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EMP - Ein Survivalroman

Kapitel 3


  
Wie jeden Morgen stand Ronja schon seit 8 Uhr elegant gestyled hinter dem Tresen der Hotel-Rezeption. Ihre sechsjährige Tochter Anna war mit ihr zusammen losgefahren und dann bei der Schule ausgestiegen. Seit einem Jahr ging sie zur Schule und nachmittags in die Kindergruppe, weil Ronja den ganzen Tag arbeitete.

Ronja war ehrgeizig und arbeitete sehr fleissig, um möglichst bald eine verantwortungsvollere Stellung zu bekommen. Denn sie brauchte dringend mehr Geld, um sich und vor allem der kleinen Anna einen akzeptablen Lebensstandard bieten zu können. Schon jetzt gab es manchmal Tränen, wenn sie Anna besonders teure Designer-Kleidchen verweigern musste. Daher war eine 50-Stunden-Woche für Ronja der Normalfall und manchmal musste sie auch darüberhinaus im Hotel bleiben.

Der erste grosse Schwung der Frühaufsteher war schon bewältigt, als plötzlich in der gesamten Lobby der Strom ausfiel. Der Computer stürzte ab und es wurde leicht dämmrig, weil die raffinierte Hallenbeleuchtung plötzlich dunkel blieb. Dann hörte man Rufe und Schreie aus verschiedenen Ecken.

Die lautesten Rufe kamen vom Fahrstuhlbereich. Herr Schneider, der Leiter der Rezeption, versuchte per Telefon einen Techniker zu rufen, aber das Telefon war tot. Also schickte er einen der jüngeren Mitarbeiter, der technisch halbwegs geschickt war, um die offensichtlich steckengebliebenen Gäste zu befreien. Dann fluchte er leise vor sich hin. Man konnte undeutlich ein "bisschen viel aufeinmal" vernehmen.

Eine Dame eilte halbfrisiert und kreischend aus dem Toilettenbereich. Kaum sah sie Ronja an der Rezeption stehen, stürzte sie auf sie zu und begann, sich in den höchsten Tönen zu beschweren, weil ein Stromausfall im Erfrischungsraum ja nun wirklich unzumutbar sei. Ronja versuchte sie zu beruhigen und entschuldigte sich höflich im Namen der Geschäftsleitung. Dann bot sie der Dame einen Kaffee an, der für solche Zwecke immer bereitstand und lieh ihr einen kleinen Spiegel aus ihrer eigenen Handtasche.

Der Tumult im Hintergrund wurde immer grösser. Noch konnte man nicht so richtig wahrnehmen, was überhaupt wo los war. Aus dem Küchenflügel tönte lautes Fluchen und das, obwohl der Bereich gut schallisoliert war. Da wurde also sehr laut geflucht. Auch die Geräusche aus den oberen Stockwerken wurden immer lauter und bedrohlicher.

Ronja sagte leise zu Herrn Schneider "Die Gäste, sie sind wahrscheinlich in ihren Zimmern eingesperrt. Jemand muss sie befreien." Eine Antwort konnte sie jedoch nicht abwarten, denn in diesem Moment strömten mehrere aufgebrachte Gäste aus der Tiefgarage und aus dem Haupteingang in Richtung Rezeption. "Mein Auto wurde beschädigt." "Die Taxifahrer weigern sich zu fahren." "Die Tiefgarage ist stockdunkel. Ich finde mein Auto nicht". So riefen alle durcheinander.

"Bewahren Sie Ruhe. Einer nach dem anderen." versuchte Ronja sich Gehör zu verschaffen. Nachdem jeder sein Problem geschildert hatte, stellte sich die Situation folgendermassen dar: In der Tiefgarage war es dunkel, nichtmal die Notbeleuchtung ging, und wer sein Auto dennoch gefunden hatte, konnte es nicht öffnen. Auf dem Hotel-Vorplatz standen die Taxis und die Taxifahrer behaupteten, dass sie nicht mehr funktionieren würden. Die ersten verlangten schon nach ihrem Anwalt und als sich herausstellte, dass die Handies auch nicht funktionierten, skandierten sie "Wir verklagen Sie! Wir verklagen Sie!".

Inzwischen war der leitende Geschäftsführer des Hotels an der Rezeption eingetroffen und wandte sich kurz an die Protestierenden "Wir werden uns um alles kümmern. Bewahren Sie Ruhe. In Kürze wird alles wieder seinen gewohnten Gang nehmen.". Dann sagte er leise zu Ronja: "Beruhigen Sie die Leute und sparen Sie nicht an Kaffee, Erfrischungstüchern und Keksen, wenn Sie die Probleme nicht lösen können. Sagen Sie den Leuten, dass wir alles bald in den Griff kriegen. Den Herrn Schneider entführe ich Ihnen für eine Weile, weil er in den oberen Stockwerken gebraucht wird. Sie müssen hier also die Stellung halten. Die jungen Damen lasse ich Ihnen da." Dann ging er zu Herrn Schneider und sprach ein paar Minuten auf ihn ein. Herr Schneider schnappte sich die männlichen Rezeptionsmitarbeiter und verschwand im Treppenhaus.

Die Gäste aus den Fahrstühlen waren inzwischen offensichtlich befreit worden, denn zwei aufgelöst wirkende Grüppchen von Menschen bewegte sich in Richtung Rezeption. Ronja gab ihren Mitarbeitern ein paar kurze Anweisung, damit sie wussten, was zu tun sein und ging dann freundlich auf die Gäste zu, ein paar Erfrischungstücher schon in der Hand haltend.

In den nächsten Stunden wurde das Chaos nicht etwa besser, sondern immer schlimmer. Der Strom blieb weg und auch das Wasser war anscheinend ausgefallen, denn es kamen auch sehr viele Klagen von halbgeduschten Leuten mit zerzausten feuchten Haaren. Grund zur Klage gab es genug: Kein Fernsehn, kein Licht, kein Telefon, kein Auto, keine Endabrechnung, verstopfte Toiletten im Dunkeln, lauwarmer Kaffee, später dann: Kaltes Mittagessen, ...

Hin und wieder sah Ronja blaugekleidete Techniker durchs Treppenhaus eilen, aber der Strom kam nicht wieder. Gegen Mittag kam Herr Schneider kurz vorbei und berichtete ihr, dass der Strom anscheinend in der ganzen Stadt ausgefallen sei und dass er in den Gäste-Stockwerken eine Art Bewachertruppe für die manuell geöffneten Zimmertüren eingesetzt hätte. Dann eilte er wieder davon.

Die Gespräche der verunsicherten Gäste in der Lobby drehten sich zuerst um die Unfähigkeit der Hotelleitung und wandelten sich allmählich in eine brodelnde Gerüchteküche, als sich die Info verbreitete, dass ganz Berlin Stromausfall hatte. Die meisten glaubten, Berlin sei jetzt endgültig pleite und die Geldgeber vom Cross-Border-Leasing hätten jetzt den Strom abgestellt. Andere beharrten darauf, dass jetzt wohl die Russen kommen würden, das waren aber nur wenige.

Keinem fiel in dem ganzen Chaos auf, dass das Versagen von Autos und Handies normalerweise nicht Bestandteil eines gewöhnlichen Stromausfalls ist. Und warum lief der Notstrom nicht schon längst? Ronja machte sich so ihre Gedanken.

Im Laufe des Nachmittags kam ein Techniker und meldete, dass in den Toilettenräumen wieder Licht sei und eine Not-Wasserversorgung sei aktiviert worden. An normale Zustände sei aber erstmal nicht zu denken, denn das wichtigste Notstromaggregat sei leider auch kaputt.

Den ganzen Tag über gab es keine ruhige Minute, sodass Ronja sehr froh war, als Herr Schneider gegen 17 Uhr zur Rezeption kam und sie nachhause schickte. "Retten Sie ihr Kind." sagte er, als wäre dies der einzige Grund, warum sie Feierabend machen durfte. Wahrscheinlich war das sogar der Fall. Die Leute von der nächsten Schicht waren nämlich noch nicht erschienen und die meisten anderen mussten an ihren Arbeits-Plätzen ausharren.

Ihre Füsse schmerzten jetzt schon von dem anstrengenden Tag, obwohl sie spezielle Pumps hatte, die normalerweise auch langes Stehen erlaubten. Dennoch musste sie sich jetzt wohl zu Fuss auf den Weg machen, denn sie hatte inzwischen von mehreren Gästen gehört, dass alle öffentlichen Verkehrsmittel ausser Betrieb waren und dass sich in der U-Bahn schreckliche Szenen zugetragen hätten. Sie zog sich noch schnell ihre normalen Freizeitklamotten an, um in der Menge nicht so aufzufallen und machte sich auf den Weg. Wie gut, dass die Kindergruppe von Anna nur drei U-Bahnstationen entfernt lag.

Auf der Strasse angekommen, stockte ihr jedoch der Atem. Alles wirkte so anders als sonst. Manche Leute irrten mit verstörtem Blick ziellos umher, andere strömten schwer bepackt aus den Geschäften und eilten im Laufschritt davon. "Plünderer?" fragte sich Ronja. Eine Gruppe Jugendlicher mit Messern in den Händen pöbelte sie frech an und machte sich dann, als Ronja nicht reagierte über einen der Plünderer her und entwanden ihm sein frischerbeutetes Hifi-Gerät. Ronja beschleunigte ihre Schritte ein wenig, aber nur nicht zu sehr, um nicht aufzufallen. Sie bemerkte dann auch viele andere, die wie sie, mit starrem Blick zügig voranschritten. Insgesamt waren die Wege völlig überfüllt. Wahrscheinlich weil so viele zu Fuss unterwegs waren, die sonst die U-Bahn oder Busse genommen hätten.

Die Strasse selbst stand voll mit stehengebliebenen Autos, die teilweise ineinander verkeilt waren. Von den Besitzern war nichts mehr zu sehen. Ein Durchkommen wäre selbst mit einem funktionierenden Auto unmöglich gewesen.

Nach einer guten halben Stunde kam sie endlich bei der Kindertagesstätte an, wo sie schon sehnsüchtig von ihrer unruhig vor der Tür auf und abhüpfenden Tochter erwartet wurde. Der Betreuerin schien es ähnlich zu gehen, denn sie atmete erleichtert auf, als sie Ronja erblickte. Anna sprang Ronja förmlich auf den Arm und kuschelte sich an sie und die Betreuerin sagte: "Es war schrecklich mit dem Strom- und Wasserausfall. Das reinste Chaos. Wenn morgen immernoch der Strom fehlt, bleibt die Kindergruppe geschlossen. Das gleiche gilt wohl auch für die Schule."

Das war gar keine gute Nachricht, denn wo sollte Anna dann am nächsten Tag hin? Ronja beschloss, sich erst Sorgen darüber zu machen, wenn sie heil zuhause angekommen war.

Zuerst stand der Marsch nachhause auf dem Plan und Anna war jetzt schon quengelig. Also verabschiedete sich Ronja von der Betreuerin, die froh war, einen ihrer verbliebenen Schützlinge untergebracht zu haben und sich gleich den anderen Kindern zuwandte.

Dann setzte sich Ronja erstmal auf den Bordstein und nahm Anna auf den Schoss. Zur Aufmunterung gab es einen der heissbegehrten Notfallbonbons aus Ronjas Handtasche. Und dann erklärte Ronja Anna, dass sie zu Fuss nachhause gehen müssten, was auf sehr wenig Gegenliebe stiess.

Um zügig voranzukommen, nahm Ronja die kleine Hand von Anna fest in die ihre und zog sie gleichsam die Strasse entlang. Anna musste sich natürlich immerwieder umdrehen und die ungewohnten Szenen anschauen. Ein paar Strassen weiter, in einem kleinen Wohn- und Geschäftsviertel sahen sie den ersten Toten auf dem Gehweg liegen. Er hatte ein Messer im Bauch stecken und in weitem Umkreis war das Pflaster blutgetränkt.

"Mama, was hat der Mann? Mama, ich will da hingehen! Mama, wir müssen ihm helfen!" drängelte Anna, ständig lauter werdend und an der hand zerrend. Ronja beugte sich runter und raunte Anna leise ins Ohr "Wir können dem armen Mann nicht helfen. Bitte bleib ruhig und lauf tapfer weiter. Bitte! Das ist diesmal sehr wichtig!". Mit angstgeweiteten Augen schaute Anna ihre Mutter an und schluckte tapfer. So sprach Ronja sonst nie zu ihr.

Ronja hoffte, dass Anna nicht die ganze Tragweite verstanden hatte, die der Anblick des toten Mannes bedeutete. Wahrscheinlich hatte sie nichtmal begriffen, dass der Mann tot war. Sie hatte aber mit Sicherheit begriffen, dass die ihr bekannte Welt zerbrochen war. Das konnte man dem kleinen Gesicht auch ansehen.

Als sie an einer wild aussehenden Gruppe junger Männer vorbeigehen mussten, stiess Ronja ein Stossgebet aus und sie hatten Glück. Keiner tat ihnen was. Ein paar dumme Sprüche und schräge Pfiffe war sie schliesslich gewohnt.

An einigen Stellen machte sie lieber einen Umweg, als sich durch die Menschenmengen zu drängen, die sie zunehmend als Gefahr sah. Der Weg wurde also deutlich länger, als die fünf U-Bahnstationen-Entfernung vermuten liess. Als sie sich ihrem Wohnviertel näherten, wurde es schon langsam dunkel. Anna wollte getragen werden und setzte sich weinend auf die Strasse, als Ronja sie zum Weiterlaufen ermuntern wollte. Also nahm Ronja die Kleine auf den Arm und schleppte sich weiter in Richtung zuhause.

Nach einer weiteren endlos erscheinenden Ewigkeit erreichten sie endlich im letzten Tageslicht ihren Wohnblock. Die Strassenbeleuchtung war natürlich nicht an und auch ihr Wohnblock starrte sie aus dunklen Fensterhöhlen an. Noch zu Fuss in den 5. Stock. Anna wurde immer schwerer und war beim besten Willen nicht dazu zu bewegen, die Treppen selbst hochzusteigen. Stattdessen quengelte sie, dass sie lieber den Aufzug benutzen würde. Ronja hoffte, dass Anna sich wieder ein bisschen fangen würde, wenn sie erstmal zuhause wären.

Als Ronja die Wohnungstür öffnete, was im Dunkeln gar nicht so einfach war, fiel ihr Blick zuerst auf mehrere leere Jogurtbecher, die vergessen auf dem Tisch standen und im Licht der Abenddämmerung leuchteten. Sie fragte sich, wie Nanni wohl den Tag erlebt hatte. Auf die Antwort brauchte sie nicht lange warten, denn kaum waren Ronja und Anna im Wohnzimmer angekommen kam Nanni verschlafen aus ihrem Zimmer und fragte: "Was ist denn hier los? Warum steht ihr hier im Dunkeln? Heute früh bin ich aufgestanden, da war alles ausgefallen: Fernseher, Radio, Kaffeemaschine. Da hab ich ein paar Jogurts gegessen und hab mich wieder hingelegt, weil die Uhr erst auf kurz vor halb zehn stand. Ist jetzt immernoch alles ausgefallen?". Ronja sagte: "Lass uns erstmal ankommen. Wir sind durch die Hölle gegangen. Zünd doch mal eine Kerze an, ich mach Anna erstmal was zu essen." Anna hatte sich inzwischen aus Ronja Armen geschält und hatte es sich am Küchentisch bequem gemacht. Zufrieden nahm sie ihr Müsli in Empfang und fing an, es in sich reinzumümmeln.

Während Ronja die erstaunte Nanni über die Katastrophen-Situation informierte, blickte Anna plötzlich wie alarmiert auf und platzte raus: "Und da war ein Mann, der war voller Blut und der lag ganz komisch auf dem Boden. Aber Ronja wollte ihm nicht helfen." Ronja sagte "ja, das war schrecklich.", um das Thema nicht weiter zu vertiefen und Anna nicht noch mehr zu erschrecken. Nanni begriff allmählich, dass der kleine empörende Ausfall des Fernsehers nur Teil eines viel grösseren Ausfalls war und griff sich an die Stirn. "Und ich Esel hab nix davon mitgekriegt. Da ist einmal die grosse Action im Gange und ich verschlaf den ganzen Tag, weil ich denke es ist immernoch halb zehn." "Was meinst du mit Action?" fragte Ronja. "Nun, da ist doch wirklich was losgewesen, wie du gesagt hast. Wie im Fernsehen. Das muss man sich doch angucken. Ich werd gleich mal auf die Piste gehen. Um zehn ist auch noch ein Konzert im Hang-Out. Da wollte ich sowieso hin."

Bevor Ronja Einwände erheben konnte, sprang Nanni auf und hastete ins Bad. "Warum geht denn hier das blöde Licht nicht?" tönte ihre Stimme aus dem Badezimmer. Sie hatte wohl kaum was davon kapiert, worum es eigentlich ging. Ronja ging zu ihr ins Bad, bevor Nanni im Dunkeln was zerschlagen konnte und versuchte nochmal, ihr die Situation zu erklären und ihr das Abenteuer auf der Piste auszureden. Im Endeffekt wirkte ihre Predigt erst, als sie nachdrücklich darauf beharrte, dass Nanni ermordet werden würde, wenn sie sich auf die Strasse wagen würde. Nanni starrte sie entsetzt an "Das meinst du ernst, nicht wahr? Das Ganze ist kein Spass?". Ronja nickte "Ja, genau so ist es.".

Nanni liess sich nicht lange betrüben, eilte zurück ins Wohnzimmer und schnappte sich die volle Gieskanne und sagte "Dann werd ich mich mal ein bisschen nützlich machen.". "Stop!" rief Ronja gerade noch rechtzeitig "Das Wasser brauchen wir noch für andere Zwecke. Stell die Giesskanne wieder hin." Nanni blickte die Gieskanne in ihrer Hand nachdenklich an und stellte sie dann wieder aufs Regal.

Man musste Nanni zugute halten, dass sie eigentlich ein wirklich lieber Kerl war. Eine gute Freundin für ein Schwätzchen, die immer Zeit für einen hatte, die die Wohnung lebendig hielt, während Ronja im Hotel war, obwohl Nannis Lebendigkeit von bösen Zungen auch "Chaos" oder "Unordnung" genannt wurde. Ausserdem kümmerte sie sich Samstags um Anna, wenn die Kindergruppe geschlossen hatte und Ronja den ganzen Tag arbeiten musste. An diesen Tagen war Anna zwar nicht unbedingt sicher und pädagogisch wertvoll untergebracht, aber die beiden hatten meistens viel Spass miteinander. Da die schöne Dreizimmer-Wohnung für Ronja alleine zu teuer gewesen war und sie ausserdem jemand brauchte, der sie bei ihrer Alleinerziehenden-Aufgabe unterstützte (vor allem eben Samstags), war sie auf die Idee gekommen, ihrer alten Freundin Nanni ein Zimmer zur Untermiete anzubieten. Nanni war irgendwie durchs Raster gefallen und hatte es nie geschafft, einen Job zu bekommen, was ihre Chancen immer weiter verschlechtert hatte.

Mit der Zusammen-Wohn-Lösung waren alle zufrieden. Das Bürger-Amt, weil es einen hoffnungslosen Fall gut untergebracht hatte und die Zimmermiete billiger, als ein ganzes Appartment war. Nanni, weil sie den sozialen Brennpunkten entkam, Ronja, weil Nanni ihr trotz allem irgendwie zur Seite stand und Anna, weil sie eine unbeschwerte albernde Zweitmutter hatte, die nicht so oft sorgenvoll oder gestresst in die Welt blickte.

Nach dem Essen wollte Anna unbedingt "Singen mit Kiki" im Fernsehen schauen. Schliesslich sollte hier zuhause die Welt in Ordnung sein, wenn es tagsüber schon so schräg gelaufen war. Trotz aller Erklärungen glaubte sie nicht, dass der Fernseher kaputt sei; erst als sie es selbst versucht hatte (fünf Mal), gab sie auf. Sie schrie dann ein paar Minuten sehr weinerlich "Ich will aber Kiki, ich will aber Kiki, ich will aber Kiki." Dabei schlug sie auf Ronja ein, ohne zu merken, was sie da eigentlich tat.

Nanni griff sich die Fernbedienung, drapierte sich ein Stück Küchentuch auf den Kopf und fing an zu singen. Anna war sofort still und riss die Augen auf. Nanni hielt ihr die Fernbedienung des Videorekorders und ein zweites Küchentuch hin und forderte sie hüftschwingend auf mitzumachen. Da standen sie dann mit ihren Fernbedienungen in der Hand und sangen aus voller Kehle die neuesten Hits. Nanni sang gar nicht mal schlecht. Um nicht zu sagen, sie sang eigentlich richtig gut, vor allem im Vergleich zu manchem Sangesstar. Und es kam Stimmung auf. Beim zweiten Hit stand auch Ronja auf und schloss sich den beiden Sängerinnen an. Zehn Minuten später waren alle erschöpft und gut gelaunt.

Diese gute Laune nutzte Ronja, um Anna bei Kerzenschein ins Bad zu bugsieren und ihr mit einem Rest Mineralwasser eine Katzenwäsche samt Zähneputzen angedeihen zu lassen. Anschliessend wollte Anna aber auf keinen Fall alleine ins Bett und so durfte sie ausnahmsweise auf dem Sofa einschlafen, angekuschelt an ihre Mutter. Nach wenigen Minuten waren tiefe ruhige Atemzüge zu hören.

"Danke" sagte Ronja, "damit hast du den Abend gerettet. Woher kannst du denn so gut singen?". "In meiner Jugend wollte ich mal Superstar werden und da habe ich mich bei Castings schon ziemlich hochgearbeitet. Aber ausser hartem Training und aufregenden Zeiten ist davon nichts geblieben. Und Superstar wurden immer Andere." Nanni zuckte mit den Achseln.

Bei Kerzenschein und einem Gläschen Wein liessen sie den Abend ausklingen und unterhielten sich noch über den ereignisreichen Tag. Nanni erwartete fest, dass am nächsten Tag wieder alles normal sei und Ronja hoffte das auch von ganzem Herzen. Aber einige Details der Katastrophe liessen sie befürchten, dass dies erst der Anfang gewesen war.

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