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Jenseits des Ölgipfels

Kapitel 17


  
Die Vorstellung, Leichen entsorgen zu müssen, behagte Jens nicht im Geringsten. Lukrative Aufträge hin oder her - er war doch kein Bestattungsunternehmen. Doch dann sah er im Fernsehen, wie massenhaft Gräber auf Wiesen ausgehoben wurden, um die Vielzahl der Gestorbenen aufzunehmen, inzwischen rechnete man mit einer Million Toten innerhalb von Deutschland, und er kam zu dem Schluss, dass Leichenentsorgung eine wichtige Aufgabe war, der man sich nicht verschließen sollte.

Aber zur Zeit war er noch lange nicht wieder gesund genug, um körperlich zu arbeiten. Immerhin konnte er jetzt schon mehrere Stunden ohne Unterbrechung sein Bett verlassen, aber er ermüdete noch rasch. Am nächsten Tag schien die Sonne und Jens entschloss sich, einen Spaziergang zu riskieren. Schon die Treppe ins Erdgeschoss zeigte ihm deutlich, dass seine Beine an Kraft verloren hatten. Doch davon wollte er sich nicht einschüchtern lassen.

Die Sonne stach Jens in die Augen, als er aus dem Schatten des Hauses trat. Das gleissende Licht wurde von den übrig gebliebenen Schneeresten noch verstärkt. Die Straße lag menschenleer vor ihm. So leer hatte er die Straße noch nie gesehen. Weil ihm kein besseres Ziel einfiel, schlug er die Richtung zum Bistro ein. Ein Leichenwagen fuhr vorbei.

An der einen Ecke erinnerte er sich vage, dass er hier von der Grippe niedergestreckt worden war. Wie lange das jetzt schon wieder her war? Es schien ihm wie Jahre, doch es waren nur knapp drei Wochen gewesen.

Ein paar Meter weiter stiess er auf einen Lieferwagen mit geöffneter Klappe. Aus einem Haus kamen zwei Männer, die einen schweren Sack zum Lieferwagen schleppten. Der Sack hatte Form und Größe eines Menschen. Jens wartete kurz, bis die Männer den Weg passiert hatten und setzte seinen Weg dann fort. Sowas wie das hier würde wohl auch bald seine Aufgabe sein.

Als er beim Bistro ankam, war er schon ziemlich außer Puste, obwohl er nur langsam gegangen war. Das Bistro war geschlossen. Kein Zettel an der Tür - nichts. Ob es Ricardo wohl so schnell überkommen hatte, dass ihm die Zeit für ein "Wegen Krankheit geschlossen"-Schild gefehlt hatte?

Zurück zu Hause, versuchte er Ricardo telefonisch zu erreichen, aber auch unter seiner privaten Nummer meldete sich nur ein Anrufbeantworter. Weil ihm nach menschlichem Kontakt dürstete, versuchte er es anschließend bei Tina. Als sie sich nach wenigen Klinglern meldete, war er richtig erleichtert.

"Oh, du bist das, Jens. Ich hab mir schon Sorgen um dich gemacht. Wie geht es dir?"

"Inzwischen geht es mir wieder ziemlich gut. Bin dem Tod nochmal von der Schippe gesprungen. Und wie sieht es bei euch aus?"

"Mein Vater hält uns alle noch eingesperrt. Und wenn ich die Bilder im Fernsehen sehe, dann denke ich inzwischen auch, dass er Recht hat. Gesundheitlich gehts uns gut, aber die Stimmung ist miserabel."

"Gute Stimmung hat zur Zeit bestimmt Seltenheitswert. Allerdings bin ich selbst eigentlich guter Dinge, weil ich wieder rumlaufen kann. Weisst du was vom Bistro oder von Ricardo?"

"Ricardo ist krank. Seine Freundin hat mich kurz angerufen, als es ihn erwischt hat. Erzähl doch mal, wie es dir ergangen ist."

Jens erzählte von seinem Kampf gegen die Grippe, was Tina viele Aahs und Oohs entlockte. Besonders entsetzt schien sie von der Vorstellung, dass er ganz allein gegen das Ersticken angekämpft hatte. Immer wieder sagte sie: "Wie gut, dass du das überstanden hast".

Nach dem Telefonat merkte Jens, dass er völlig erledigt war und legte sich wieder in sein kuscheliges Bett. Er schlief ein und wachte erst nach sechzehn Stunden wieder auf.

Ausgeschlafen, aber noch mit Schlafnebeln im Kopf, machte er sich zuerst einen starken Kaffee, bei dessen Geschmack er sich nach dem Power-Kaffee sehnte. Dann holte er sein Fahrrad aus dem Keller, denn der Weg zur Entrümplungsfirma war ihm zu weit, um ihn zu Fuß zu gehen und heute wollte er Herrn Lorenz besuchen. Das Fahrrad schien Jens doppelt so schwer wie sonst und er war froh, als er es aus dem Haus bugsiert hatte. Behutsam stieg er auf und gewann Fahrt. Überraschend leicht kam er vorwärts, wenn er auch nicht so sauste wie sonst.

Die Straße gehörte ihm, so leer war sie. Nur hin und wieder fuhr ein Lieferwagen an ihm vorbei. Auch drei Leichenwagen begegneten ihm unterwegs, aber Privatautos waren so gut wie gar nicht unterwegs. Eine vermummte Gestalt mit Mundschutz hastete über den Gehweg, aus einem Haus wurde wieder ein Toter geborgen.

Die Entrümplungsfirma lag wie ausgestorben da, aber die Eingangstür war unverschlossen und Jens ging direkt in Herrn Lorenz' Büro, denn dort konnte man ihn meistens antreffen. So auch diesmal. Mit dem Qualm seiner Zigarre schien er alle gefährlichen Krankheitserreger vertreiben zu wollen, denn der Rauch im Zimmer war so dicht, dass man Herrn Lorenz von der Tür aus kaum sehen konnte.

"Willkommen zurück unter den Lebenden, junger Mann", rief er Jens entgegen.

"Guten Tag Herr Lorenz. Ich mache gerade eine kleine Genesungsfahrt auf meinem Fahrrad, und wollte einfach mal bei Ihnen vorbeischauen."

"Was heisst hier Genesungsfahrt. Sie sehen doch ganz munter aus."

"Fürs Stehen reichts inzwischen auch wieder. Bis ich richtig zupacken kann, wird es wohl noch eine Weile dauern."

"Schnick-Schnack. Hunderte von Toten warten auf Ihren Einsatz. Der Müller ist ganz alleine mit der Aufgabe und wie schwer es ist, die Leichen alleine zu schleppen, können Sie sich bestimmt vorstellen."

"Klar, das kann ich mir durchaus vorstellen. Ich wollte Ihnen aber noch etwas zeigen, das ich vor meiner Krankheit noch gemacht habe."

"Da bin ich ja mal gespannt."

Jens führte Herrn Lorenz zu seiner Garage, öffnete das Tor und spähte hinein, um zu sehen, ob da tatsächlich mehrere reparierte Geräte standen, wie er es in Erinnerung hatte. Tatsächlich, da standen sie aufgestapelt und füllten einen grossen Teil des Arbeitstisches.

"Donnerwetter, die haben Sie alle noch repariert?"

"Ja, ich war gerade gut in Fahrt."

"Sehr gut. Sie können mir dabei helfen, sie in die Verkaufshalle zu tragen. Wenn die Überlebenden irgendwann aus ihren Löchern kriechen, finden sie neue Angebote vor."

Als die reparierten Geräte ordentlich in den Verkaufsregalen standen, wollte Jens sich schnell verabschieden, damit sein Gegenüber keine Zeit mehr hatte, das Thema Leichenentsorgung erneut anzuschneiden, doch Herr Lorenz war schneller.

"Ok, und jetzt fahre ich Sie zu Müller."

Jens wollte gerade protestieren, aber er kam gar nicht erst zum Luftholen.

"Sie wollen doch den Herrn Müller nicht im Stich lassen. Der hat sich auch gerade erst von der Grippe erholt. Nur ein paar Stunden."

Gegen solche Argumente fühlte sich Jens machtlos, also ging er widerstandslos mit Herrn Lorenz zu seinem Wagen, einem umgerüsteten Diesel, der auch mit Salatöl sehr gut fuhr, wie Herr Lorenz immer wieder stolz betonte. Herr Lorenz zog sich einen Mundschutz über Mund und Nase und reichte auch Jens eine Maske.

"Die werd ich nicht brauchen, denn ich bin jetzt ja immun", protestierte Jens.

"Gegen die Grippe wohl schon. Aber da können alle möglichen zusätzlichen Bakterien rumschwirren und gegen die sind Sie nicht immun. Superinfektion hat der Mann vom Gesundheitsamt das genannt. Das Super käme aber nicht davon, dass die Infektion so gross sei, sondern weil sie sich über die Grippeinfektion drüber gestülpt hat. Die Maske ist also Pflicht. Sie können sich gleich schon mal daran gewöhnen."

Jens setzte die Maske auf und hatte einen kurzen Moment das Gefühl wieder zu ersticken, was Panik aufsteigen ließ. Doch er riss sich mühsam zusammen, sagte sich, dass keine Erstickungsgefahr bestand und atmete möglichst ruhig durch das weiße Gewebe.

Die Fahrt durch die leere Stadt dauerte nur kurz und führte sie in ein ärmeres Stadtviertel, in dem Jens schon mehrmals entrümpelt hatte. Herr Lorenz hielt neben dem blauen Lieferwagen, mit dem Herr Müller unterwegs war. Dieser kam gerade aus dem Haus, beladen mit einem Sack, der nur halb gefüllt schien.

"Ein kleines Mädchen", sagte er mit bekümmertem Gesichtsausdruck, nachdem er den Sack im Innern des Lieferwagens verstaut hatte. "Gut, dass Sie kommen, junger Mann. Alleine komme ich kaum hinterher mit der Arbeit."

"Richtig gesund bin ich aber noch nicht. Ein paar Stunden gehen vielleicht."

"Vor ein paar Tagen lag ich auch noch im Bett. Aber mich hats auch weniger schlimm erwischt, als die armen Teufel hier", dabei machte er eine ausholende Geste, die alle Häuser der Umgebung umschloss.

Herr Lorenz gab Herrn Müller noch einen dünnen Stapel Papiere, dann winkte er zum Abschied, setzte sich in sein Auto und fuhr davon. Herr Müller zog eine Liste aus der Tasche, studierte sie sorgfältig, ergriff einen leeren Leichensack und bedeutete Jens ihm zu folgen. Im zweiten Stock, vor einer Wohnung angekommen, nestelte er an seinem überdimensionierten Schlüsselbund, bis er den gewünschten Schlüssel gefunden hatte und schloss die Wohnungstür auf.

Beim Öffnen der Tür schlug den beiden ein muffig, süsslicher Geruch entgegen, der aber durch die Masken gedämpft wurde. Herr Müller drückte einen Schalter und Licht fiel auf hunderte von kleinen Engelchen, die sorgfältig auf einer Kommode angeordnet waren. Die Blumen an der Tapete ließen den Flur trotz Beleuchtung düster wirken.

"So, jetzt schauen wir erstmal nach dem Rechten und dann müssen wir nach Ausweisen suchen, um sie den Toten mitzugeben", sagte Herr Müller und öffnete eine Zimmertür nach der anderen. Hinter der zweiten Tür verbarg sich offenbar das Schlafzimmer, denn Herr Müller betrat den Raum und der süßliche Geruch verstärkte sich.

Als Jens in den Raum trat, hatte sich Herr Müller vor dem Bett aufgebaut und deutete auf die alte Frau, die sich darin befand und nicht rührte. Ihr Gesicht war bläulich angelaufen und die Züge leicht verzerrt. Ansonsten sah es aber fast so aus, als schliefe sie.

"Wir haben Glück, dass Winter ist und viele der Wohnungen kaum geheizt sind", dozierte Herr Müller. "Denn dadurch gibt es nur wenig Befall durch Maden und auch der Geruch hält sich in Grenzen. Dadurch sind die meisten der Toten wie frisch. Das hat mir der Herr vom Gesundheitsamt so gesagt und im Grossen und Ganzen hat er Recht behalten. Wo wir schon mal hier sind, können wir sie auch gleich in den Sack stecken. Packen Sie mal mit an, junger Mann."

Er zog die Decke weg und legte den mitgebrachten Sack neben die klapperdürre Frau, deren verknittertem Nachthemd man noch deutlich ansah, wie sehr sie geschwitzt haben musste. Jens öffnete den Reissverschluss des Sackes, denn das war der offensichtlich nächste Schritt der Aktion und mit vereinten Kräften hoben sie die Frau in den Sack. Sie war so leicht wie sie aussah, doch Jens merkte deutlich, dass er körperliche Arbeit nicht mehr gewöhnt war. Dann schloss er den Reissverschluss wieder und Herr Müller half, indem er die Falten des Sackes glättete und den Reißverschluss zusammenhielt.

"So, jetzt müssen wir nach einem Ausweis suchen. Der wird dann in so ein Tütchen gepackt, dazu noch das ausgefüllte Formular und mit Klebestreifen an den Sack geheftet. Suchen Sie doch schon mal nach einer Handtasche oder in Schubladen, ob Sie den Ausweis finden. Ich übernehme das Formular."

Jens blickte sich im Schlafzimmer um, sah dort aber keine Handtasche offen herumliegen. Dann ging er zurück in den Flur, aber am Gaderobenhaken hing nur ein Mantel und auf der Ablage darüber lag ein Hut. Er öffnete die nächstliegende Tür, hinter der sich ein schlauchförmiges Badezimmer befand. Hinter der nächsten Tür fand er ein Wohnzimmer, aber keine Handtasche. Er fühlte sich wie ein Eindringling, als er einen Stuhl mit geschwungenen Holzlehnen umrundete, den er für einen Biedermeierstuhl hielt. Auf dem peinlich ordentlichen Sekretär, der dahinter stand, lagen zwei Briefe, die auf einen flüchtigen Blick hin nach Rechnung aussahen, ein gebundenes Buch mit der Aufschrift "Tagebuch", aber weder Ausweis noch Handtasche. Hier könnte er aber eventuell später noch in den Schubladen suchen, falls das mit der Handtasche nicht klappen sollte.

In der Küche wurde er endlich fündig. Auf einem Stuhl, der weitgehend unter den Küchentisch geschoben war, stand eine typische Altdamen-Handtasche. Die Öffnung der Handtasche war Jens sehr suspekt, daher trug er sie lieber ungeöffnet zu Herrn Müller, der im Schlafzimmer an einer Kommode stand und Kreuze auf ein Formular setzte.

"Hier hab ich die Handtasche. Die sollten wir vielleicht unter Zeugen durchsuchen", sagte Jens.

"Gut, dass Sie das vorschlagen. Da ich bisher alleine gearbeitet habe, hab ich glatt vergessen, es zu erwähnen. Also geben Sie mal her, ich hab da schon Übung."

Jens übergab ihm erleichtert die Handtasche. Nach kurzer Zeit hatte Herr Müller einen Personalausweis entdeckt und verschloss die Tasche wieder.

"Gut", sagte Herr Müller. "Schauen Sie sich das Formular gut an, das muss immer ausgefüllt werden, mit Name, Adresse, Fundort. Für den Zustand gibt es verschiedene Ankreuzmöglichkeiten, die Raumtemperatur müssen wir messen, hier sinds fünfzehn Grad, ob ein Ausweis vorhanden ist, und so weiter. Sehen Sie: lauter Detailkram. Ist aber nötig für die ärztliche Begutachtung, Erbensuche und für unseren Lohn. Ok, dann können wir die Dame jetzt runtertragen."

Herr Müller befestigte die Unterlagen mit einem breiten Klebeband am Sack, aber so, dass man ihn noch öffnen konnte. Dann forderte er Jens auf, die Füsse zu ergreifen und nahm selber den Oberkörper. Außerhalb der Wohnung legten sie ihre Last vorsichtig auf den Boden, denn Herr Müller musste noch das Licht löschen und die Tür nicht nur abschließen, sondern auch mit einem amtlich aussehenden Siegel verkleben.

Der Sack erwies sich auf dem Weg nach unten als unhandlich und Jens befürchtete mehrmals, dass er ihm aus den Händen rutschen würde, aber sie kamen heil auf der Straße an. Wie hatte Herr Müller die Säcke nur allein bewältigt? Jens staunte nicht schlecht über die Kraft des Mannes, der durch seine Grippe auch sichtbar dünner geworden war. Aber er war immer noch ein Bär und Jens fühlte sich neben ihm fast zierlich, obwohl er sich sonst eher für gross und stark hielt. Die Stärke würde ja hoffentlich bald wieder zunehmen.

Als der Sack im Lieferwagen ordentlich auf einer Reihe anderer Säcke lag, fragte Jens: "Was passiert denn jetzt mit den Toten und mit deren Wohnungen?".

"Die Säcke fahren wir später auf den neuen Friedhof, der außerhalb der Stadt eröffnet wurde. Dort werden sie noch von Ärzten begutachtet, vonwegen ordentlichem Totenschein, und dann kommen sie in eine Art Massengrab, Seit an Seit mit ihren Leidensgenossen. Die Wohnungen bleiben für einen Monat versiegelt, damit die Erben Zeit haben, sich zu melden, dann wird das Meiste entrümpelt und verscherbelt. Ein Treuhänder bekommt den Großteil des Geldes. Er verwaltet es, bis die Erben aufgetrieben wurden. Unser Chef erhält natürlich Prozente. Hier hab ich einen Kaffee für Sie, extra aus dem Büro mitgebracht."

Her Müller holte eine Thermoskanne aus dem Führerhaus und schenkte Jens einen Becher ein. Der Kaffee schmeckte belebend nach Power-Kaffee.

"Und wie gehts jetzt weiter?", fragte Jens.

"Jetzt kommen die nächsten zehn Opfer dran."

Jenseits des Ölgipfels

Peak Oil
von Jeremy Leggett

Peakoil Reloaded
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Jenseits des Ölgipfels
Jenseits des Ölgipfels

268 Seiten
ISBN 3-933634-18-0

Preis: 16.90 Euro

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