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Die Virenjägerin

Kapitel 29


  
Durch Yakups Ankunft war Iris so aufgekratzt, dass sie immerzu um ihn herumspringen musste. Beim Frühstück stand sie ständig auf, um noch einen Toast in den Toaster zu schieben, etwas Käse zu holen, nach Honig zu schauen und Kaffee nachzuschenken, aber eigentlich dienten all diese kleinen Aktionen dazu, die aufgestaute Energie abzureagieren.

Auch Yakup wirkte wie aufgezogen. Auf Iris Drängen hin erzählte er von seinen Erlebnissen auf der Irrfahrt durch den Balkan. Gestenreich schilderte er seine Fahrt mit dem Laster, der mit ihm zuerst fast in den Abgrund gefahren wäre. Auch der Bericht von seiner Gefangennahme im Quarantänelager faszinierte seine Zuhörer. Iris sprang sofort auf, als sie die Geschichte von der Schlägerei hörte und kam mit einem Desinfektionsspray und einem Wundbehandlungsmittel wieder. Erst bei dieser Gelegenheit wurde Yakup bewusst, dass er wohl immernoch grün und blau geschlagen war und man ihm das auch ansehen konnte.

Nach dem ausgiebigen Frühstück nahm Yakup eine gründliche Dusche und kam kurz darauf deutlich erfrischt im Labor bei Iris und Erich an, die schon wieder an einer Verbesserung des Mittels tüftelten. Bevor sich Yakup der Arbeit anschloss, stattete er er zunächst Siegfried einen Krankenbesuch ab. Dann kam er breit grinsend ins Labor zurück.

"Was habt ihr denn da für ein Teufelszeug zusammengemischt? Siegfried lässt ja kein gutes Haar an den Nebenwirkungen des Mittels, aber er räumt dennoch ein, dass er ohne euer Gift wahrscheinlich nicht mehr leben würde. Daraus schließe ich, dass ihr schon ziemlich weit gekommen seid, liege ich da richtig?"

"Na ja", Iris wand sich sichtbar. "Siegfried hat schon recht, es ist ein übler Stoff, den wir ihm da gegeben haben. Aber Hauptsache er hilft und jetzt bist du ja hier, um das Mittel zu verfeinern."

"Hoffen wir mal, dass das auch gelingt. Am besten erklärt ihr mir mal alles, was ihr über den Virus wisst und welche Stoffe ihr entdeckt und welche anderen ihr verworfen habt."

Abwechselnd brachten Iris und Erich Yakup auf den aktuellen Stand des Wissens. Einige von Iris' Forschungsergebnissen waren auch für Erich neu, weil dessen Einführung sehr knapp gewesen war, und so lauschten sie streckenweise zu zweit dem, was Iris zu berichten hatte.

"Wacker geschlagen, meine Liebe!" Yakup schlug Iris anerkennend auf die Schulter. "Da hast du ja auch schon ohne unsere Unterstützung eine Menge geschafft. Dass du so gut bist, war mir gar nicht bewusst."

Iris spürte, wie sie rot anlief und wurde verlegen. Soll ich mich jetzt geschmeichelt fühlen oder beleidigt? Selbstverständlich bin ich gut, auch ohne die Hilfe von Yakup und anderen. Wie konnte er das übersehen? Ach was soll's? Er hat es bestimmt als Kompliment gemeint. Außerdem stört Ärger bei der Arbeit.

"Hallo ihr Drei, ich hoffe ich störe euch nicht", platzte Martin in die Einweisung der Neuankömmlinge.

"Ist schon in Ordnung", sagte Iris. "Was gibt es?"

"Die Charité hat bei mir angerufen. Denen sterben die Menschen weg wie Fliegen. Sie haben von unseren Forschungen gehört und wollen so schnell wie möglich ein Mittel haben, mit denen sie die schlimmsten Fälle retten können."

"Klar wollen die das, aber zur Zeit ist das Mittel noch nicht ausgereift. Du weißt ja selbst, was Siegfried davon hält", drückte Iris ihre Zweifel über den aktuellen Stand der Entwicklung aus. "Jetzt, wo Yakup da ist, können wir uns endlich an die eigentliche Arbeit machen, aber das dauert noch ein paar Tage, oder sogar länger."

"Dass unser jetziges Mittel nicht gerade toll ist, weiß ich selbst. Aber sollen jede Minute viele Menschen sterben, nur weil wir das Mittel weiter verfeinern wollen, bevor wir es rausgeben?"

"Oh je, du hast wohl Recht."

"Das sehe ich auch so. Der Leiter der Charité will jede Art von Mittel, egal wie schwer die Nebenwirkungen sind."

"Du meinst, wir sollten diese Vorstufe eines Prototypen schon herausgeben, damit kranke Menschen damit behandelt werden? Ist das nicht unethisch?"

"Im Gegenteil! Ich halte es für unethisch, den Schwerstkranken das Zeug zu verweigern. Wir werden es ja noch verbessern, aber können wir es verantworten, in der Zwischenzeit die Herausgabe zu abzulehnen?"

Erich schüttelte als Antwort mit dem Kopf, Yakup schloss sich ihm zögernd an und trotz Zweifel in den Augen stimmte schließlich auch Iris zu.

"Aber woher sollen wir die Grundstoffe nehmen?" fiel ihr anschließend ein.

"Woher wohl? Vom Pharmagroßhandel. Ich werde mal anrufen. Vielleicht können ja auch die Leute von der Charité etwas deichseln."

"Ok, kümmer dich darum. Wir nutzen die Zeit bis die Materialien kommen, um das Mittel zu verbessern."

Martin nickte und verließ den Raum. Iris erklärte die letzten Details ihrer Recherchen und dann begannen alle drei mit der eigentlichen Arbeit. Yakup startete eine Reihentestung mit verschiedenen Stoffen, Erich setzte neue Virenkulturen an und Iris stöberte weiter in den alten Protokollen und notierte Stoffe, die sie für potentiell interessant hielt. Yakup kopierte ihre Notizen von Zeit zu Zeit, um neue Tests zu beginnen.

Währenddessen erschien auch Igor, der Yakup erstaunlich herzlich begrüßte und dann wieder im Materialschrank rumräumte. Irgendwann schien er zufrieden und nahm Yakup beiseite. Iris konnte nur erkennen, wie Yakup mehrmals nickte und dann in emsige Aktivität ausbrach. Mehr und mehr Testschalen sammelten sich an. Nach der erforderlichen Wartezeit verteilte Yakup die Testergebnisse auf Objektträger und ließ sich von Iris und Erich bei der Auswertung helfen.

Igor hatte in der Zwischenzeit das Labor vorübergehend verlassen und kehrte mit einem neuen Gerät zurück. Das Gerät war groß und nahm fast den ganzen verbliebenen Platz des Labors ein. Die Montage des Gerätes war offenbar aufwendig, denn Igor kratzte sich ausgiebig am Kinn, bevor er sich hinter das Gerät quetschte.

Erich war wohl aufgefallen, wie rätselhaft das neue Gerät für Iris war und murmelte "Variations-Inkubator", was Iris mit einem verstehenden Lächeln quittierte. Dann wird diese aufwendige Handarbeit wohl bald automatisch ablaufen. Hoffentlich bringt es was.

Gerade hatte Iris noch einen weiteren vielversprechenden Stoff entdeckt, auch wieder ein Pflanzengift, da kam Martin zurück.

"In Kürze kommt ein Lieferant des Apothekengroßhandels und bringt die benötigten Stoffe. Wenn wir die Mischung zügig zusammenbauen, dann bringt der Lieferant sie auch gleich zur Charité".

"Wunderbar", sagte Iris. "Ob der auch noch einen weiteren Stoff mitbringen könnte? Ich habe hier gerade noch etwas entdeckt."

"Ich ruf mal an und frage nach. Gib mir mal die genaue Spezifikation des Stoffes."

Iris zeigte Martin die Information am Bildschirm und er notierte sie sich auf einen Zettel. Dann verließ er das Labor, wohl um in Ruhe telefonieren zu können. Nach wenigen Minuten kam er zurück.

"Leider meldet sich keiner mehr. Vielleicht sind die schon unterwegs. Bei denen scheint sowieso extremer Notbetrieb zu herrschen. Ich konnte nur einen Auszubildenden sprechen."

Mühsam verkniff sich Iris einen Kommentar, dachte sich aber, dass es nicht gerade vertrauenerweckend klang, wenn bei dem wichtigen Apothekengroßhändler nur noch ein Lehrling aktiv war. Die Entwicklungsarbeit nahm sie jedoch so sehr in Beschlag, dass sie den Großhändler und die Vorabproduktion eines Mittels schnell wieder vergaß.

Daher erschrak Iris auch, als es klingelte. Sie hörte, wie Martin zur Eingangstür eilte und sie öffnete. Ein kurzer Wortwechsel folgte, den Iris aber nicht verstand. Die Tür zum Labor wurde aufgerissen.

Martin rief: "Yakup und Erich, könnt ihr mal anpacken kommen?"

"Sind die Material-Säcke so schwer?" fragte Yakup grinsend.

"Nein, die nicht. Der Hausmeister des Großhändlers wurde unterwegs angegriffen und schwer verletzt. Er ist bewusstlos. Und der Auszubildende sieht auch kaum besser aus als du Yakup."

Die Männer eilten nach draußen und zogen den verletzten Hausmeister aus dem Lieferwagen. Iris ging hinterher und nahm von dem jungen Lehrling, der ziemlich verstört wirkte, zwei Beutel entgegen.

"Das ist alles, was wir von den angeforderten Stoffen auf Lager hatten. Tut mir leid!"

"Besser als gar nichts. Machen Sie sich keine Sorgen. Wenn wir drinnen sind, werde ich Sie verbinden, dann lässt auch der Schmerz nach."

"Ja, danke, aber jetzt helfe ich erstmal, meinen Kollegen nach drinnen zu tragen. Wie wild der die Ganoven attackiert hat! Das hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Die wollten uns ausrauben."

"Haben Sie gut gemacht", Iris nickte dem jungen Mann aufmunternd zu und ging mit den Beuteln ins Labor.

Von dort aus verfolgte sie, wie der stöhnende Hausmeister reingeschleppt wurde. Martin ließ ihn auf sein eigenes Feldbett legen und begann sofort mit der Untersuchung. Nach kurzer Zeit kam der Hausmeister wieder zu Bewusstsein. Anscheinend war er zwar kräftig zusamengeschlagen worden, hatte aber keinen größeren Schaden erlitten. Auch der Auszubildende war nicht ernsthaft verletzt, aber er ließ es sich gerne gefallen, von Iris verpflastert zu werden.

Während die tapferen Gäste in der Küche mit einem Kaffee aufgepäppelt wurden, besah sich Iris die angelieferten Beutel. Die Tüte mit dem starken Pflanzengift enthielt nur zwei Kilo und der schwächere Stoff immerhin fünf Kilo. Für eine kleine Kostprobe der Medizin würde das reichen, aber wenn das sämtliche verfügbaren Rohstoffe im weiten Umkreis waren, dann sah Iris für die Rettung der Menschen schwarz.

Igor kam hinter dem neuen Gerät hervor und besah sich die spärliche Lieferung.

"Hm", sagte Igor, wie Iris kaum anders erwartet hätte.

Doch ein Schmunzeln in Igors Augen verhieß Hoffnung. Daher wunderte Iris sich auch nicht, dass Igor anschließend mit Erich redete, sogar wortreich redete, wenn auch großteils auf russisch, und Erich danach telefonierte.

Aber egal was Igor und Erich mal wieder ausheckten, erstmal mussten die wenigen Materialien ausreichen.

Zusammen mit Yakup pulverisierte Iris die Substanzen so fein wir möglich und vermischte sie. Dann ging sie mit der Pulvermischung in die Küche, wo die Lieferanten des Großhändlers immer noch warteten.

Schwungvoll stellte Iris das Gefäß mit dem Pulver vor dem Auszubildenden auf den Tisch.

Igor knurrte "Hm!" und Erich sagte: "Halt! Das Drittel!"

Verwirrt blickte Iris die beiden an und dann verstand sie. Auch wenn das Mittel noch nicht ausgereift war, war dies dennoch ihre erste Lieferung und sie hatten versprochen, von allen Medikamenten ein Drittel abzugeben.

Schließlich entnahm Iris dem Pulvergefäß nicht nur ein Drittel für die unbekannten Freunde, sondern auch einen Grundbestand um Siegfried zu behandeln und für die ganze Laborbelegschaft zur Vorbeugung, denn Erich hatte seine Prophylaxebehandlung offensichtlich ohne großen Schaden überstanden. Dann stellte Iris das deutlich leerer gewordene Gefäß wieder vor den jungen Mann.

"Wagen Sie es denn überhaupt, wieder in die Wildnis der Stadt zu fahren?" fragte Iris besorgt.

"Was bleibt uns anderes übrig?" antwortete der Hausmeister, der sich wahrscheinlich schon auf die Zeit seiner Rente gefreut und nicht mehr mit solchen beruflichen Abenteuern gerechnet hatte.

"Auf diese Weise können wir wenigstens unseren Beitrag zur Rettung der Menschen leisten", der junge Mann warf sich in die Brust, wie er es wohl von einem Helden erwartete, der er beabsichtigte zu sein. Doch in seinen Augen glitzerte Angst, Angst, die Iris gut nachvollziehen konnte, nachdem sie die Straßenbanden selbst erlebt hatte.

Nachdem die Großhändler abgefahren waren, arbeiteten die Forscher weiter im Labor und testeten Stoff um Stoff. Am frühen Abend hatten sie sich für eine neue Kombination entschieden, die sie Siegfried zum Test anboten.

"Ihr seid wohl ganz froh, dass ihr mich als Versuchskaninchen habt. Was würdet ihr wohl sagen, wenn ich mich weigerte, euer Gift an mich ran zu lassen?" höhnte Siegfried, der schon wieder ziemlich munter wirkte.

"Pah, dann lass es doch bleiben! Testpersonen würden wir bestimmt zu tausenden bekommen", konterte Yakup. Erich und Iris stimmten ihm zu.

Siegfried inhalierte brav einen Teil der Mischung und schluckte den Rest. Zuerst war keine besondere Wirkung zu sehen, außer dass Siegfried immer noch genügend Kraft hatte, um über den schlechten Geschmack zu frotzeln.

Das Telefon klingelte mal wieder und Martin eilte ins Büro, um das Gespräch anzunehmen. Den Daumen nach oben gereckt kam er wieder zurück ins Krankenzimmer, wo alle ihn erwartungsvoll ansahen.

"Das war eben der Direktor der Charité. Sie haben das Mittel an den schlimmsten Fällen ausprobiert. Bisher ist keiner von ihnen gestorben, obwohl das ohne Mittel wahrscheinlich passiert wäre. Drei der Betroffenen zeigen deutliche Besserung und sind wieder ansprechbar, aber davon mussten sich zwei extrem stark übergeben. Dem dritten ist übel und er hat massive Kopfschmerzen. Insgesamt aber jetzt schon ein guter Erfolg."

"Gut, dann sollten wir schleunigst das Mittel verbessern!" freute sich Iris.

Die Virenjägerin

Expeditionen ins Reich der Seuchen
von Johannes W. Grüntzig, Heinz Mehlhorn

Vollautomatisch
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Die Virenjägerin
Die Virenjägerin

208 Seiten
ISBN 3-938764-02-3

Preis: 14.80 Euro

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