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Jenseits des Ölgipfels

Kapitel 31


  
"Das ist ja alles riesig hier. Soviele große Gebäude", staunte Johanna.

"Ich hab mir das alles auch eine Dimension kleiner vorgestellt. Aber es ist ja gar nicht schlecht, wenn wir soviele Gebäude haben, dann können wir uns wenigstens ordentlich austoben."

"Lass uns reingehen!"

Sie stellten ihre Fahrräder vor dem Wohnhaus ab und erklommen die kleine Treppe zum Windfang. Von drinnen kam ihnen schon jemand entgegen: durch die Milchglasscheibe der Haustür konnten sie eine grosse Gestalt erahnen, die sich mit kraftvollen Bewegungen näherte. Als er die Tür von innen öffnete, konnten sie erkennen, dass Herr Wiedemann wirklich gross war, sogar Jens musste deutlich zu ihm aufblicken. Sein leicht angegrautes Haar und sein lebendiger Gesichtsausdruck ließen ihn deutlich jünger erscheinen, als über siebzig, wie Heide ihnen mitgeteilt hatte.

"Herzlich willkommen daheim."

Herr Wiedemann schüttelte den beiden Neuankömmlingen kräftig die Hände und bat sie ins Innere. Ein langer Gang verlief bis zur Hinterseite des Hauses und eine Treppe führte ins Obergeschoss. Sie ließen die Treppe links liegen und gingen durch eine Tür, die dahinter zum Vorschein kam. Ihr Blick fiel auf einen Esstisch, an dem eine ganze Großfamilie mitsamt Mägden und Knechten Platz gehabt hätte. Der Tisch wurde durch drei Kerzen beleuchtet und aus einem Topf stieg herzhaft duftender Dampf.

Erst als sie den Raum vollständig betreten hatten, sahen sie, dass sie sich in einer Wohnküche befanden, die sich von der Vorder- bis zur Rückseite des Hauses erstreckte.

"Das ist ja der reinste Saal", rief Johanna.

Herr Wiedemann erklärte etwas in unverständlichem Dialekt.

"Entschuldigung, ich verstehe Ihr Schwäbisch nicht."

"Mir schwätzet allemannisch. D'Frau Wagner, die hot schwäbisch gschwätzt."

"Tut mir leid, das wusste ich nicht. Auch allemannisch verstehe ich kaum."

"Ich werds mit Hochdeutsch versuchen, bis Sie sich daran gewöhnt haben."

"Danke schön. Das ist hier ja wirklich wunderschön. Und wie es duftet."

"Setzen Sie sich nur hin und greifen Sie zu. Bestimmt sind Sie hungrig von der Reise."

"Oh ja, und wie!", meldete sich Jens zu Wort und nahm Platz.

Als auch Johanna saß, schöpfte Herr Wiedemann große Portionen Eintopf auf ihre Teller und schnitt dicke Scheiben frisch duftendes Brot von einem runden Laib. Zu trinken gab es einen süffigen Weisswein, der von Herrn Wiedemanns eigenem Weinberg stammte. Die nahrhafte Suppe mit ihrer Würstchen-Einlage war genau das Richtige nach der anstrengenden Reise. Herr Wiedemann erzählte ihnen unterdessen von Erlebnissen, die er in dieser Küche schon gehabt hatte. Anscheinend war er bei Heide und ihrem Mann ein und aus gegangen. Erst jetzt erfuhren Jens und Johanna, dass hier außer dem Ehepaar Wagner zeitweise erheblich mehr Menschen gelebt hatten, vor allem in den idealistischen Anfangsjahren. Teilweise war es wohl auch ziemlich amüsant zugegangen, vor allem aus der Sicht eines Winzers, der hier aufgewachsen war.

Jens fragte sich, ob später auch über ihre Anfangsjahre lustige Geschichten erzählt werden würden. Bestimmt würden sie viele typische Stadtmenschen-Fehler machen, bis sie sich mal eingewöhnt hatten.

Nicht weit vom Esstisch brannte ein munteres Feuer in einem alten Küchenofen. Zwischendrin stand Herr Wiedemann auf, um Holz nachzulegen. Dabei erklärte er, was es bei diesem Ofen zu beachten gab. Jens schien es, als müsse man sich um das Feuer in diesem Ofen ständig kümmern, weil der Feuerraum so klein war. Nun ja, mit Ofenfeuern kannte er sich ja inzwischen schon etwas aus, da würde er sich wohl auch mit diesem anfreunden.

Nachdem der erste Hunger gestillt war, hielt Johanna es nicht länger aus und ging durch den ganzen Raum bis zur eigentlichen Küche, die sich am anderen Ende befand. Beim Öffnen der Schränke stieß sie Laute des Entzückens aus.

"Welch eine Küche! Hier hat man wirklich Platz zum Arbeiten. Und überall noch zusätzliche Arbeitsflächen. Wie geschaffen für das große Einkochen."

Sie öffnete eine Tür, die sich neben der Kücheneinrichtung befand. "Oh, hier gehts nach draußen und in noch ein Haus. Und was ist wohl hinter dieser Tür? Eine Speisekammer, und was für eine! Da kann man Nahrung für eine ganze Kompanie unterbringen. Traumhaft!"

"Wollen Sie den Rest des Hauses sehen?", bot Herr Wiedemann an.

"Gerne, wenn ich anschließend noch etwas von diesem leckeren Eintopf bekomme.", sagte Jens.

"Da wird sich meine Frau aber freuen, dass es Ihnen schmeckt."

Mit Kerzen bewaffnet erkundeten sie ihr neues Zuhause. Im Erdgeschoss gab es ein kleines Bad, ein Wohnzimmer und einen Raum voller Bücher, in die sich Jens und Johanna am liebsten gleich festgelesen hätten. "Das grosse Buch vom Leben auf dem Lande" stand dort, zusammen mit mehreren anderen Büchern von Seymour und haufenweise weiteren Büchern zum Thema Landwirtschaft.

"Genau die Bücher, die wir brauchen. Da haben wir aber Glück gehabt.", strahlte Johanna.

Im Obergeschoss gab es über dem Wohnzimmer ein Schlafzimmer, das für eine ganze Familie gereicht hätte. Ausserdem gab es noch ein großes Badezimmer und drei weitere Räume. Im Anschluss an den Gang, der zu den hinteren Zimmern führte, befand sich eine Tür, die in eine Halle führte, die genug Platz für eine ganze Wohnung bot, aber nicht ausgebaut war. Über der Treppe zum Obergeschoss ging noch eine Treppe ins zweite Obergeschoss, doch dort befand sich laut Herrn Wiedemann nur Gerümpel.

Als sie wieder unten angekommen waren, verabschiedete sich Herr Wiedemann und kündigte an, am nächsten Vormittag wieder zu kommen. Jens nahm sich noch eine Portion Eintopf und Johanna sprang durch das Haus wie eine übermütige Gazelle. Immer wieder rief sie Jens neue Entdeckungen zu.

Schließlich setzte sie sich verschwitzt und aufgekratzt auf das leere Ende des Tisches und betrachtete Jens, wie er gerade die letzten Bissen seines Eintopfes verzehrte. Sie angelte nach der Weinflasche und schenkte beiden die Gläser voll. Beim Anstoßen lächelte sie Jens so verführerisch an, dass er nicht widerstehen konnte und sie küsste. Ihre Küsse endeten darin, dass sie sich auf dem freien Ende des stabilen Tisches leidenschaftlich liebten.

Anschließend brachte Johanna das Geschirr in die Küchenecke und erprobte mit Jens Hilfe ihre hausfraulichen Fähigkeiten. Aus dem Wasserhahn kam zwar Wasser, aber nur kaltes. Kichernd transportierte Johanna heisses Wasser aus dem Wassergefäss im Küchenofen zur Spüle und säuberte ihr Geschirr ordnungsgemäß. Dann waren beide so müde, dass sie beschlossen, das Schlafzimmer auszuprobieren. Dort war es zwar sehr kühl, aber die dicken Decken und ihre Körper wärmten die Betten schnell auf.

Morgens schien das Sonnenlicht freundlich in ihr Schlafzimmer und weckte sie auf. Jens gab Johanna einen verschlafenen Kuss, stieg aus dem Bett und ging ans Fenster. Der Ausblick war phantastisch. Man konnte gerade eben über das Dach des gegenüberliegenden Gebäudes blicken und dahinter öffnete sich der Blick auf die weite Ebene des Oberrheintals. Ganz weit hinten sah Jens einen wolkenverhangenden Bergstreifen, der die Ebene begrenzte.

"Komm her Johanna, das musst du sehen. Ich glaube, man kann bis nach Frankreich schauen."

"Oh, das sieht ja wirklich toll aus. Guck mal dort, das schmale Glitzern, ob das wohl der Rhein ist?"

"Könnte sein, der muss ja hier irgendwo sein, und die Stelle wäre richtig. Und dahinten die Berge, das sind wohl die Vogesen."

Nachdem sie sich sattgesehen hatten, zogen sie sich an und liefen durchs Haus. Im Licht des Tages sah alles wieder ganz anders aus, weil man jetzt die Räume auf einen Blick sehen konnte, ohne die Ecken einzeln mit der Kerze ausleuchten zu müssen. Das Wohnhaus wirkte noch größer als am Abend zuvor.

Noch vor dem Frühstück gingen Jens und Johanna auf Entdeckungstour. Über Eck vom Wohnhaus in Küchennähe fanden sie ein Gebäude mit einem Raum, der an eine Waschküche erinnerte, aber vermutlich eine alte Molkerei war, denn daneben befanden sich zwei Ställe, deren Einrichtungsreste an Kuhställe denken ließen. Gegenüber vom Wohnhaus waren ursprünglich wohl auch Ställe gewesen, doch davon konnte man nichts mehr sehen. Direkt am Hofeingang war stattdessen eine Doppelgarage und daneben eine Werkstatt, in die Jens sich am liebsten sofort vergraben hätte. Werkzeuge vom Feinsten hingen dort sorgfältig aufgereiht, als wollte der Handwerker sogleich wiederkommen. Jens sah eines der Bilder von Heides Mann vor seinem inneren Auge und konnte sich lebhaft vorstellen, wie er in dieser Werkstatt gearbeitet hatte. Der dritte Raum dieses Gebäudes war leer, bis auf drei alte Fahrräder, die an einer Wand lehnten.

Auf der vierten Seite des Hofes stand eine wuchtige Scheune, die fast so hoch wie das Haupthaus war. Das Innere war fast leer; nur ein altmodischer Traktor mit Anhänger stand darin. Johannas Stimme hallte wie in einer Kirche, als sie Jens aufforderte von der Untersuchung des Traktors abzulassen, um sich den Rest des Grundstücks anzusehen.

Hand in Hand eilten sie durch Zwischenraum der Häuser in den Garten. Ein Weg führte an einer Wiese vorbei, bis zu einer kleinen Brücke. Linkerhand stand ein grosses Gewächshaus am Rand eines zugewucherten Geländes, das wohl der Gemüsegarten sein sollte. Auf dem Landstück hätte ein ganzes Haus samt Garten grosszügig Platz gehabt.

Der Kiesweg knirschte unter ihren Füssen, als sie zur Brücke gingen. Ein Bach durchschnitt die Wiese in zwei Teile. Zur linken Seite stieg das Gelände an, ein Wasserfall speiste den Bachlauf und dort war auch endlich das Wasserrad, über das sich Jens schon soviele Gedanken gemacht hatte. Es stand still und war teilweise von Pflanzen überwuchert. Jens betrachtete das Wasserrad gründlich, entfernte ein paar der Pflanzen und glich seine Vorstellung im Kopf der Realität an. Vieles hing davon ab, dass er dieses kleine Kraftwerk wieder zum Laufen brachte. In erster Linie, ob es notwendig war, Kunde der hiesigen Stromgesellschaft zu werden.

Unter einem "kleinen" Wasserrad hatte er sich allerdings etwas anderes vorgestellt. Dieses hier war so gross, dass er die Arme über den Kopf heben musste, um an die Nabe des Rades zu reichen.

"Komm mal, du alter Techniker. Hier ist ein See und die berühmte warme Quelle."

Jens riss sich von der Betrachtung des Wasserrades los und folgte Johanna auf das Plateau dahinter. Der Teich war groß genug, um darin schwimmen zu können, sogar ein Badesteg mit kleinem Sprungbrett führte ins Wasser. Ein in Stein gefasstes Rinnsaal ergoss sich neben dem Steg in den Teich. Jens hielt seine Hand hinein und tatsächlich: das Wasser war warm. Johanna hockte neben einem Steinrondell, das eine dunkle Wasserfläche umfasste. Vergnügt spritzte sie Jens warmes Wasser entgegen, als er sich näherte. Das Becken war voller Laub, daher verlockte es nicht zum Hineinspringen, aber Jens konnte sich vorstellen, welche herrliche Möglichkeiten sich boten, wenn es erstmal gereinigt war.

Rund um die warme Quelle stand eine kreisrunde Steinbank, die dazu einlud, sich niederzulassen. Mit dem Teich im Rücken sah Jens über die Quelle hinweg die alte Eiche, die er schon auf den Fotos bewundert hatte. Inzwischen war sie noch deutlich größer geworden. Das wäre der optimale Platz für Feen, um sich im Mondschein zu tummeln, dachte sich Jens. So wie Johanna am Wasser kniete, hätte sie mit ihrer schmalen hochgewachsenen Gestalt eine wunderbare Feenkönigin abgegeben. Als hätte sie seine Gedanken geahnt, erhob sich Johanna anmutig und umtanzte die Quelle ausgelassen.

Der Platz um die Quelle war wie eine kleine Welt für sich. Die Grundstücksmauer, die das gesamte Grundstück umfasste, war durch mannigfaltiges Gebüsch fast unsichtbar, obwohl noch keine Blätter wuchsen. Auch die Wiese war nur zu erahnen, weil der Hang nach unten mit wildem Buschwerk bewachsen war. In der anderen Richtung wuchsen Bäume den steilen Hang empor, sodass es wie ein Waldrand wirkte. Der Bach sprang über viele steinige Stufen in den Teich. Dort oben musste auch die kalte Quelle sein, von der sie ihr Wasser bezogen. Jens sah eine schmale Treppe, die auf der anderen Seite des Teiches bergan führte.

Schließlich wurden sie hungrig und machten sich auf den Rückweg. Von der Brücke aus sahen sie hinter der Scheune noch ein breites Stück Wiese mit stattlichen Obstbäumen. Hier würden sich Johannas geplante Milchschafe bestimmt wohlfühlen.

Johanna pries ihre weitblickende Mutter, als sie ihre Proviantreste und die Packung Kaffee auspackte, die Frau Trautmann ihr aufgenötigt hatte. Jens reinigte inzwischen den Ofen und entfachte ein Feuer. Obwohl das Feuer schnell brannte, dauerte es lange, bis sie Wasser zum Kochen gebracht hatten. Johanna war indes zuversichtlich genug, um den Gasherd auszuprobieren - er funktionierte.

"Das ist bestimmt ein Service von Herrn Wiedemann. Ich frage mich sowieso, wieviel Arbeit er hier reingesteckt hat, denn hier sieht kaum etwas aus, als hätte es zehn Jahre leergestanden."

"Heide hat angedeutet, dass er hier als eine Art Hausmeister fungiert hat, bezahlt natürlich. Ob ihm dieses Einkommen wohl fehlen wird, jetzt wo wir hier sind?"

"Bestimmt fehlt ihm das. Aber wir werden ihn wohl noch oft genug brauchen, und dann sollten wir ihm auch etwas zahlen. Schließlich sind wir wohlhabende Leute."

Johanna grinste und setzte einen Topf mit Wasser auf. In der Wartezeit bis es kochte, untersuchte sie alle Schubladen und Schränke. Aus ihren wohligen Grunz- und Staunlauten schloss Jens, dass die Küche alles bot, was man brauchte, um gut zu kochen. Er hatte sich inzwischen in dem büroartigen Bücherzimmer einige Blatt Papier organisiert, um aufzuschreiben, was es alles zu tun gab. Bis Johanna mit dem Kaffee zum Tisch kam, hatte Jens schon ein ganzes Blatt vollgeschrieben.

"Es gibt unendlich viel zu tun, und am besten alles heute. Da fällt die Wahl wirklich schwer."

"Das glaube ich gern. Herr Wiedemann wollte auch noch kommen. Aber morgen wird wohl auch noch Zeit sein, um weiter zu machen. Zeig mal, was du alles notiert hast."

"Hier. Für besonders wichtig halte ich das Einkaufen und das Wasserrad, damit wir Strom haben."

"Ja, und mit den ersten Gartenarbeiten sollten wir auch nicht allzulange warten."

Während sie noch überlegten, klingelte es und Herr Wiedemann stand vor der Tür. In den Händen hielt er eine geheimnisvolle Schachtel.

"Haben Sie eine gute erste Nacht verbracht?"

"Ja danke, wunderbar. Und der Blick, den man morgens aus dem Fenster hat, der ist auch ganz phantastisch."

"Wir haben uns inzwischen das Meiste angeschaut. Sie haben den Hof wirklich gut in Schuss gehalten."

"Wie ich sehe, kommen Sie gut klar. Sogar das Kaffeekochen hat geklappt."

Bei einer weiteren Kaffeerunde stellten Jens und Johanna Herrn Wiedemann alle Fragen, die in der Zwischenzeit aufgetaucht waren. Mit dem Wasserrad kannte er sich leider nicht aus; er wusste nur noch, dass es in der letzten Zeit vor dem Wegzug der Wagners Ärger gemacht hatte und jetzt stillgelegt war. Ansonsten schien er ihnen aber wie die reinste Enzyklopädie des Landlebens.

"Haben Sie Tipps, wie wir das Umgraben des Gemüsegartens möglichst schnell schaffen können?"

"Von Hand schaffen Sie das nie, den ganzen Gemüsegarten umzugraben. Da wären Sie bis zum Hochsommer beschäftigt und würden nichts anderes schaffen. Das sind ja schließlich bald tausend Quadratmeter. Leider habe ich gerade keinen Treibstoff für meinen Traktor, sonst würde ich Ihnen das einfach mal durchzackern."

"Einen alten Traktor haben wir sogar auch. Wieviel Diesel schluckt denn so ein Traktor?"

"Das hängt von der Größe ab und was Sie damit anfangen. Bei kleinen und normalen Traktoren reicht das von zwei bis zwölf Liter pro Stunde. Grosse Maschinen brauchen noch erheblich mehr."

"Zwei Liter gehen ja noch, aber zwölf sind schon ziemlich happig. Mal sehen, ob wir Diesel auftreiben können. Gibt es in der Nähe eine gute Tankstelle?"

"Dort, wo Sie mit dem Zug angekommen sind, gibt es in der Nähe des Ortseinganges eine Tankstelle. Aber die haben nicht immer Diesel, und Benzin gibt es noch seltener. In der Gegend finden Sie auch andere Geschäfte."

Zum Abschied übergab Herr Wiedemann ihnen die Schachtel, die er mitgebracht hatte. Sie enthielt Samentütchen, die noch vom letzten Jahr übrig waren und die Herr Wiedemann entbehren konnte. Johanna begutachtete die Tütchen, wie die Edelsteine eines Schmuckstücks. In wenigen Minuten hatte sie mehrere Stapel gebildet, nachdem sie die jeweiligen Anbaugeheimnisse durch Drehen und Wenden der Tütchen entschlüsselt hatte.

Vor dem Einkauf am Nachmittag nahm sich Jens das Wasserrad vor und Johanna wollte sich schon mal dem Gemüsegarten widmen, weil sie mit der ersten Aussaat nicht abwarten wollte, bis die Frage mit dem Trecker geklärt war.

Das Entfernen der Pflanzen vom Wasserrad erwies sich als harte Arbeit. Währenddessen konnte Jens auch erkennen, dass das Wasserrad dadurch stillgelegt war, dass die Wasserrinne über das Rad hinausragte und sich so als freier Wasserfall ergoss. Diese Rinne würde er später nach hinten schieben müssen. Ihm taten schon die Arme weh, als er sich allmählich zu den Feinheiten vorarbeitete. Die nächsten Arbeitsschritte gingen ihm durch den Kopf, als er Johanna kommen hörte.

"Das Essen ist fertig. Ich habe uns mal die Reste des Eintopfes von gestern warm gemacht."

"Sehr gute Idee, mir knurrt schon der Magen. Wie liefs bei dir?"

"Sehr weit bin ich noch nicht gekommen, aber ich glaube, ich habe einen Kräutergarten in der Nähe des Kücheneingangs entdeckt. Da spriessen ein paar kleine Schnittlauchspiesse, dann habe ich Thymian gerochen, der auch schon etwas austreibt, aber auch viele Brennesseln. Da werde ich mich wohl mehrmals gründlich vertiefen müssen, bis ich weiss, was dort wirklich hingehört und was Unkraut ist. Außerdem habe ich Gartenwerkzeuge gefunden. Und du hast schon die meisten Pflanzen entfernt, wie ich sehe."

Der Eintopf schmeckte nach der Arbeit an der frischen Luft fast noch besser als am Abend zuvor. Johanna blätterte nebenher in einem Buch über Gemüseanbau und war kaum ansprechbar. Das war Jens aber ganz recht, denn er dachte über den Aufbau des Wasserrades nach. Kaum hatten sie fertig gegessen, brachen sie zu ihrem Einkauf auf.

Die Tankstelle war tatsächlich leicht zu finden, hatte aber leider kein Diesel. Ganz in der Nähe gab es jedoch, wie erhofft, ein Einkaufszentrum im typischen Grüne-Wiese-Stil. Das Angebot des Supermarktes war sogar reichhaltiger als zuletzt in den Supermärkten des Nordens. Über die Hälfte der Regale war mit Waren gefüllt und Jens und Johanna fanden das meiste von dem, was sie brauchten. Die Preise schienen aber noch happiger zu sein als in ihrer alten Heimat.

Ganz entzückt blieb Johanna eine Weile vor einem Samenregal stehen. Jens konnte ihr ansehen, wie sie anhand des Angebotes ihren Gartenplan erweiterte. Dabei sah sie so hinreissend aus, dass er nicht widerstehen konnte, ihr einen Kuss auf die Wange zu hauchen, bevor er im unteren Teil des Regals nach einer Tüte dicke Bohnen griff.

"Soviel ich weiss, muss man die auch sehr früh säen."

"Oh ja, stimmt. Die hatte ich noch gar nicht entdeckt. Sehr gut."

Als Johanna mit ihrer Beute zufrieden war, hatte Jens den Eindruck, dass sie zur Not ohne weitere Samenkäufe gut übers erste Gartenjahr kommen würden, wenn nicht gar länger. Ein ordentlicher Samenvorrat war aber bestimmt nicht verkehrt und im Vergleich zu vielen anderen Dingen einfach und preiswert zu beschaffen.

Schwer beladen fuhren sie anschließend nach Hause. Zusätzlich zu Jens Anhänger, in dem sich der grösste Teil der Einkäufe befand, hatte Johanna noch einen Korb und Satteltaschen auf ihr Fahrrad geschnallt, aber es war abzusehen, dass sie auch bald einen Anhänger brauchen würde.

Später kämpfte Jens mit den eingerosteten Stellen des Wasserrades. Mit gründlichem Schleifen und Ölen gelang es ihm jedoch nach geraumer Zeit, das Rad in Drehung zu versetzen. Als nächstes war die Justierung der Wasserrinne dran, die auch an einigen wichtigen Stellen unter Rost litt. Beim Entrümpeln war er nie so ins Schwitzen gekommen wie jetzt, dabei war es in der Nähe des sprühenden Wassers durchaus frisch.

Irgendwann löste sich jedoch die letzte verklemmte Stelle und die Rinne glitt zurück, bis der Wasserfall auf das Wasserrad traf. Die Schaufel des Rades füllte sich mit Wasser und ganz allmählich, wie eine alte Dampflok, setzte sich das Rad in Bewegung. Jens fixierte die Rinne in der jetzigen Stellung und ging zum Generator. Die Welle drehte sich zwar, aber die Stromanzeige zeigte nichts an. Auch sein Messgerät, das Jens vorsichtshalber mitgebracht hatte, meldete keine Spannung.

Die Sonne war inzwischen untergegangen und kühle Dämmerung zog herauf. Ob er es wohl noch schaffen würde, sie an diesem Abend mit elektrischem Licht zu versorgen?

Er würde den Generator aufschrauben müssen, um feststellen zu können, was nicht in Ordnung war. Sicherheitshalber legte er vorher das Wasserrad wieder still, was aber glücklicherweise sehr viel schneller ging, als es in Bewegung zu setzen.

Als er das Gehäuse des Generators öffnete, drückte er in Gedanken die Daumen, dass das Versagen des Generators mit dem häufigsten Problem bei Elektromotoren zusammenhing, das glücklicherweise leicht zu beheben war.

Eigentlich reichte das Licht schon nicht mehr aus, um die Einzelheiten zu erkennen, aber Jens dachte sich, dass er das Innere von elektrischen Geräten so gut kennen müsste, dass er sich auch in der Dämmerung zurecht fand.

Da, die Spulen, unverkennbar. Und hier die Kohlebürsten - abgenutzt, wie erhofft - stark abgenutzt. Das dürfte es sein. Da reicht nachschieben auch nur vorübergehend, auf Dauer helfen da nur Neue.

Nach der Reparatur hoffte Jens, dass die abgenutzten Kohlebürsten das einzige Problem des Generators waren und im letzten Tageslicht brachte er alles wieder in Arbeitsstellung.

Das Rad füllte sich erneut, setzte sich in Bewegung und am Generator leuchtete ein Lämpchen auf. Die Anzeige meldete Stromproduktion, wie erhofft.

Jenseits des Ölgipfels

Beyond Oil: The View from Hubbert's Peak
von Kenneth S. Deffeyes

Peakoil Reloaded
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Jenseits des Ölgipfels
Jenseits des Ölgipfels

268 Seiten
ISBN 3-933634-18-0

Preis: 16.90 Euro

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