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Die Virenjägerin

Kapitel 14


  
woanders, da draußen...

Fatima betete seit Stunden zu Allah, er möge ihr wenigstens diese letzten beiden lassen. Ihre alten Knie schmerzten so sehr, dass sie sich nicht sicher war, ob sie je wieder aufstehen können würde.

Aber Fatima war die einzige, die noch übrig war, um den beiden Wasser zu geben. Also betete sie ein letztes Mal und flehte so inbrünstig zu Allah, wie es ihr möglich war. Dann versuchte sie aufzustehen. Sie stützte sich auf den niedrigen Tisch, drückte sich hoch und brachte dann das erste Bein in Hockstellung. Erschrocken sog Fatima die Luft ein, denn ihr Bein drohte zu explodieren, so sehr schmerzte es. Sie zögerte, auch das zweite Bein aufzustellen, doch es musste sein, um zu ihren Schutzbefohlenen gehen zu können. Also löste sie auch das zweite Knie vom Boden und wurde von der befürchten Schmerzwelle überrollt.

Um vorsichtig wieder Leben in ihre Beine zu bringen, setzte sich Fatima auf den Tisch. Ängstlich schaute sie zu ihrem Enkel Hassan und hoffte, dass dieser, wie in all den letzten Tagen, für diese wenigen Minuten bewusstlos blieb. Denn es war natürlich äußerst ungehörig, auf dem Tisch zu sitzen, auch für eine alte Frau. Zu ihrer Erleichterung blieb alles ruhig außer dem ununterbrochenen Hecheln der beiden Kranken.

Das Blut schoss quälend wieder in Fatimas Beine. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis sie wieder benutzbar waren.

Warum war sie nicht krank geworden? Ausgerechnet sie, die schon seit Jahrzehnten auf den Tod wartete? Die ganze Familie - dahingerafft. Und die beiden letzten machten auch nicht den Eindruck, als würden sie sich erholen.

Nicht mal die Seuche in ihrer Kindheit war so schlimm gewesen. Damals gab es wenigstens Überlebende. Selbst sie hatte die Krankheit gehabt und erinnerte sich noch gut daran, wie schrecklich es gewesen war, keine Luft zu bekommen. Damals war sie nur wenig älter gewesen als jetzt ihre Ururenkelin Ayshe, die da auf der Matte lag und um ihr Leben kämpfte.

Was für ein hinreißendes Mädchen die kleine Ayshe war. So aufgeweckt. Fast zu aufgeweckt für ein Mädchen, aber Fatima liebte sie, so wie sie war. Immer wieder hatte Fatima versucht, der Kleinen dabei zu helfen, nicht all zu sehr anzuecken mit ihrer munteren Art. Meistens war es ihr auch gelungen, sie vor dem Zorn ihres Vaters, der Onkel und ihres Großvaters zu schützen. Ihr Vater, der jetzt unter der Erde lag und all seine Brüder, denen es ebenso ging. Die stolzen Männer, die Fatima vor gar nicht allzu langer Zeit als Säuglinge in ihren Armen gewiegt hatte. Sie war seinerzeit schon alt gewesen.

Als Fatimas Beine endlich wieder funktionierten, stand sie mühsam auf und schlurfte zum Wasserkanister. Zuerst flößte sie Ayshe einige Schlucke ein, denn sie wusste, dass Kinder schneller austrockneten als Erwachsene. Die Haut des Mädchens glühte. Es atmete flach und so schnell wie nach einem Wettrennen. Das Schlucken fiel ihr schwer, aber das wunderte Fatima nicht, denn die Kleine war ja gar nicht richtig bei Bewusstsein. Bei einem der Schlucke atmete sie gleichzeitig und bekam das Wasser in die falsche Kehle. Danach hustete sie so stark, dass Fatima befürchtete, sie würde ihre Lunge aus dem Leib husten. Fatima hielt das Mädchen aufrecht und klopfte ihr behutsam auf den Rücken.

Nach dem schrecklichen Hustenanfall erneuerte Fatima die kühlen Wickel um die Beine des Mädchens. Am Anfang der Krankheit waren die Schenkel der Kleinen noch rundlich gewesen, doch jetzt glichen sie knotigen Stöcken.

Ungern verließ Fatima die Kleine wieder. Am liebsten hätte sie bei ihr ausgeharrt, um ihr von ihrer eigenen Kraft abzugeben, wenn diese auch alt und schwach war. Doch das Familienoberhaupt brauchte auch Wasser. Fatimas Beine schmerzten wieder, als sie sich aufrichtete, um zum Bett ihres Enkels zu gehen.

Ihr Enkel Hassan atmete inzwischen so flach, dass Fatima die Bewegungen seines Brustkorbs kaum erkennen konnte. Sie hielt ihr Ohr dicht an seinen Mund, um die Atemgeräusche zu hören. Dann gab sie ihm das dringend benötigte Wasser. Ein großer Teil des eingeflößten Wassers rann wieder aus seinem Mund und floss auf an seinem Hals entlang bis auf die Matte. Der einst so unbeugsame Mann konnte kaum noch schlucken.

Fatima ahnte, dass ihr Enkel den Abend nicht mehr erleben würde.

Nachdem auch Hassan versorgt war, leerte sie den kleinen Rest Wasser aus dem Kanister in eine Karaffe und machte sich auf den Weg zum Dorfbrunnen. Wie lange schon hatte die Regierung in Jakarta ihnen fließend Wasser in ihren Häusern versprochen. Doch das waren leere Versprechungen gewesen. Noch immer mussten alle Dorfbewohner ihr Wasser aus dem einzigen Brunnen holen. Normalerweise musste man eine Weile warten, bis man mit dem Wasserschöpfen dran war, doch dieses Mal lag der Brunnen verlassen da. Keinem einzigen Menschen war Fatima unterwegs begegnet und auch am Brunnen war niemand. Fatima sandte ein kurzes Stoßgebet zu Allah, denn diese Leere war ihr unheimlich.

Weil niemand mit Fatima wartete, war auch niemand da, der ihr beim Befüllen des Kanisters half. Sie verschüttete eine Menge Wasser bis der Kanister endlich voll war. Dann machte sie sich auf den Heimweg.

In der Ferne rauchte der heilige Berg. Das tat er öfter, doch diesmal erfüllte der Rauch Fatima mit Furcht. Der Zorn des Berges schien ihr wie ein schlechtes Omen.

Der Kanister war schwer. Fatima musste ihn über den Boden schleifen und jeder Meter war für sie eine Mühsal. Nur langsam kam sie vorwärts, vorbei an den stillen Häusern der Nachbarn. Ob dort drin noch jemand lebte? Oder waren alle gestorben?

Warum nur war sie gesund geblieben? Fatima empfand ihre Gesundheit als besonders schlimmen Fluch.

Endlich kam Fatima mit dem Kanister wieder zu Hause an. Hassan atmete noch flacher als zuvor. Fatima benetzte seine Lippen mit Wasser, traute sich aber nicht, ihm einen richtigen Schluck einzuflößen. Sie wischte ihm die heiße Stirn mit einem Lappen ab und wickelte ein frisch angefeuchtetes Tuch um seine Unterschenkel. Doch sie glaubte nicht, dass sie ihn damit vor seinem Schicksal bewahren konnte.

Ayshe wälzte sich unruhig auf ihrer Matte. Die dünne Decke, die sie vor Insekten schützen sollte, hatte sie davongestrampelt. Fatima flößte ihr soviel Wasser ein, wie die Kleine schlucken konnte und wusch sie dann am ganzen Körper. Dabei entdeckte sie zahlreiche Stiche, die Ayshe bestimmt zusätzlich schwächten. Sorgsam deckte Fatima das Mädchen wieder zu.

Nur ungern machte sich Fatima an die Pflicht, die anschließend nach ihr rief. Im hinteren Teil des Gartens grub sie Löcher für die verstorbenen Familienmitglieder. Einen nach dem anderen hatte sie dort schon beerdigen müssen. Mit der Grube für ihren Enkel hatte sie am Vortag angefangen. Fatima fühlte sich schlecht dabei, ein Grab für jemanden zu schaufeln, der noch um sein Leben kämpfte. Aber sie wusste genau, dass sie nicht schnell genug graben konnte, um rechtzeitig vor Sonnenuntergang damit fertig zu werden, wenn jemand starb. Bei einer ihrer Enkelinnen war ihr das passiert und sie schämte sich immer noch dafür, wie sie die Verstorbene erst in der tiefen Nacht in einer viel zu flachen Grube beerdigt hatte. Am Tag danach hatte sie noch zusätzliche Erde darauf angehäuft, aber das war nicht das gleiche wie eine richtige Ruhestätte.

Also grub Fatima und pries Allah, dass sich an dieser Stelle des Gartens wenigstens kein Fels unter der dünnen Humusschicht befand, wie an vielen anderen Stellen in dieser Gegend. Dennoch war das Graben harte Arbeit für Fatima. Schon nach wenigen Minuten tat ihr Rücken weh. Nie hätte sie erwartet, dass sie in ihrem hohen Alter noch solch anstrengende Tätigkeiten würde durchführen müssen. In den letzten Jahren hatte sie nur in der Hütte gesessen und die Kinder betreut. Viele Geschichten hatte sie den Kindern erzählt, aber das stärkte nicht den Rücken.

Nach viel zu kurzer Zeit hielt Fatima das Graben nicht mehr aus. Das Loch im Boden war nur wenig tiefer geworden. Für den mächtigen Körper des Familienoberhauptes reichte es bei weitem nicht aus. Fatima hoffte, dass er noch einen weiteren Tag durchhalten würden, und sei es nur, um eine ordentliche Grabstätte zu erhalten.

Aber es war sowieso Zeit, sich wieder um die Kranken zu kümmern. Also humpelte Fatima gestützt auf ihren Grabstock ins Haus.

Sofort beim Betreten der Hütte merkte Fatima, dass etwas nicht stimmte. Ihr Blick fiel auf das Lager ihres Enkels, mit dessen Ableben sie jeden Moment rechnete. Doch er wirkte wie zuvor, wenn sie seine Atembewegungen von der Tür aus nicht sehen konnte.

Aber das Keuchen von Ayshe fehlte, stellte Fatima fest. Sie erschrak so sehr, dass ihr fast das Herz stehenblieb. So schnell sie konnte, eilte sie zu dem Kind und berührte es. Tatsächlich: es rührte sich nicht mehr. Keine Atmung, keine Bewegung, nichts. Dabei hatte sie vorher doch noch so kräftig geschnauft. Warum war es plötzlich so schnell gegangen?

Fatima stimmte lautes Wehklagen an und brach über der Kleinen zusammen. Doch nach kurzer Zeit besann sie sich auf ihren anderen Patienten und schlurfte tränenüberströmt zu ihrem Enkel. Der lag nach wie vor still auf seinem Lager und es kostete Mühe, seine schwache Atmung überhaupt wahrzunehmen. Doch er lebte noch. Wie unzählige Male zuvor feuchtete Fatima seine Lippen an und wischte ihm über die Stirn. Das Familienoberhaupt schien ihr noch schwächer als zuvor. Wie lange er wohl noch durchhalten würde?

Voller Kummer ging Fatima wieder zu dem Mädchen, ihrer Lieblingsururenkelin, die jetzt auch tot war. Wie all die anderen Kinder ihrer Familie und die Erwachsenen auf der Höhe ihrer Kraft und die anderen Alten, von denen aber keiner so alt wie sie gewesen war. Alle tot. Bei der kleinen Ayshe hatte Fatima insgeheim gehofft, dass sie es überleben würde, aber diese Hoffnung hatte getrogen. All ihre Gebete hatten nicht geholfen. Warum wurden sie so bestraft?

Die Klagelaute von Fatima hallten durch das stille Haus. Im halben Dorf mussten sie zu hören sein. Noch vor Tagen hatte Fatima den ganzen Tag über Klagelaute durchs Dorf hallen hören. In jedem Haus waren Tote zu beklagen. Seit Wochen ging das so. Doch diese Geräuschkulisse hatte in den letzten Tagen nachgelassen. Waren alle anderen auch gestorben?

Am liebsten hätte Fatima weiter geweint bis sie selbst gestorben war, doch sie besann sich auf ihre Pflicht und ging wieder in den Garten. Dort begann sie, ein kleines Loch neben dem zukünftigen Grab für ihren Enkel zu graben. Jede handvoll Erde wurde von ihren Tränen benetzt. Fatima ignorierte ihre Rückenschmerzen und grub weiter, bis ihr die Grube tief genug erschien. Dann ging sie zurück ins Haus.

Verantwortungsbewusst kümmerte sie sich um Hassan, dann setzte sie sich an Ayshes Totenbett und weinte lauthals über deren Tod. In wenigen Stunden würde sie das Kind der Erde zurückgeben müssen. Fatima schauderte bei diesem Gedanken. Es schien ihr schlimmer als all die Male zuvor.

Wieder ging Fatima zum Oberhaupt der Familie, denn sie wollte ihm noch einmal die Lippen anfeuchten, bevor sie draußen an seinem Grab weitergrub. Seine Atmung war kaum noch wahrnehmbar, noch weniger als zuvor. Fatima legte ihr Ohr auf den Brustkorb des Mannes, um zu hören, ob sein Herz noch schlug. Es schlug, aber nur schwach, und es schien schwächer zu werden. Fatima beschloss, noch ein paar Momente bei ihm sitzen zu bleiben und stimmte ein Gebet an.

Am Ende des Gebetes, spürte Fatima, wie das Leben aus Hassan wich. Ganz allmählich zog es sich zurück, mit jedem der nachlassenden Herzschläge etwas mehr.

Ein kaum wahrnehmbares Zittern durchlief den Körper des Mannes und dann war er still. Kein Herz schlug mehr, kein Atemzug bewegte die Luft. Fatima horchte gründlich an seinem Brustkorb. Nichts. Ein lauter Ruf der Traurigkeit entfuhr ihrer Kehle. Dieser prachtvolle Mann! Dahingerafft wie all die anderen.

Noch viele Jahre hätten vor ihm gelegen, Jahre in denen er seine Familie zu Größe und Wohlstand geführt hätte. Er war ein guter Chef der Familie gewesen. Zu gerne hätte Fatima ihr Leben hingegeben, um das Leben ihres Enkels zu retten. Doch ihre Last war das Leben.

Nachdem Fatima eine Weile angemessen gewehklagt hatte, ging sie erneut in den Garten und vollendete die Grube für den letzten ihrer Familie. Als sie fertig war, konnte sie sich kaum noch aufrichten, so sehr schmerzte ihr Kreuz. Sie stützte sich auf ihren Stock und streckte ihren Rücken Zentimeter um Zentimeter.

Die Sonne neigte sich dem Horizont zu. Welch ein schrecklicher Tag.

Unter Tränen ging Fatima ins Haus und fing an, die Gestorbenen zu waschen, wie es ihre Pflicht war. Zwischendurch gönnte sie sich selbst ein paar Schlucke Wasser, denn sie wusste, dass das beständige Weinen sie zusätzlich austrocknete. Um ihre Familie zu beerdigen brauchte sie all ihre verbliebene Kraft. Danach konnte sie sich gehenlassen, um endlich selbst zu sterben.

Die kleine Ayshe war so leicht, dass Fatima sie fast ohne Mühe zu ihrem Grab tragen konnte. Schluchzend legte Fatima das Mädchen in die Grube und sprach ein Gebet, bei dem ihr mehrmals die Stimme versagte.

Der Transport von Hassan stellte Fatima vor größere Probleme. Obwohl er im Verlauf seiner Krankheit stark abgenommen hatte, war er immer noch ein stattlicher Mann. Fatima bückte sich und ergriff den Rand von Hassans Matte, denn es war würdevoller und leichter, einen Toten auf einem rutschfähigen Gegenstand zu transportieren als ohne solche Hilfe. Mit einen kräftigen Ruck zerrte Fatima ihren Enkel von seinem Schlafpodest, bis er mitsamt der Matte auf dem Fußboden lag. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um ihn bis zur Tür der Hütte zu ziehen.

Beim Rutschen über die Stufen des Hauses glitt Hassan von der Matte und landete im Staub. Unter Ächzen und Stöhnen gelang es Fatima, ihn wieder auf die Matte zu wuchten. Dann kam die Strecke durch das unebene Gelände des Gartens. Nach jedem Meter musste Fatima eine Pause einlegen, um wieder zu Atem zu kommen. Sie nutzte die Pausen für kurze Gebete. In ihrer Verzweiflung schimpfte sie auch mit Allah, doch das bereute sie sofort und entschuldigte sich tränenreich.

Endlich erreichte Fatima mit ihrer traurigen Last die Grabstelle. War das Loch tief genug? Egal - es musste reichen, denn es wurde bald dunkel. Die Sonne war schon hinter dem Horizont verschwunden. Mit einem Plumps rutschte Hassan in sein Grab, begleitet von Fatimas Wehklagen. Sie empfahl ihn der Gnade Allahs, dann begann sie, die Gräber zuzuschaufeln.

Bis beide Ruhestätten ordentlich verschlossen waren, war es so dunkel, dass Fatima kaum noch die Schaufel in ihrer Hand erkennen konnte. Sie weinte ein letztes Gebet für diese beiden Opfer der Seuche, griff nach dem Grabstock und schleppte sich zurück ins leere Haus.

Jetzt wurde es Zeit für sie zu sterben.

Fatima bat Allah, sie heimzuholen - in dieser Nacht. Keinen weiteren Tag wollte sie auf dieser traurigen Erde weilen. Diese schreckliche Welt, die ihr die gesamte Familie genommen hatte. Als ihre Tränen versiegten, legte sich Fatima erschöpft nieder, um ihr viel zu langes Leben auszuhauchen.

Doch am nächsten Morgen erwachte Fatima davon, dass ihr die Sonne ins Gesicht schien. Es hatte nicht geklappt. Alle waren tot und ihr gelang es einfach nicht zu sterben. Fatima rappelte sich auf und verließ das Haus, denn sie wollte sehen, ob es noch Leben gab in ihrem Dorf.

Vor dem Haus der nächsten Nachbarn rief Fatima zuerst einen Gruß. Doch niemand antwortete. Zaghaft öffnete sie die angelehnte Haustür und rief erneut. Ein atemberaubender Gestank und unzählige Fliegen schlugen ihr entgegen. Es roch nach Tod. Fatima hielt die Luft an und bahnte sich ihren Weg durch die Fliegen in das Wohnzimmer, das sie von früheren Besuchen kannte. Dort lag die ganze Familie. Unbestattet. Einige Familienmitglieder waren schon halb verwest, andere schienen erst vor wenigen Tagen gestorben zu sein. Maden krabbelten auf den aufgedunsenen Toten.

Bei diesem Anblick wurde Fatima übel und sie eilte nach draußen. Im letzten Augenblick ließ sie das Haus hinter sich und übergab sich in einer Ecke vor dem Gebäude. Da sie seit Tagen nichts gegessen hatte, kam nur ein wenig Flüssigkeit aus ihrem Magen. Der saure Geschmack in Mund und Kehle vervollständigte den Ekel, der Fatima überkommen hatte. Sie hastete nach Hause und trank ein paar Schlucke Wasser bevor sie sich wieder auf den Weg machte.

Bevor sie das nächste Haus betrat, hielt Fatima die Luft an und nahm sich fest vor, sich nicht wieder so erschrecken zu lassen. Dieser Entschluss half, denn beim Anblick der Leichen dieser Familie konnte Fatima gefasst das Haus verlassen. Der gleiche Schrecken wiederholte sich bei jedem der Häuser, die Fatima aufsuchte. Nach einem guten Dutzend Häuser hielt Fatima es nicht mehr aus, sich jedes Mal aufs neue durch die Fliegenwolke und den Gestank zu kämpfen. Also rief sie nur noch von draußen und lauschte, ob sie etwas hören konnte. Doch sie erhielt keine Antwort. Das ganze Dorf lag wie ausgestorben da. Es lag nicht nur wie ausgestorben da, es war tatsächlich ausgestorben. Fatima war die einzige, die übrig geblieben war.

Wie hatte das nur geschehen können? Noch vor wenigen Wochen war es ein freundliches Dorf mit fleißigen Bewohnern gewesen, und jeder hatte sein bescheidenes Auskommen gehabt. Welcher Fluch hatte sie nur heimgesucht? Und warum musste Fatima das alles ansehen ohne selbst sterben zu können?

Fatima verzweifelte fast an ihrem Los. Sie konnte die ganzen Dorfbewohner nicht unbestattet lassen. Doch alleine würde sie es nie schaffen, alle zu beerdigen.

Also musste Fatima Hilfe holen gehen. Hilfe gab es nur in der Stadt. In der Stadt, die mehrere Tagesreisen weit entfernt war, wenn man keines dieser modernen Motorfahrzeuge hatte.
Fatima füllte noch einmal den Kanister am Brunnen und trank selbst soviel bis ihr Durst gestillt war. Den Kanister stellte sie in den Handkarren, den sie mitnehmen wollte. Dort brachte sie auch eine Matte, eine Decke, Kleider zum Wechseln und Kochgeschirr unter. Dann fing sie zwei Hühner, die frei umherliefen, und sperrte sie in einen Reisekäfig, den sie auf den Karren spannte. Schließlich holte sie ein Säckchen Erdnüsse aus dem Vorrat der Familie außerdem noch Reis und Maniok.

Bevor Fatima aufbrach, kochte sie sich eine Mahlzeit, die erste seit vielen Tagen, denn sie wusste, dass sie viel Kraft brauchen würde, um den weiten Weg in die Stadt zu schaffen. Bestimmt war sie verschont worden, um den toten Dorfbewohnern Hilfe zur Bestattung zu bringen. Also musste sie diese Aufgabe auch zu Ende bringen. Fatima aß den Reis in kleinen Bissen, denn sie wusste, dass man nicht zuviel auf einmal essen sollte, wenn man zuvor lange gefastet hatte. Die Reste packte sie in eine Schüssel und legte sie in einem Korb auf dem Karren.

Der heilige Berg grollte, als Fatima sich schließlich auf den Weg machte. Die aufsteigende Rauchwolke war größer geworden als zuvor. Fatima dachte sich, dass der Berg sein Opfer doch schon reichlich erhalten hatte. Eigentlich müsste er dadurch besänftigt worden sein. Aber vielleicht mussten die Toten erst bestattet werden, damit der Berg wieder Ruhe gab. Fatima dachte an ihre Jugend, als der Berg ausgebrochen war und alle hatten fliehen müssen. Wie durch ein Wunder war ihr Dorf jedoch von schlimmer Zerstörung verschont geblieben und alle konnten wieder ihre Häuser beziehen, als sie sich wieder nach Hause trauten.

Den gleichen Weg, auf dem damals das ganze Dorf geflohen war, schlug Fatima jetzt alleine an. Ihr Handkarren rumpelte laut hinter ihr her. Die Vögel sangen, als wäre es ein ganz normaler Tag und nicht der Untergang ihres Dorfes.

Ob Fatima in der Stadt wohl Hilfe finden würde?

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Die Virenjägerin
Die Virenjägerin

208 Seiten
ISBN 3-938764-02-3

Preis: 14.80 Euro

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