Johannas Eltern trugen die Neuigkeiten mit erstaunlich viel Fassung. Herr Trautmann räumte sogar ein, dass er zwar versucht hatte, Johanna durch den Job für Jens ans Elternhaus zu binden, aber dass er fast schon mit dem Scheitern dieses Versuches gerechnet hatte. Die geplante Heirat wirkte geradezu Wunder bei der Argumentation, vor allem bei Frau Trautmann, deren Augen sich vor Entsetzen geweitet hatten, als Johanna verkündete, dass sie wegziehen würde. Beim Thema Hochzeit schlug die Stimmung um, und Frau Trautmann wandte sich der Festplanung zu. Glücklicherweise waren alle einverstanden, die Hochzeit im kleinen Rahmen zu feiern, weil ein rauschendes Fest in diesen schwierigen Zeiten unpassend wäre. In Frau Trautmanns Augen konnte man jedoch schon die vielen Kuchen erahnen, die sie für diese Gelegenheit backen würde. Als alles geklärt war, spendierte Herr Trautmann einen Cognac und sie tranken auf das Wohl des jungen Paares. An Details über den Hof war Herr Trautmann sehr interessiert, was sich durch eine Vielzahl von Fragen äusserte. Jens hatte den Eindruck, dass es für Johannas Vater einen wesentlichen Unterschied machte, ob sein künftiger Schwiegersohn ein mittelloser Entrümpler oder Hofbesitzer war. Das konnte Jens jedoch gut nachvollziehen, denn er ahnte, dass er vermutlich ähnlich denken würde. Schließlich will man seine Tochter ja in einer möglichst sicheren Umgebung wissen. Nach dem Gespräch fuhr Johanna wieder mit zu Jens, denn die beiden frisch Verlobten wollten gerne den Rest des Abends miteinander verbringen. Jens öffnete eine Flasche Sekt, die er kürzlich bei Olivier erstanden hatte, um für eventuelle Feiern gerüstet zu sein. Diese Gelegenheit hatte sich schneller ergeben als erwartet. Olivier hatte erzählt, dass der Winzer, der den Sekt hergestellt hatte, ein persönlicher Freund von ihm sei und im Kaiserstuhl wohnte. Ganz in der Nähe ihres zukünftigen Selbstversorger-Hofes. "Weisst du, was ich schon immer gerne machen wollte?", fragte Johanna, als sie zusammengekuschelt im Bett lagen und sich von der körperlichen Bestätigung ihres Heiratsversprechens erholten. "Nein, weiss ich nicht, aber du wirst es mir bestimmt erzählen." "Kleidung aus selbstgemachten Stoffen. Mit Milchschafen für Milch und Wolle, einem Hanffeld für Hanfkleidung, Spinnrad, Webrahmen und dann nähen." "Klingt interessant." "Ist es auch. Vor allem, weil ich schon längere Zeit damit rechne, dass wir ernsthafte Lieferprobleme mit Baumwolle bekommen werden. Die armen Bauern in den Baumwollanbau-Ländern haben kein Geld mehr für die teuer gewordenen Schädlingsbekämpfungsmittel und der Transport ist auch fast unbezahlbar geworden. Jetzt brauchen sich die Schädlinge nur noch kräftig vermehren, was bei den ganzen Monokulturen bestimmt bald passiert und die ganze Welt muss in Lumpen oder Synthetics rumrennen, wobei die synthetischen Stoffe durch das fehlende Öl ja auch immer teurer werden." "Soweit hatte ich bisher noch gar nicht gedacht, aber das leuchtet ein. Ohne Baumwollnachschub sieht es echt schlecht aus mit Kleidern und Textilien aller Art." "Genau, und dagegen will ich was unternehmen." "Da wirst du aber viel zu tun haben, wenn du die ganze Welt mit Baumwollersatz-Stoffen versorgen willst." "Du Witzbold! Erstmal mach ich das natürlich für uns und wenn was übrig bleibt, können wir die Sachen auch verkaufen. Aber billig werden die bestimmt nicht, denn das Spinnen und Weben macht irre viel Arbeit. Habe ich schon mal ausprobiert." "Wenn wir zuviel Milch von den Schafen haben, können wir auch Schafskäse daraus machen." "Brot backen fällt mir grad noch ein." "Vielleicht ein paar Hühner." "Und Marmelade kochen." So warfen sie sich gegenseitig noch viele Ideen zu, bis sie müde wurden und einschliefen. Den Tsunami in Japan hatten sie völlig vergessen. Am nächsten Morgen fiel er ihnen jedoch schlagartig wieder ein, als sie daran dachten, warum Jens ausschlafen durfte und sie schalteten den Fernseher ein, um die neuesten Nachrichten zu erfahren. Die Katastrophe hatte jetzt auch die restliche Welt ereilt, denn die Energiepreise waren fast überall auf das Dreifache hochgeschnellt. Dabei war es egal, ob es sich um Erdöl, Erdgas, Kohle oder Strom handelte. Ausserdem waren die Börsenkurse zusammengebrochen. Die Börsen hatten inzwischen den Handel eingestellt, um weiteren Kursverfall zu verhindern. Das geschäftliche Leben war weitgehend zum Stillstand gekommen. In Japan selbst liefen die Rettungsmaßnahmen quälend langsam, obwohl fast alle überlebenden Japaner, die dazu in der Lage waren, als Freiwillige mithalfen. Man konnte sehen, wie sie allenorts wie Ameisen durch die Trümmer wimmelten. Für die Bergung von Verletzten in den Innenstädten waren sie jedoch zu langsam, denn sie hatten sich erst in die Randbezirke der Städte vorgearbeitet. Überall sah man lange Reihen von geborgenen Toten, doch aufgrund des starken Frostes war es kaum möglich, Gräber zu graben und für die massenhafte Verbrennung fehlte Treibstoff. Die Kälte war nur in sofern vorteilhaft, als Seuchen dadurch weitgehend verhindert wurden. "Da sieht man mal Leichensammeln in grossem Stil und ich dachte schon, bei uns sei das eine grosse Aktion. Was bin ich froh, dass ich dort nicht mitmachen muss.", entfuhr es Jens beim Anblick der vielen Toten. "Immerhin hast du hier mitgemacht. Das hätte wohl auch nicht jeder." "Mir blieb auch kaum was anderes übrig, wenn ich meinen Job behalten wollte. Das zählt eigentlich nicht so richtig." "Ich bin innerlich total zerrissen. Einerseits schieres Entsetzen über das, was da passiert ist, so dass es mir den Magen zusammenzieht. Andererseits enorme Freude über unseren Bauernhof, so dass ich pausenlos jubeln könnte." "So ähnlich geht es mir auch. Lass uns erstmal frühstücken, dann wird es vielleicht etwas besser." Nachmittags besuchten sie zusammen Heide Wagner, um ihr von der Entscheidung zu berichten, den Hof gemeinsam anzunehmen. Heide war sehr glücklich darüber, vor allem auch, weil Johanna sich entschlossen hatte, mitzumachen. Die beiden Frauen schienen sich auf Anhieb gut zu verstehen. Heide holte einen kleinen Stapel Papiere aus einer Schublade. Sie nannte einen Betrag für das Startkapitel, der Jens nach Luft schnappen ließ. "Das ist ja irre viel. Damit kann man ja ein ganzes Haus kaufen." "Aber nur ein kleines Haus.", schmunzelte Heide. "Glaub mir, ihr werdet es brauchen, denn soweit ich es mitbekommen habe, sind alle Rohstoffe sehr viel teurer geworden und für euren Ausbau werdet ihr Rohstoffe brauchen, viele Rohstoffe. Auch Saatgut und Jungtiere kosten Geld. Wahrscheinlich wird das Geld knapp werden; zuviel ist es bestimmt nicht." "Wenn du davon überzeugt bist, will ich mich nicht weiter sträuben." "Die Sache hat nur einen Haken: Wenn ich dir das Geld und den Hof einfach schenke oder wir es als Erbe deklarieren, müsstest du ein Vermögen an Steuern bezahlen." "Vielleicht könnten wir es als Darlehen ausgeben." "Das werden wir teilweise sowieso machen, um die Beträge kleiner zu halten. Die preiswerteste Dauerlösung wäre jedoch, wenn ich dich adoptieren würde." "Adoptieren? Aber ich bin doch schon erwachsen." "Das spielt bei Adoptionen keine Rolle. Das wäre ein kurzer schmerzloser Akt bei einem Notar und du würdest Hundertausende sparen. Wir wären dann Mutter und Sohn. Würdest du das wollen?" "Eigentlich habe ich ja einen Mutterplatz frei und du einen Platz für einen Sohn. Warum eigentlich nicht? Wahrscheinlich beinhaltet so eine Adoption auch, dass ich mich nach Kräften um dich kümmere, wenn du alt wirst. Aber das würde ich wohl sowieso tun, wenn es vom Süden aus auch schwer wird." "Sowas Nettes habe ich aber lange nicht gehört: wenn du alt wirst. Dabei bin ich jetzt doch schon uralt. Keine Sorge! Meistens komme ich ganz gut alleine klar und ich habe auch noch genug Geld übrig, um mir Pfleger leisten zu können." So war es also beschlossen. Anschließend wälzten sie noch Fotoalben und Grundrisspläne, um sich einen besseren Eindruck über den Hof zu verschaffen. Johannas Augen wurden immer grösser. Sie erkannte einige Elemente, die Jens bisher gar nicht aufgefallen waren, als besonders nützlich. Da war zum Beispiel noch eine kalte Quelle auf der anderen Seite des Baches, die der Wasserversorgung diente. Auch die kleine Molkerei und die anderen Nebengebäude versetzten Johanna in Entzücken. Beim Anblick des Platzes mit der warmen Quelle fing sie an zu summen und sich hin und her zu wiegen, als würde die Freude es ihr unmöglich machen, still zu sitzen. "Ich fühle mich wie im Märchen. Das kann doch alles kaum Realität sein. Und der Rest der Welt, ganz weit weg, ist im Grauen der Vernichtung erstarrt. Die normale Welt hat sich wohl in Luft aufgelöst.", sagte Johanna, als sie wieder Worte für ihre Gefühle fand. Später, nachdem Johanna wieder bei ihrer Familie war und Jens in seiner Wohnung saß, rief er Andreas an, um ihm den Job im Bistro anzubieten. "Sorry, den Job kann ich nicht annehmen, denn dann würde ich sofort aus der Grundsicherung rausfallen und fürs Leben würde mir der Verdienst dann nicht reichen.", antworte Andreas, als Jens ihm die Rahmenbedingungen des Bistrojobs erklärt hatte. "Schade, und für Thomas sieht es bestimmt genauso aus, oder?" "Thomas wird nie mehr arbeiten, denn der ist an der Grippe gestorben." "Oh, das wusste ich nicht. Sorry, das tut mir leid." "Muss dir nicht leid tun. Ich hab mich schon daran gewöhnt, dass hier viele gestorben sind. Ich selbst habe Glück gehabt und bin mit einer leichten Lungenentzündung davongekommen." "Lungenentzündung habe ich auch gehabt, aber das scheint mir inzwischen schon ewig lange her. Nun gut, wenn du den Job nicht willst, muss mein Chef eben jemand anders finden." Ricardo war nicht begeistert über Jens' Kündigung, aber er war zuversichtlich, innerhalb eines Monats Ersatz finden zu können. Als Jens endlich zur Ruhe kam, auf seinem Bett lag und die Decke betrachtet, fühlte er sich wie im Märchen, genau so, wie Johanna es beschrieben hatte. Innerhalb von zwei Tagen hatte er nicht nur eine zukünftige Ehefrau, sondern auch eine neue Mutter bekommen, war vom mittellosen Hilfsarbeiter zum vermögenden Hofbesitzer aufgestiegen und das alles, während woanders die Welt zu Bruch ging. Ein Gefühl von Scham brannte sich durch seine Freude, aber wenn er daran dachte, dass es grobe Undankbarkeit wäre, wenn er sich jetzt nicht freuen würde, ließ die Scham allmählich wieder nach. Ob es richtig war, sich von Heide adoptieren zu lassen? Wie eine Grossmutter hatte er sie sowieso schon empfunden, auch unabhängig von dem Hof. Irgendwie tat es gut, eine Vertraute der älteren Generation zu haben, das hatte er bei seinen Besuchen gemerkt. Heide war ja auch nicht irgendeine alte Frau, sondern eine besonders herzliche und interessante Dame. Also war die Adoption wohl die richtige Entscheidung. Jens und Johanna rechneten damit, dass es einen Monat dauern würde, um alles zu regeln: die Adoption, die Hochzeit und den Umzug. Sie würden also Anfang März in Richtung Süden fahren, um rechtzeitig zur Aussaat dort zu sein. Vielleicht wäre es sinnvoll, in der Zeit bis dahin einige von Oliviers Bauern zu besuchen, um einen lebendigen Eindruck von den ganzen Möglichkeiten zu bekommen, dachte sich Jens. |
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