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Jenseits des Ölgipfels

Kapitel 6


  
Gleich nach dem Aufwachen drückte Jens auf einen Lichtschalter, um auszuprobieren, ob der Strom wieder funktionierte. Er funktionierte - Jens seufzte erleichtert. Beim Morgenkaffee schaltete er ausnahmsweise den Fernseher ein, denn er wollte unbedingt wissen, was es mit dem Stromausfall auf sich hatte. Schon nach wenigen Minuten wurde darüber berichtet. Anscheinend war der Stromausfall das Top-Thema des Tages. Ausser den bereits vermuteten Ursachen hatte wohl auch eine Rolle gespielt, dass die Besitzer von Mietshäusern aufgrund der hohen Heizöl-Preise die Zentralheizungen noch nicht in Betrieb genommen hatten. Aus diesem Grund hatten viele kälteempfindliche Menschen mit elektrischen Heizgeräten geheizt, denn die Temperaturen waren inzwischen sehr herbstlich.

Mit Nachdruck wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass man auf gar keinen Fall elektrisch heizen sollte, um weitere Stromausfälle zu verhindern. Die Hausbesitzer wurden gebeten, die Zentralheizungen in Betrieb zu nehmen. Ein betroffener Hausbesitzer sagte bei einem Interview, dass er gerne die Heizung anschalten würde, wenn die Mieter zuverlässig zahlen würden. In dieser Hinsicht hatte er aber Bedenken, weil die Heizkosten mindestens doppelt so hoch sein würden wie im letzten Jahr. Selbst damals sei er schon auf einem großen Teil der Heizkosten sitzengeblieben.

In einer Boulevard-Sendung trat ein Energiespar-Experte auf und gab Tipps zum Einsparen von Heizenergie in Haushalten. Zuerst hielt er einen längeren Vortrag über den Nutzen von Rolläden und mehrfach verglasten Fenster. Jens schüttelte den Kopf, denn er hielt diese Tipps für einen Großteil der Zuschauer für sinnlos, weil sie viel zuviel kosteten. Als hätte der Experte Jens Bedenken geahnt, empfahl er anschließend noch Maßnahmen für den schmalen Geldbeutel. Er stellte einen Fenstereinsatz vor, der aus einfachen Holzleisten und einer Plastikplane bestand und den man innen vor das Fenster setzen konnte. Das sei ein billiger Ersatz für Doppelfenster. Ausserdem legte er allen Bewohnern nahe, eventuelle Ritzen in ihren Wohnungen zu verschließen, sei es mittels Bauschaum oder zur Not auch einfach mit alten Zeitungen.

Der Tipp mit den Zeitungen gefiel Jens recht gut, denn ein paar alte Zeitungen ließen sich bestimmt auftreiben. Momentan fand er es eigentlich noch nicht so kalt, dass er heizen wollte, aber wenn es kälter werden würde, könnte er das Verstopfen der vielen Ritzen seiner Altbauwohnung durchaus in Angriff nehmen.

Von Plünderungen wurde auch berichtet. Anscheinend hatte es außer dem Ereignis, dessen Zeuge er mit Tina geworden war, noch etliche andere Einbrüche in Läden gegeben. Auch von Überfällen auf Passanten war die Rede. Einmal mehr war Jens froh, dass er Tina nachhause begleitet hatte. Die Fernsehberichte zeigten Ladeninhaber, die dem Nervenzusammenbruch nahe waren, weil sie sowieso schon schwer unter der Wirtschaftsflaute und den gestiegenen Energiekosten gelitten hatten. Die zusätzliche Plünderung bedeutete das sichere Aus für ihre Geschäfte.

Als hätten die Hiobsbotschaften in Zusammenhang mit dem Stromausfall noch nicht ausgereicht, kam anschließend ein Bericht über eine Rentnerin, die in ihrer Wohnung verhungert aufgefunden worden war. Als sie entdeckt wurde, war sie schon über eine Woche tot gewesen, aber keiner hatte sie vermisst. Erst der Briefträger war aufmerksam geworden, als er mehrfach ein Einschreiben nicht zustellen konnte. Dass er nicht einfach einen Zettel in den Briefkasten geworfen hatte, lag daran, dass er schon seit Jahrzehnten in der Gegend Brieträger war und wusste, dass die alte Frau den weiten Weg zum nächsten Postamt kaum schaffen konnte. Daher versuchte er immer wieder, das Einschreiben persönlich zu überbringen, bis er nach drei Tagen die Polizei alarmierte. Mehrere befragte Ärzte aus der Gegend erzählten, dass gestorbene Rentner in letzter Zeit immer öfter stark untergewichtig seien.

Jens schaltete den Fernseher aus, denn für einen Morgen hatte er genug vom Schrecken vor der eigenen Haustür. Da ging er doch lieber den netten Mädels beim Kochen helfen. Diesmal war der Zwiebelberg noch grösser als am Tag zuvor. Keiner wollte riskieren, dass das Essen auch an diesem Tag zu knapp würde. Ausserdem war der Höhepunkt des Monats zu erwarten, denn heute war der Monatsletzte und am nächsten Tag würde der Ansturm erfahrungsgemäss deutlich nachlassen.

Wie erhofft reichte das Essen diesmal sehr gut aus, um alle Gäste zu sättigen. Sogar für Nachschlag war noch genug in den Töpfen. Als Jens später mit den anderen Helfern in der Küche saß und seine eigene Portion aß, musste er an die verhungerte Rentnerin denken. Hier in der Stadt, in der Nähe der Armenspeisung wäre sie wahrscheinlich nicht verhungert. Kein Wunder, dass soviele Menschen vom Land in die Stadt zogen. Dort draußen wurde die Infrastruktur immer schlechter, schon seit vielen Jahren. Ohne Auto und Benzin, um damit zu fahren, konnten die meisten Landbewohner nicht mal die grundlegendsten Dinge einkaufen, weil die kleinen Läden auf dem Land nach und nach alle aufgegeben worden waren. Aber auch hier in der Stadt schien sich die Situation rapide zu verschlechtern.

Das Dankeslied der anderen Helfer riss Jens aus den düsteren Gedanken. Eigentlich hatte er wirklich Grund zu danken, denn hungrig war er noch nie geblieben, auch wenn das Geld manchmal knapp war.

Den Nachmittag verbrachte er in Supermärkten, wo er sich die Preise der billigsten Nahrungsmittel aufschrieb. Es war ihm zwar etwas peinlich, ohne Einkauf durch die Kasse zu gehen, nachdem er ausgiebig Preise notiert hatte, aber sein letztes Geld wollte er nicht für unnötige Dinge ausgeben, nur um sich diese Peinlichkeit zu ersparen. Bis zu Dienstbeginn am Abend hatte er eine grobe Kalkulation für die Billigmahlzeiten im Bistro zusammengestellt.

Am Abend des Monatsletzten zahlte Ricardo ihm traditionell einen kleinen Teil seines Gehaltes in bar, damit er schon mal Geld zum Einkaufen hatte. Der Rest wurde dann im Lauf der nächsten Tage überwiesen. Diese Gelegenheit ergriff Jens beim Schopfe, um Ricardo die Idee mit den billigen Mahlzeiten vorzustellen.

"Schau mal, ich habe eine Idee ausgearbeitet, wie man mit erschwinglichen warmen Mahlzeiten den Umsatz des Bistros ankurbeln könnte.", fing Jens an.

"Zeig mal her.", Ricardo nahm die Seiten mit den Kalkulationstabellen an sich. "Mit Linsensuppe und Spaghetti? Wie kommst du denn auf diese Idee?".

"Einige Gäste haben geäussert, dass sie gerne öfter richtig warme Mahlzeiten essen würden, aber selbst nicht kochen können. Und da die meisten kaum Geld haben, dachte ich an die allerunterste Preisklasse. Schau mal hier die Materialkosten. Die sind wirklich sensationell gering im Vergleich zu dem was wir sonst ausgeben."

"Das ist richtig. Aber das Kochen dieser Mahlzeiten nimmt erheblich mehr Zeit in Anspruch, als Baguettes zu überbacken. Wie hast du das kalkuliert?"

"Erstmal würde ich das Organisieren und Kochen ohne Zusatzlohn machen, damit du kein Risiko damit hast. Natürlich möchte ich weiterhin für die bisher üblichen Stunden bezahlt werden; das ist ja mein Anreiz, diese Aktion zu unternehmen. Und wenn es dann läuft, können wir weitersehen."

"Das klingt schonmal ganz brauchbar, wenn du kostenlos die Mehrarbeit leistest. Und soll das ganze mittags oder abends stattfinden?"

"Die Entscheidung für mittags oder abends finde ich gar nicht so einfach. Für abends spricht, dass dann mehr los ist. Auch die Leute, die über Mittag arbeiten, können dann kommen."

"Ok, dann also abends, aber was wird aus den Tagen, an denen du gar nicht hier bist. Dein Kollege wird wohl kaum freiwillig Linsensuppe kochen."

"Im Zweifelsfall machen wir es halt nur, wenn ich Dienst habe. Vier warme Mahlzeiten in der Woche sind besser als gar keine."

"Ok, testen wir eine Woche lang, ob du damit klar kommst. Wenn ja, können wir die Testphase auf einen Monat verlängern. Aber die Zutaten finanzierst du selber vor und erst von den Einnahmen erstatte ich dir die Kosten.", beschloss Ricardo.

Jens schluckte, denn das mit dem Vorfinanzieren schmeckte ihm überhaupt nicht, aber ansonsten war es eigentlich besser als erhofft gelaufen. Ob das ein Hinweis darauf war, dass Ricardo das Wasser bis zum Hals stand? Nun ja, egal, Jens würde versuchen, das Beste daraus zu machen.

Im Verlauf des Abends schrieb er auf eine Tafel "Morgen: Spaghetti mit Tomatensoße zum sensationellen Billigpreis.". Ausserdem erzählte er den Gästen, die er kannte, dass es ab morgen viermal in der Woche warme Mahlzeiten geben würde.

Am nächsten Tag war Jens schon am Morgen ganz aufgeregt und dachte immerzu an sein abendliches Vorhaben. Am Nachmittag holte er seine Satteltaschen aus dem Keller, damit er mehr Material mit dem Fahrrad transportieren konnte. Auf Dauer würde das wohl nicht reichen; er brauchte unbedingt einen Fahrrad-Anhänger. Aber angesichts seiner Lohnkürzung konnte er sich den zur Zeit nicht leisten. Fürs Erste musste er mit dem auskommen, was er hatte.

Für sich selbst kaufte er nur eine Packung Kaffee und Kondensmilch, der ganze Rest seines Einkaufs war fürs Bistro vorgesehen. Am Schluss war sein Fahrrad so beladen, dass er es schieben musste. Darum brachte er die Einkäufe auch direkt ins Bistro, ohne nochmal nach Hause zu gehen. Zu Hause erwartete ihn sowieso nichts und im Bistro konnte er schon mal alles vorbereiten für seine Kochaktion.

Damit seine Mahlzeit auch Abnehmer finden würde, beschriftete er ein grosses Schild mit dem neuen Angebot und stellte es auf die Straße vor das Bistro. Den ganzen Tag schon hatte er überlegt, mit wievielen Portionen er anfangen sollte, denn wenn er zuviel kochte, würde es gleich Verluste einbringen. Also entschied er sich für zwölf Portionen in der ersten Runde. Da das Kochen nur etwa eine halbe Stunde dauern würde, müsste es später auch möglich sein, weitere Spaghetti nachzukochen, wenn der Ansturm auf seine Mahlzeit größer sein sollte.

Das Zwiebelschneiden ging ihm inzwischen flott von der Hand, sodass er im Nu fertig war. Im Gegensatz zu den riesigen Portionen bei der Armenspeisung schien Jens seine Kochmenge fast lächerlich klein.

Kaum waren die Spaghetti fertig, kamen auch schon die ersten Gäste. In kurzer Zeit waren die ersten zwölf Portionen vertilgt und Jens machte sich in aller Eile an die nächste Ladung. Endlich war mal wieder etwas mehr Betrieb im Bistro. Noch vor einem Jahr hätte er diese Anzahl an Gästen noch als schwach besucht bezeichnet, aber für aktuelle Verhältnisse konnte man es fast Ansturm nennen. Erst nachdem er mehr als dreißig Portionen rausgeschickt hatte, wurde es etwas ruhiger.

Für eine kleine Pause setzte er sich zu Bennie, Andreas und Thomas, die wie erhofft zu seiner ersten Billigmahlzeit gekommen waren.

Andreas fragte: "Sag mal, kann ich eigentlich gleich für die ganze Woche zahlen, dann hab ich die warmen Mahlzeiten schon mal sicher und geb das Geld nicht für was anderes aus?".

"Hm, auf diese Idee bin ich noch gar nicht gekommen. Aber warum eigentlich nicht? Bevor du am Ende der Woche kein Geld mehr hast, nehmen wir es doch lieber gleich. Ich besprech das mal mit Tina und dann kannst du das mit ihr regeln, denn ich hab mit dem Kassieren nichts zu tun.", antwortete Jens.

"Au ja, das ist ne gute Idee. Ich glaub, das mach ich auch.", sagte Thomas.

"Kann man auch gleich für den ganzen Monat zahlen?", fragte Bennie.

"Eher nicht, denn bisher sind die warmen Mahlzeiten nur für eine Woche sicher. Danach sehen wir weiter.", erklärte Jens.

Tina freute sich über die Idee mit den Vorauszahlungen. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass Andreas und Thomas am Ende der Woche noch genug Geld übrig hatten, hielt sie wohl für gering.

Am nächsten Tag gab es Linsensuppe und die Anzahl der Essensgäste stieg auf nahezu sechzig an. Jens war in seiner engen Küche voll am Rotieren und kam kaum mit der Produktion der Suppe hinterher. Trotz Stress freute er sich aber über den großen Andrang, denn das zeigte ihm, dass seine Idee gut gewesen war. Auch Ricardo ließ sich kurz blicken und schien sehr zufrieden, denn nicht nur die Suppe verkaufte sich gut, sondern die Gäste bestellten auch fast alle noch Getränke zum Essen und das brachte ordentlich Gewinn. Sogar ein paar Baguettes wurden verkauft.

Als Jens am Wochenende wieder Dienst hatte, brach vollends das Chaos aus. Diesmal gab es Asia-Gemüse, wobei das asiatischste daran wohl das viele Curry war, das Jens zum Würzen benutzte. Ansonsten waren die Zwiebeln in dreieckige Stücke geschnitten und die Karotten gestiftet, was dem Ganzen ein etwas exotischeres Aussehen geben sollte. Natürlich machte dieses Gericht erheblich mehr Arbeit als die schlichten Spaghettis. Das China-Gemüse erfreute sich so grosser Beliebtheit, dass gegen zehn Uhr alles aufgegessen war und Jens kein Gemüse mehr hatte, um noch mehr nachzukochen. Daher kochte er noch mehrere Töpfe Spaghetti, denn davon hatte er so reichlich eingekauft, dass noch genug vorhanden war. Bis zum Ende der Öffnungszeit hatte er knapp hundert Portionen verkauft und war völlig erschöpft. Wenn das am nächsten Tag so weitergehen würde, würden die geplanten Kartoffeln mit Quark nicht ausreichen, denn die Reserve-Nudeln waren ja schon verbraucht.

Ein weiteres Problem würde der Einkauf darstellen, denn mit seinem Fahrrad artete die Zutatenbeschaffung in echte Arbeit aus. Für den Wochenendeinkauf hatte er schon vier Touren gebraucht, einerseits, weil er gar nicht mehr auf einmal transportieren konnte und andererseits, weil die Supermärkte gar nicht genügend billige Nahrungsmittel auf Lager hatten. Mehrmals war er auch schon schief angeschaut worden, wenn er mit seinen vollen Einkaufswagen zur Kasse ging.

Aber um diese Probleme würde er sich nächste Woche kümmern, zunächst mal war Jens sehr zufrieden mit seinen erfolgreichen Billigmahlzeiten.

Jenseits des Ölgipfels

Twilight in the Desert. The Coming Saudi Oil Shock and the World Economy
von Matthew R. Simmons

Peakoil Reloaded
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Jenseits des Ölgipfels
Jenseits des Ölgipfels

268 Seiten
ISBN 3-933634-18-0

Preis: 16.90 Euro

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