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Die Virenjägerin

Kapitel 26


  
"Nie wieder!" stöhnte Iris, als sie endlich im Labor ankam und die Tür nach einem Schubs mit dem Ellenbogen ins Schloss gefallen war. Iris ging in die Küche, um sich ihrer Last zu entledigen. Mit einem Rumms stellte sie die Vorratskiste auf die Arbeitsfläche. Die Tüte mit dem Toilettenpapier ließ sie zu Boden gleiten.

"Gut, dass du wieder hier bist! Ist alles gut gegangen?" fragte Martin, der in der Küche eine Kaffeepause machte.

"Wie man's nimmt. Ich lebe noch und habe sogar Beute mitgebracht", Iris ließ sich auf einen der Stühle sacken, seufzte und rieb mit dem Ärmel über ihre Stirn, um nicht vorhandenen Schweiß abzuwischen.

"Das klingt aber gar nicht gut. Was ist denn passiert?"

"Nicht viel mehr als das, wovor du mich gewarnt hattest. Keine offenen Geschäfte, Ausgangssperre und dazu noch marodierende Straßenbanden."

"Und du bist ihnen entkommen?"

"Na klar doch, auf heißen Reifen. Aber mulmig war mir schon bei der Sache."

"Wo hast du denn dann eigentlich die Einkäufe herbekommen, wenn alle Läden zu hatten?"

"Von Zuhause. Dort habe ich meinen Küchenschrank geplündert. Und in der Nachbarwohnung habe ich eine hungernde Familie entdeckt, das war schrecklich. Die haben sich nämlich kaum getraut, von mir ein paar Raviolis anzunehmen."

"Verständlich. Wahrscheinlich gibt es genausoviele Seuchenopfer, die durch die fehlende Versorgung sterben, wie echte Krankheitsopfer. Die staatlichen Stellen scheinen die Situation ja mitnichten im Griff zu haben - eigentlich kein Wunder, denn mit so einer schlimmen Situation konnten sie kaum rechnen."

"Stimmt, aber dass sie so sehr versagen, selbst in unserem zivilisierten Land, ist echt tragisch. Wo sie doch sonst immer tönen, dass sie auf alles vorbereitet sind und Seuchenpläne in der Schublade haben. Na ja, was solls? Um so wichtiger, dass wir bald ein Mittel entwickeln. Jetzt räume ich erst mal den Krempel ein."

"Ich habe übrigens einen Virologen aufgetrieben. Der kommt morgen früh und stellt sich vor."

"Sehr gut, das ging ja schnell. Da bin ich mal gespannt, ob der zu uns passt."

Den Rest des Tages konnte Iris sich nur schlecht auf ihre Arbeit konzentrieren. Die Protokolle ihrer früheren Experimente verschwammen ihr oft vor den Augen und wurden von Plündererhorden ersetzt, die sie verfolgten. Auch in der Nacht träumte Iris einen Verfolgungstraum nach dem anderen. Im Gegensatz zu ihren echten Erlebnissen hatte sie kein schnelles Auto dabei, sondern war zu Fuß und klebte förmlich auf dem Boden.

Am Morgen saß Iris mit Martin gerade beim Frühstück als es klingelte. Iris sah Martin fragend an.

"Das ist bestimmt der neue Virologe. Ich lass ihn mal rein", Martin stellte seine Tasse auf den Tisch, stand auf und ging zur Tür.

Iris hörte leise Begrüßungsworte, dann kam Martin zurück, gefolgt von einem hochgewachsenen Mann Ende Fünfzig.

"Willkommen, ich bin Iris und wie darf ich Sie nennen?"

"Nennen Sie mich Erich, einfach Erich", sagte der Ankömmling und fixierte Iris mit seinen eisblauen Augen für einen Moment, bevor er ihr die Hand schüttelte.

"Gut Erich, nehmen Sie doch Platz."

Erich wickelte seinen Wollschal vom Hals und hängte ihn über die Stuhllehne. Seine Winterjacke behielt er jedoch an als er sich setzte. Iris bot ihm Frühstück an, was Erich offensichtlich gerne annahm. Sein verkniffen wirkender Mund wurde etwas weicher, nachdem er ein paar Schlucke des Kaffees getrunken hatte und er entspannte sich sichtlich.

"Die reinste Oase haben Sie hier, inmitten all der Weltuntergangsstimmung überall. Und Sie sind es, die den Virus entdeckt haben?"

"Ja, wir hatten dieses Glück", sagte Iris und spürte, wie sie rot wurde. Warum läufst du denn jetzt rot an, du dumme Kuh? Ist doch toll, dass wir den Virus entdeckt haben. Das braucht mir doch nicht peinlich sein. Ganz im Gegenteil. Außerdem soll der Typ mit uns zusammen arbeiten, da wird er noch viel mehr über uns erfahren müssen, als diese Kleinigkeit. Ganz schön steifer Typ scheint der mir und eher in Igors Alter als in unserem. Hauptsache er hat was drauf und kann Siegfrieds Arbeit übernehmen.

Martin meldete sich zu Wort: "Jetzt arbeiten wir an einem Medikament gegen die Seuche, aber unser Virologe ist leider erkrankt. Daher haben wir uns mit Ihnen in Verbindung gesetzt."

"Ihr Virologe, hat er ...?" als Martin nickte, unterbrach sich Erich. "Das tut mir leid für ihn. Nun, ich hoffe, ich kann ihn würdig ersetzen. Mit der Entwicklung von Medikamenten habe ich einige Erfahrung. Haben Sie die gängigen Gerätschaften da?"

"Das meiste schon. Einige Geräte mussten wir leider vor einer Weile verkaufen, weil damals wichtige Finanziers abgesprungen sind. Aber wenn was fehlt, werden wir das beschaffen können. Die neue Situation hat alles verändert."

"Sie scheinen das hier alles gut im Griff zu haben. Wie kommt es, dass Sie nicht alle krank sind, wie die meisten Mediziner und Wissenschaftler?"

"Wir haben offensichtlich Glück im Unglück, denn eine oder mehrere der Substanzen, mit denen wir vorher geforscht hatten, wirken anscheinend als Mittel gegen den Erreger der Seuche. Wir wissen nur noch nicht welcher. Unser aktuelles Gegenmittel ist im Prinzip eine Verunreinigung durch unsere frühere Arbeit."

"Faszinierend!"

"Ja, finden wir auch. Wie kommt es, dass Sie nicht krank sind?"

"Nun, in meiner kleinen Wohnung in Strausberg habe ich nicht viel Kontakt - in letzter Zeit. Das hat mich wohl vor Ansteckung bewahrt. Wissen Sie, in meinem Alter ist man als Virologe kaum noch gefragt, zumindest war das bisher der Fall."

"Verstehe", Martin schien nicht weiter bohren zu wollen und auch Iris hatte den Eindruck, dass dieser Teil von Erichs Leben diesem nicht sehr behagte.

"Jetzt können wir Sie aber ganz dringend brauchen", sagte Iris möglichst munter. "Wollen Sie mal unsere Laborräume sehen?"

"Sehr gerne und dann können wir meinetwegen gleich mit der Arbeit beginnen."

Martin und Iris führten Erich von Raum zu Raum.

"Hier in diesem unbenutzten Büroraum können wir Ihnen ein Feldbett aufstellen, dann können Sie hier übernachten, so wie wir auch."

"Gute Idee! Sie wollen mich also haben?"

Iris und Martin wechselten einen kurzen Blick und nickten dann gleichzeitig.

"Gerne", sagte Martin. "Vielleicht sollten wir auch allmählich zum Du übergehen, denn wir dutzen und hier alle - zumindest wenn Ihnen, äh, dir das Recht ist."

"Ja, selbstverständlich! Also, ich bin der Erich, wie ihr ja schon wisst."

Mit kräftigen Handschlägen besiegelten die drei Erichs Aufnahme im Team. Schmunzelnd zog Erich seine Jacke aus und hängte sie über den Schreibtischstuhl in seinem künftigen Schlafzimmer. Es wirkte, als würde er das Zimmer mit dieser Geste in Besitz nehmen und seine Zugehörigkeit besiegeln. Von einem Augenblick zum anderen wirkte Erich mindestens fünf Jahre jünger.

Mit großem Interesse ließ sich Erich die Labore zeigen. Er stellte fachkundige Fragen und regte an, eine zusätzliche Zentrifuge anzuschaffen.

"Ein große Arbeitserleichterung wäre auch ein Variations-Inkubator, der würde uns mehrere Wochen Arbeit ersparen und dadurch wohl Millionen von Menschen das Leben retten, weil wir schneller fertig wären", schlug Erich vor.

"Was ist denn ein Variations-Inkubator?"

"Das ist ein hochmodernes Gerät, wurde in Russland entwickelt und ist noch nicht im normalen Laborgerätehandel erhältlich. Damit kann man vollautomatisch die Wirkung verschiedener Stoffe auf Krankheitserreger testen. Das läuft dann Tag und Nacht und erledigt die Arbeit von einem Dutzend Wissenschaftler."

"Das klingt ja phantastisch. Erschütternd, dass ich noch nichts von dem Gerät gehört habe."

"Bisher kennt kaum jemand diese Geräte. Bestimmt brütet ihr schon reichlich Viren aus, um genügend Testmaterial zu haben, oder?"

"Ja, sicher. Sie vermehren sich fleißig in der Nährlösung. Dort im Schutzraum wachsen sie in einem Brutschrank."

"Wunderbar!" Erichs Augen blitzten.

Mit jedem neuen Gerät, das Iris ihm vorstellte, schien er jedoch auch nachdenklicher zu werden. Schließlich ging er zurück zu der alten Zentrifuge und kratzte seine Schläfen bei ihrem Anblick.

"Igor?" fragte Erich beim Anblick der zusammengeschusterten Zentrifuge.

"Igor? Ja, Igor. Wie meinst du das?"

"Ich kenne nur einen, der die Anlagen so zusammenbaut."

"Stimmt, ich kenne auch nur einen, der das so hinfriemeln kann. Kennst du unseren Igor?"

"Wenn das der gleiche ist, der die Geräte repariert hat, dann kenne ich den, ja. Und wie ich den kenne!"

"Woher kennst du den Igor?"

"Wir haben gemeinsam in Moskau gearbeitet. Vorher haben wir uns auf einer kleinen Insel bei Tiksi kennengelernt."

"Tiksi? Nie gehört."

"Liegt auch etwas abseits. In Nordsibirien bei der schönen Lena. Da kommt Igor her, hat er euch das nicht erzählt?"

"Ne, er ist meistens eher einsilbig."

"Tja, der gute alte Igor, dann fehlt ihm wohl der Wodka und die Musik. Wo steckt er eigentlich, der Igor?"

"Der schläft noch. Vor zwölf kann man nicht mit ihm rechnen", Soviel habe ich in all den Jahren nicht von Igor erfahren, wie jetzt in dieser einen Minute. Die scheinen ja dicke Freunde zu sein.

"Ja, das ist er, ganz der Igor!"

Anscheinend hatte Igor die Gespräche gehört und vielleicht auch Erichs Stimme erkannt, denn er kam schlaftrunken angelaufen, obwohl es noch vor zehn Uhr war. Sein trüber Blick klarte sich zusehens auf, als er den Neuankömmling erkannte.

"Erich!"

"Igor!"

Die beiden Männer fielen sich in die Arme und klopften sich minutenlang gegenseitig auf den Rücken. Dann hielten sie sich auf Armlänge und sahen einander an. Igor begann zu singen - eine melancholisch klingende russische Weise. Erich stimmte mit ein und nach kurzer Zeit begannen die beiden zu tanzen.

Anscheinend haben sie ihre Umgebung vollständig vergessen. Die müssen jetzt bestimmt erstmal ihr Wiedersehen feiern, bevor einer von ihnen an die Arbeit gehen will. Iris verstand unter vielen russischen Worten den Begriff "Wodka", dann verzogen sich Igor und Erich in Igors Zimmer.

Martin grinste Iris an, dann kicherten beide. Später gingen sie an ihre Arbeit. Iris vermehrte die Viren, um genügend Testmaterial zu haben und stöberte ansonsten weiter in den Protokollen.

Zwischendrin fiel Iris ein, dass sie schon lange mal in dem Reisetagebuch stöbern wollte, um anhand der neuen Erkenntnisse den damaligen Ansteckungsort zu entdecken. Bisher hatte sie immer nach einer Infektionsquelle gegen Ende der Reise gesucht, aber jetzt wusste sie, dass die Krankheit schon gute vier Wochen vor der Lungenentzündung begann - mit einer banalen Erkältung. Nach kurzer Zeit hatte Iris entdeckt, was sie suchte. Am Sepik-Fluss in Papua Neu-Guinea war es zu einem Zwischenfall gekommen, die Reisenden durften dort nicht weiterfahren, ohne einen Grund dafür zu erfahren. Zwei Tage später war die Reisende und ihr Mann erkältet gewesen. Bestimmt hatte sie sich dort am Sepik angesteckt.

Im Netz fand Iris die Bestätigung für ihre Vermutung. Wieder waren es australische Wissenschaftler, die den Ursprungsort der Seuche auf Papua Neu-Guinea eingrenzen konnten. Iris schrieb den Wissenschaftlern von ihrer Beobachtung anhand des Reisetagebuchs. Es fühlte sich großartig an, mit Forschern aus aller Welt an der Lösung des Seuchenrätsels zu arbeiten.

Den ganzen Tag über hörte man russische Gesänge aus Igors Zimmer. Igor schien ausgesprochen glücklich zu sein. Selbst spätabend als Iris und Martin schon längst im Bett lagen, feierten Igor und Erich noch ihr Willkommensfest.

Die Virenjägerin

Die Seuchen in der Geschichte der Menschheit
von Jacques Ruffie, Jean-Charles Sournia

Vollautomatisch
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Die Virenjägerin
Die Virenjägerin

208 Seiten
ISBN 3-938764-02-3

Preis: 14.80 Euro

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