt herstellen konnten. Aus dem Radio hört man manchmal Horror-Nachrichten aus Berlin. Ihr scheint noch verhältnismäßig glimpflich davongekommen zu sein. Was ist denn das für ein Typ dieser Josh?", fragte CityGuy.

"Keine Ahnung, um ehrlich zu sein. Der hatte wohl eine Wohnung in unserem Haus, die er ziemlich gut ausgestattet hatte. Irgendwann warnte er uns vor Plünderern und riet zum Packen eines Fluchtgepäcks. Das mit den Plünderern bewahrheitete sich dann ja auch, was uns in die Flucht trieb, bis Josh uns in der Kanalisation versteckte. Geredet hat er nie viel. Wir haben uns auch kaum getraut, genauer nachzufragen, denn er hatte irgendwie was Unnahbares. Er wirkte, als hätte er alles im Griff, zumindest alles, was er im Griff haben wollte. Aber wie er das tat, blieb uns völlig schleierhaft.", versuchte Nanni, das Phänomen Josh genauer zu beschreiben.

"Hm, interessante Leute lernt man so kennen, in diesen Zeiten. Da fällt mir ein: Ich sollte mal nach meinem Netz-Server schauen und eure Eltern informieren, dass ihr gut angekommen seid. Soll ich ihnen was Spezielles ausrichten?", sagte CityGuy.

Ronja dachte kurz nach, dann antwortete sie: "Schreib einfach erstmal liebe Grüsse und dass wir gut angekommen sind. Später können wir ja vielleicht noch mehr schreiben, oder?".

"Ja klar, wir sind inzwischen ständig online. Ich geh dann mal kurz. Maria kann euch euer Zimmer zeigen.", sagte CityGuy und ging in einen Nebenraum.

Maria brachte sie kurz darauf in ein grosszügiges Zimmer mit Doppelbett. Zwei Männer trugen ein zusätzliches kleines Bett in den Raum, das offensichtlich für Anna gedacht war.

Nachdem sie es sich bequem gemacht hatten, blieb Maria noch eine Weile bei ihnen. Anscheinend freute sie sich über den Besuch aus einer anderen Welt und wollte auch gern erfahren, was in Berlin vor sich ging.

Nanni war auch neugierig, was es mit Maria auf sich hatte, also fragte sie im Verlauf des Gespräches: "Was hat ein Mädchen wie dich eigentlich in einen Laden wie diesen getrieben?".

"Oh, das ist einfach. Der Chef von all diesem hier ist mein Vater. Bisher lag ich ständig im Streit mit ihm, weil mir dieses Rotlichgeschäft nicht gefallen hat. Immer habe ich mir gewünscht, dass er sich ändert und auf ehrliche Weise sein Geld verdient. Sogar gebetet habe ich dafür. Aber dass dann so eine Katastrophe kommen muss, damit er sich ändert, habe ich nicht gewollt. Und eigentlich hat er sich auch gar nicht wirklich geändert, aber seit der Katastrophe verdient er sein Geld auf ehrlichere Weise als jemals zuvor, seit ich mich erinnern kann. Ohne ihn und seine Geschäftspartner wäre es hier vielleicht genauso schlimm wie in Berlin, wer weiss?", erzählte Maria.

"Das erklärt so einiges.", sagte Nanni und lächelte Maria an.

Sie unterhielten sich noch eine ganze Weile über die Unterschiede zwischen Berlin und Frankfurt, bis CityGuy irgendwann wiederkam und Grüsse von Ronjas Eltern brachte.

"Hast du vielleicht auch eine Idee, wie es weitergehen kann mit uns?", fragte Ronja.

"Ja, eventuell schon. Euer Josh hat mir geschrieben, dass er da vielleicht eine Weiterfahrt für euch auftreiben kann. Aber Genaueres weiss er frühestens morgen.", antwortete CityGuy. Das war wirklich eine gute Nachricht.

Nach einem ausgiebigen Mittagschlaf um den verpassten Schlaf der letzten Nacht nachzuholen, verbrachten sie den Nachmittag mit einem ausgiebigen Bummel über den Flohmarkt und verbrachten eine wunderbare Nacht in ihren sicheren Betten.

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