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Die Virenjägerin

Kapitel 9


  
"Oh je, das klingt gar nicht gut. Ohne Lebensmittel bekommen wir hier nach kurzer Zeit Hunger und wenn die Quarantäne erst mal greift, wird es nicht so einfach, an Nahrungsmittel ran zu kommen", Martin knetete sein Kinn und schaute Iris sorgenvoll an.

"Dann sollte ich vielleicht einkaufen gehen."

"Einerseits ja, andererseits hast du dich ja dem Erreger ausgesetzt, was immer auch der Erreger sein mag."

"Du meinst, ich bin verseucht?"

"Genau!"

"Mist, das habe ich völlig übersehen. Logisch bin ich verseucht. Aber wie kommen wir dann an Nahrungsmittel? Wir hatten ja alle Kontakt zu Siegfried."

"Wenn du gründlich duschst, dich umziehst und eine Maske aufsetzt, dürfte es gehen. Aber du solltest möglichst viel Abstand zu anderen Menschen halten."

"Hm, das klingt nicht nach einer sicheren Lösung. Aber es ist wohl unsere einzige Möglichkeit. Schreibt mal auf ihr beiden, was ich einkaufen soll, solange ich dusche."

Iris suchte Ersatzkleidungsstücke zusammen und verzog sich in die enge Duschkabine. Dort seifte sie sich von Kopf bis Fuß gründlich ein. Die Vorstellung, dass die unbekannten Krankheitserreger schon auf ihr Platz genommen hatten, war ihr unheimlich. Daher wiederholte Iris die Einseifung mehrmals. Nach dem Duschen spülte sie ihren Mund mit einem antibakteriellen Mundwasser und gurgelte bis ihr die Flüssigkeit fast in den Hals rann.

Anstelle ihres Pullovers warf sie sich einen sauberen Laborkittel über, den sie im Schrank gefunden hatte. Für ihre Hose hatte sie jedoch keinen Ersatz entdeckt. Am besten fahre ich zuerst noch mal zu Hause vorbei und packe ein paar Klamotten ein. Wie gut, dass wir hier wenigstens eine Waschmaschine haben und dass die noch nicht abgeholt wurde. Was man bei so einer drohenden Quarantäne alles beachten muss.

Martin und Igor hatten eine umfangreiche Einkaufsliste zusammengestellt. Iris überflog den Zettel und runzelte die Stirn.

"Dass ihr viele Fertiggerichte aufgeschrieben habt, wundert mich ja nicht und auch Butterkekse sind wohl sinnvoll. Aber was wollen wir mit Babybrei? Und diese Powergels sind doch eher alberner Schnickschnack für Sportler."

"Babybrei ist wunderbar geeignet, wenn man Kranke füttern muss. Oder willst du Siegfried ein Schnitzel einflößen, wenn er mal wieder die Augen aufmacht?" Martin grinste.

"Oh, du hast Recht! Und das Powergel ist bestimmt für den Fall gedacht, dass wir auch krank werden und uns selbst mit einem Griff etwas zu essen schnappen müssen. Oh Gott, ich hoffe ja, dass es nicht soweit kommt."

"Und wie willst du das verhindern, bei einem unbekannten Erreger, der rapide um sich greift?"

"Wart nur ab. Mir fällt bestimmt etwas ein. Spaß beiseite: ich weiß gar nicht, ob ich daran so ausgiebig denken will. Aber du hast natürlich schon wieder Recht. Es ist wichtig, das einzuplanen."

"Gut erkannt. Also, hier habe ich noch ein Rezept aufgeschrieben mit Medikamentenvorräten. Außerdem wäre es sehr nett, wenn du kurz bei mir vorbeifährst und meinen Kleiderschrank plünderst. Eine Reisetasche steht neben dem Schrank."

"Ok, mache ich. Das wird ja die reinste Tournee. Wie gut, dass mein Taxi einen großen Kofferraum hat. Was mir gerade noch einfällt: Diese Papiere sind doch jetzt potentiell auch verseucht, oder?"

"Stimmt. Legen wir sie einfach für ein paar Minuten in die Mikrowelle. Das dürfte die schlimmste Gefahr abwenden. Am sichersten wäre es natürlich, wenn wir unser Labor gar nicht mehr verlassen würden, aber wer versorgt uns dann?"

Richtig wohl war Iris nicht zumute, als sie das Firmengebäude verließ und in ihr Auto stieg. Siegfrieds Krankheit schien ihr wie ein Schreckgespenst, das über ihr schwebte und sie auf ihre Einkaufstour begleitete. Die Gesichtsmaske, die sie beim Verlassen des Hauses aufgesetzt hatte, drückte unangenehm auf ihre Nasenwurzel und das Atmen durch das kleine Ventil fiel Iris schwer. Wahrscheinlich wäre ein Vollanzug, ähnlich wie wir ihn im Unterdruckraum benutzen, die richtige Bekleidung für meine Mission. Aber dann würden die Menschen schreiend davonlaufen. Außerdem haben wir gar keinen solchen Anzug für den Außeneinsatz. Hoffen wir mal, dass unsere Vorsichtsmaßnahmen ausreichen. Am besten, ich fahre zuerst nach Hause und dusche noch mal, bevor ich mir neue Klamotten anziehe.

Zuhause war Iris unsicher, ob sie zuerst duschen oder vorher nach Kleidungstücken suchen sollte. Sie entschied sich, mit dem Duschen anzufangen. Krebsrot vom heißen Wasser entstieg sie schließlich der Dusche und warf hastig bequeme Kleidungsstücke in eine Tasche. Erst dann zog sie sich saubere Klamotten über. Zuletzt nahm sie noch ihren Laborkittel vom Haken und stopfte ihn in die Tasche, die sich kaum noch schließen ließ.

Als nächstes fuhr Iris zu Martins Wohnung und holte den Wohnungsschlüssel aus ihrer Handtasche. Sie fühlte sich wie ein Einbrecher als sie die fremde Wohnung betrat. Doch sie überwand ihre Skrupel und öffnete eine Zimmertür nach der anderen, bis sie Martins Schlafzimmer fand. Dort füllte sie die angekündigte Reisetasche mit Kleidung.

Bis zu diesem Moment war Iris keinem Menschen persönlich begegnet, doch jetzt musste sie in die Apotheke gehen. Mit ihrer Maske fühlte sie sich wie eine Aussätzige und fürchtete, dass die Apothekenhelferin sie aus der Apotheke jagen würde.

Aber sie hatte Glück. Die Frau hinter dem Tresen betrachtete Iris zwar etwas irritiert, aber das umfangreiche Rezept brachte sie noch viel mehr aus dem Konzept.

"Da muss ich aber erst mal schauen, ob wir das alles da haben. Ist das für ein Krankenhaus?"

"Ja, für ein Krankenhaus", Iris spürte ihr Herz schnell schlagen angesichts dieser Notlüge. Ich kann ihr ja schlecht alle Details erklären. Und irgendwie sind wir ja zur Zeit eine Art Krankenhaus, wenn auch nur mit einem Patienten. Sogar mit zwei Ärzten, obwohl ich mich so unsicher fühle, dass ich eigentlich kaum zähle. Hoffentlich hat sie alles da.

"Tut mir leid, von dem Antibiotikum habe ich nicht die volle Menge und auch vom fiebersenkenden Mittel muss ich einen Teil nachbestellen. Soll ich Ihnen die vorhandenen Medikamente schon mal einpacken oder wollen Sie später alles auf einmal mitnehmen?" die Apothekenhelferin stapelte etliche Schachteln auf ihren Tisch.

"Bitte alles einpacken, was Sie da haben. Die nachbestellten Mittel hole ich dann in den nächsten Tagen ab."

Iris zückte ihre Kreditkarte und beglich den erschreckend hohen Betrag. Das riss ein schmerzhaftes Loch in ihr Finanzpolster. Vielleicht beteiligt sich Martin ja an den Kosten. Oder Siegfried soll das zahlen, wenn der wieder fit ist. Der ist schließlich reich ohne Ende. So, und jetzt kommt der Großeinkauf.

Schon auf dem Supermarktparkplatz wurde Iris angestarrt, als wäre sie eine Außerirdische. Die Menschen, an denen Iris vorbeiging, wichen reflexartig ein Stück zurück, was es Iris erleichterte, engen Kontakt zu vermeiden. Wenn ich da an Asien denke: da rennen die Leute ständig mit Mundschutz durch die Gegend. Aber hier gilt das ja geradezu als makaber. Wenn diese Seuche um sich greift, werden Schutzmasken aber bestimmt bald zum Alltagsbild gehören. Drollig! Hier laufe ich rum wie eine Art Karikatur aus der nahen Zukunft.

Auch im Laden wichen die Kunden Iris argwöhnisch aus, was sie einerseits erleichterte, denn sie wollte auf keinen Fall irgendjemand infizieren. Andererseits fühlte es sich unangenehm an, so gemieden zu werden.

Regal für Regal graste Iris ab und bald türmten sich Dosen, Fertiggerichte, Salamis, Kekse, Kaffee, Milchpulver und der bestellte Babybrei in ihrem Einkaufswagen. Iris stand gerade bei den Nudelgerichten und überlegte, ob sie noch mehr als die bereits eingepackten zehn Tüten in den Wagen werfen sollte, als sie bemerkte, wie eine andere Kundin ihr zuschaute und ihrerseits Nudelgerichte in ihren Wagen lud. Unterwegs fiel Iris auf, dass weitere Kunden sich anscheinend von ihr hatten inspirieren lassen, größere Mengen Vorräte einzukaufen. Ein Mann schielte ganz offen in Iris Wagen und packte dann auch Breipulver ein.

Ob das jetzt gut ist, dass mir die anderen Kunden nacheifern? Oder bringe ich sie nur auf dumme Gedanken mit meiner maskierten Einkauferei? Egal! Schließlich ist es deren Sache, was sie einkaufen. Ich habe sie ja nicht dazu genötigt.

Den unteren Teil des Wagen belud Iris mit Getränken, vor allem stillem Mineralwasser. Dann warf sie noch zwei Pakete Toilettenpapier und Küchentücher auf den Berg, der sich inzwischen in ihrem Wagen türmte. Der Weg zur Kasse glich einem Balanceakt, denn die sperrigen Packungen drohten ständig, herunter zu gleiten. Auch hier bezahlte Iris mit ihrer Karte, denn auf solche Großeinkäufe waren ihre Bargeldbestände nicht vorbereitet.

Das Taxi platzte fast aus allen Nähten, als Iris endlich ihre gesamten Einkäufe eingeladen hatte. Hoffentlich reicht das alles lange genug, um diese Krise zu überstehen. Mehr könnte ich jetzt sowieso nicht ankarren. Wie lange es wohl dauern wird? Ob wir wohl alle krank werden?

Zuerst kam Iris zügig voran, doch plötzlich stand sie in einem Stau, der kaum vorwärts kam. Sie schaltete ihren Taxifunk an, in der Hoffnung, Informationen über die Verzögerung zu erhalten. Außerdem aktivierte sie ihr Radio. Zuerst wurde ein aktueller Hit gespielt. Doch dann kam eine Nachrichtenmeldung.

"In Berlin wurde eine Quarantäne verhängt. Grund dafür ist das massive Auftreten von Lungenentzündungen. Bleiben Sie zuhause und vermeiden Sie Kontakt zu anderen Menschen. Der Verkehr wird umgeleitet. Nach dem nächsten Song erfahren Sie weitere Informationen über die Epidemie."

Aha, jetzt wird es also offiziell. Das ging ja richtig flott. Da muss die reinste Hölle los sein, wenn die so schnell reagieren. Mal sehen, was die noch zu berichten haben.

"Überall in Europa wird von Krankheitsfällen berichtet. Die Bundesregierung ist zu einer Sondersitzung zusammengetreten. Kenner der Materie rechnen damit, dass der Notstand ausgerufen wird. Hier kommt gerade eine Meldung rein, dass es auch in den USA Fälle von Lungenentzündung gibt. Wir halten Sie auf dem Laufenden. Bleiben Sie dran!"

Das ist ja der reinste Dominoeffekt. Ob diese Epidemie etwas mit den Lungenentzündungen vor vier Wochen zu tun hat? Wäre ja merkwürdig, denn das ist ja schon richtig lange her. Und wie kann sich sowas so schnell weltweit verbreiten? Richtig unheimlich, das. Und hier hocke ich nun, und komme nicht weiter.

Iris kramte ihr Handy aus der Tasche und stellte zu ihrem Ensetzen fest, dass der Akku mal wieder leer war. Wofür schleppe ich das blöde Ding überhaupt mit rum, wenn ich immer vergesse, es aufzuladen. Ich bin ein echter Esel! Und jetzt sitzen Martin und Igor im Büro auf heißen Kohlen und fragen sich, wo ich bleibe.

Eine Stunde später war Iris gerade einmal fünfhundert Meter weiter gekommen. Alle paar Minuten hörte sie neue Schauermeldungen über Lungenentzündungsfälle. Über den Taxifunk erfuhr sie, dass alle Straßen der Stadt verstopft waren, auch die kleinen Nebenstraßen. An eine Abkürzung war also nicht zu denken.

Dann endlich, nach zwei Stunden, näherte sie sich dem Ende des Staus. Schon von Weitem konnte sie Männer in Uniform sehen, die mit den Fahrern der Autos redeten. Fast alle Autos wendeten anschließend und fuhren zurück in Richtung Stadt. Nur wenige Autos fuhren weiter stadtauswärts. Je näher Iris den Posten kam, desto heftiger schlug ihr Herz. Schließlich war sie an der Reihe und ein Mann beugte sich zu ihrem geöffneten Fenster herab.

"Guten Tag junge Frau. Hier dürfen Sie nicht weiterfahren. Und als Taxifahrerin sind Sie ab sofort verpflichtet, Krankentransporte zu übernehmen. Der Notstand wurde ausgerufen. Wenden Sie und fahren Sie dort hinten auf den Parkplatz, um weitere Anweisungen zu erhalten."

Die Virenjägerin

Expeditionen ins Reich der Seuchen
von Johannes W. Grüntzig, Heinz Mehlhorn

Vollautomatisch
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Die Virenjägerin
Die Virenjägerin

208 Seiten
ISBN 3-938764-02-3

Preis: 14.80 Euro

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