Home
Romane
Vita
Projekte
News
Impressum

Jenseits des Ölgipfels

Kapitel 10


  
Die Umstellung der Armenspeisung auf die neuen Tagesrationen verlief etwas turbulent. Zwar gab es schon am nächsten Tag zwei Paletten, wodurch es gelang, alle wartenden Grundsicherungs-Empfänger zu versorgen, aber die übrigen, die nicht vom Staat ernährt wurden, blieben auf der Strecke. Manche Grundsicherungs-Empfänger stellten sich auch noch zur Suppe an, was dazu führte, dass andere hungrig blieben. Diejenigen, die sowohl Ration als auch Suppe bekommen hatten, sagten, dass sie unbedingt auch noch etwas warmes zu essen haben wollten. Also wurde für die Zukunft beschlossen, dass die Grundsicherungs-Empfänger auf Wunsch zusätzlich eine leichte Nudelsuppe bekommen könnten, aber von der Eintopf-Verteilung ausgeschlossen waren. Diejenigen, die auf andere Weise ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten, oder eher, nicht mehr bestreiten konnten, bekamen Eintopf und eine zusätzliche Scheibe Brot.

Doch der Neid der mittellosen Selbstverdiener blieb ungebrochen. Etliche gaben ihren ständigen Kampf ums selbstständige Überleben auf und meldeten sich beim Bürgeramt. Als Folge dieser Entscheidung mussten sie zwar ihre Wohnungen verlassen und in die staatlich organisierten Containersiedlungen ziehen, aber das nahmen viele in Kauf. In die freiwerdenden Wohnungen, die bisher von einer Person bewohnt worden waren, wurden ganze Familien einquartiert. Alleinstehende zogen in Vierbettzimmer in den Containern oder in passend umgebaute ehemalige Mietskasernen. Nach und nach wurden auch in diesen Siedlungsgebieten Nahrungsautomaten oder menschliche Ausgabestellen eingerichtet, sodass der Ansturm bei der Armenspeisung weniger anschwoll als befürchtet. Der Anteil an Familien und jüngeren Senioren nahm im Vergleich zu jungen Alleinstehenden etwas zu. Die ganz alten Grundsicherungsempfänger wurden weniger, denn für sie war ein großes städtisches Altersheim eröffnet worden, in das hilfsbedürftige Rentner nach und nach einzogen.

Auch Andreas und Thomas waren inzwischen klaglos in eine Containersiedlung gezogen, wie sie bei einem ihrer selten gewordenen Besuche im Bistro berichteten. Es gefiel ihnen zwar nicht, dass sie zu viert in einem Raum leben mussten, aber sie hatten einen Fernseher mitbringen können und konnten dort fünfzig Programme empfangen. Einer hatte auch ein Sofa mitgebracht, für das in dem Raum noch Platz war und so konnten sie recht gemütlich die Tage verbringen. Essen gab es immer in der Nähe; tagsüber war meistens eine Ausgabestelle besetzt und für nachts gab es sogar Automaten. In den Automaten gab es die Riegel und Brote auch einzeln, sodass man sich ganz nach seinem Geschmack bedienen konnte.

Für ihr Taschengeld, "Bürger-Geld" genannt, mussten sie stundenweise in der Siedlung mitarbeiten, was aber anscheinend ein lockerer Job war. Und weil Ricardo inzwischen ein Bürgergeld-Abrechnungsgerät hatte, konnten sie sich mit ihrem Bürger-Geld ein Bier leisten.

Jens war ganz erstaunt, wie zufrieden die beiden im Gegensatz zu früher wirkten. Sonst hatten sie immer an Allem etwas auszusetzen gehabt. Er versprach, sie an einem der nächsten freien Tage in ihrem neuen Zuhause zu besuchen.

Doch bevor er dazu kam, stand eines Nachmittags ein Installateur der Stromwerke vor Jens Wohnungstür, um den Stromzähler auf das neue Abrechnungssystem umzustellen. Jens war erst völlig überrascht, doch dann erinnerte er sich an ein Informationsblatt, das vor einigen Tagen in seiner Post gelegen hatte. Er hatte es gar nicht richtig gelesen, weil er es für unwichtig gehalten hatte, aber anscheinend war er persönlich davon betroffen.

Der Installateur ging zum Stromkasten in der Abstellkammer und baute dort mit wenigen Handgriffen ein kleines Zusatzgerät ein.

Er zeigte auf einen Schlitz in dem neuen Gerät: "Hier sehen Sie, da können Sie Ihre Geldkarte oder eine der neuen Prepaid-Stromkarten einführen. Dann wird der verbrauchte Strom direkt davon abgebucht. Die Prepaid-Stromkarten haben den Vorteil, dass Sie sie an Ort und Stelle belassen können, während Sie mit Ihrer Geldkarte unterwegs sind. Außerdem haben die Karten ein E-Ink-Display, an dem Sie den aktuellen Stromverbrauch und die Kosten ablesen können. Die Karten erhalten Sie entweder bei mir oder in allen Schreibwarengeschäften, Lotto-Annahmestellen und Postämtern. Dort können Sie sie gegen Bargeld aufladen, an Geldautomaten können Sie sie auch über Ihr Bankkonto aufladen. Sofern Sie einen Computer mit Karten-Lesegerät und Internetanschluss oder ein geeignetes Handy haben, können Sie die Karte auch online aufladen. Wünschen Sie eine solche Prepaid-Stromkarte, gegen Gebühr?".

Jens fühlte sich etwas überrumpelt, stimmte aber zu. Die Gebühr dieser Karte würde direkt bei der ersten Aktivierung abgebucht werden, es sei also ratsam, die Karte am Anfang gleich mit etwas Spielraum aufzuladen, damit man den Strom auch nutzen konnte, erklärte der Installateur, als er Jens die Karte überreichte. Jens starrte erst etwas ratlos auf die blau schimmernde Karte, die durch eine metallisch glänzende Fläche geziert wurde. In der oberen Hälfte konnte man ein Display erkennen, das momentan nichts anzeigte. Wie Jens wusste, arbeiteten moderne Karten mit RFID-Technik, von der er nur wusste, dass sie billig herzustellen war und recht viel über den Nutzer verriet.

"Sie können die Karte jetzt aufladen. Haben Sie beispielsweise ein Handy?", drängte der Installateur Jens zu einer Entscheidung.

"Ja, natürlich. Ja, ich habe ein geeignetes Handy", sagte Jens und zog sein Handy aus der Tasche. Bisher hatte er es nur selten benutzt, um damit seine kontengebundene Geldkarte aufzuladen, denn er bevorzugte traditionelle Zahlungsmittel wie Bargeld. Er hoffte, dass noch genug Geld auf seinem Konto war, um die Gebühr zu bezahlen und sich für ein paar Tage mit Strom zu versorgen. Er hatte Glück, denn es reichte gerade so eben.

Als das Display der Stromkarte die gewünschte Zahl anzeigte und in einer Ecke wohlig grün schimmerte, steckte Jens sie in den dafür vorgesehenen Schlitz des Stromzählers. Sofort wurde die Gebühr auf der Anzeige abgezogen. Jens betätigte einen Lichtschalter, woraufhin das Licht wie erhofft anging und die Anzeige auf der Karte den Stromverbrauch anzeigte.

"Ok, das läuft wie es soll", sagte der Installateur und schickte sich an zu gehen.

Jens verabschiedete ihn und setzte sich dann erstmal hin, um über die neue Situation nachzudenken. Auf den ersten Blick sah es so aus, als würde sich gar nicht soviel ändern, weil er ja sowieso für den Strom bezahlen musste. Aber durch den Trick mit der Karte konnte es nie mehr zu höherem Stromverbrauch kommen, als vorab bezahlt wurde. Die Abschaltung des Stromkastens lief dadurch vollautomatisch.

Der Vorteil der neuen Methode konnte aber sein, dass es leichter wurde, sparsam mit dem Strom umzugehen. Bei seinem Handy nutzte er schließlich auch seit Jahren eine Prepaid-Karte und das half ihm durchaus, sich kurz zu fassen.

Am nächsten freien Abend machte sich Jens auf den Weg in die neue Containersiedlung. Sie war in direkter Nachbarschaft zu einer Hochhaussiedlung gebaut worden, die hier schon seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts stand und nach einer Phase des Leerstands jetzt wieder voll genutzt wurde. In den letzten Monaten waren nahezu alle Empfänger von staatlichen Leistungen hier zusammengepfercht worden, weil sich die Stadt die Unterbringung in den bisherigen Mietswohnungen nicht mehr leisten konnte.

Eigentlich erwartete Jens Horden von Jugendlichen, die unterwegs waren, um die Umgebung der Siedlung unsicher zu machen, aber es blieb erstaunlich ruhig. Vielleicht war es den meisten zu feuchtkalt, dachte sich Jens. Nachdem er die alten Hochhäuser hinter sich gelassen hatte, stand er vor der Container-Siedlung.

Die Container ragten dreistöckig vor ihm auf und waren wabenartig angeordnet. Je eine Reihe, die aus mindestens zehn Containern bestand, wechselte sich ab mit einer Gasse, die im ersten und zweiten Stockwerk durch Übergänge unterbrochen wurde. Zu diesen Übergängen führten schmale Treppen. An der Stirnseite jeder Reihe standen grosse Nummern.

Jens befragte sein Handy nach der Nummer, die ihm Andreas mitgeteilt hatte. Dann ging er bis zur sechsten Reihe, durch die enge Gasse bis zum fünften Container und stieg zum Übergang im ersten Stock. Von dort aus kam er in einen kleinen Vorraum, von dem aus ein schmaler Gang zu den Zimmern abzweigte. An der Tür mit der Nummer zwei klopfte er an.

"Herein!", tönte eine gedämpfte Stimme von drinnen.

Das Zimmer, in das Jens trat, wurde von zwei Stockbetten links und rechts dominiert. Die Bewohner sassen an der Fensterseite im hinteren Bereich auf dem Sofa, von dem Thomas erzählt hatte. Ausser dem Sofa standen da noch bequeme Sessel und ein niedriger Tisch. Andreas stellte Jens die beiden Mitbewohner vor, die Timmie und Chris hiessen.

Der Fernseher lief und zeigte eine makabre Ekel-Show. Timmie und Chris wandten sich sofort nach der Begrüssung wieder den Würmern auf dem Bildschirm zu und witzelten darüber, ob in ihren Pizza-Riegeln womöglich auch Würmer mit Salamigeschmack drin sein könnten. Das schien sie aber nicht weiter zu bekümmern, denn kurz danach, griff jeder nach einem der Pizza-Riegel, die auf dem Tisch lagen und biss herzhaft hinein.

Thomas hatte Jens einen Stuhl gebracht, und ihm gastfreundlich einen Riegel seiner Wahl angeboten. Anscheinend herrschte kein großer Mangel an diesen Riegeln. Jens ließ sich jedoch Zeit mit dem Zugreifen, denn er hatte eigentlich keinen Hunger. Stattdessen fragte er nach dem Leben in der neuen Siedlung.

"Ach, das ist eigentlich ganz locker hier. Der Frass schmeckt eigentlich ganz gut und in der Glotze gibts meistens was Interessantes. Sogar einen Erotiksender haben sie uns reingeschaltet, hätte ich denen gar nicht zugetraut", berichtete Andreas.

"Und guckt ihr auch manchmal Nachrichten und sowas?", fragte Jens, dem die unkritische Haltung seiner ehemaligen Studienkollegen etwas unheimlich war.

"Nachrichten ja klar, die gibts doch immer mal wieder, auf allen Sendern. Wir kriegen hier das volle Programm. Und das Geilste ist: Diese Behördenfuzzis nerven uns nicht mehr ständig mit Arbeitszwang, Fortbildung und so nem Mist. Das haben sie wohl aufgegeben. Jetzt können wir ganz locker ab und zu ein bisschen mithelfen und verdienen uns das Bürger-Geld. Und was den Rest angeht, fühl ich mich hier sicherer als in all den letzten Jahren. Von wegen Katastrophe. Nur ein bisschen kalt ist es hier, aber wir haben extra Doppeldecken bekommen", erweiterte Thomas Andreas Schilderung.

Obwohl das alles sehr positiv klang und Jens den beiden gönnte, dass die Behörden sie nicht mehr drängelten, weil er das sowieso meistens für überflüssig gehalten hatte, blieb ein gewisser Zweifel angesichts der Situation. Doch Jens sagte sich, dass da wahrscheinlich eine ordentliche Portion Neid bei seinem Zweifel mitwirkte. Immerhin konnten sich die Männer hier einen faulen Lenz machen, ohne einen Finger dafür krumm machen zu müssen, und Jens kämpfte täglich um seine Existenz. Nun ja, das war seine eigene Entscheidung, schließlich wollte er seinen Stolz und seine Unabhängigkeit wahren, was eben seinen Preis kostete.

Andreas kratzte sich heftig zwischen den Fingern, spuckte auf die juckende Stelle und stieß einen Fluch aus. Bei diesem Anblick wurde Jens bewusst, dass sich alle vier Mäner ziemlich oft gekratzt hatten, seit er hier war, vor allem an den Händen.

"Zeig mal, was plagt dich denn da?", fragte Jens Andreas interessiert, denn ihm schwante Übles.

"Och, irgend so ein Ausschlag", sagte Andreas. "Nix schlimmes eigentlich."

Er streckte Jens seine Hand hin, die zwischen den Fingern stark gerötet war. Ein paar kleine rote Knötchen waren zu sehen und auch Verbingungslinien zwischen diesen Knötchen.

"Sieht aus wie Krätze", sagte Jens.

"Na und, juckt mich nicht", kam von Andreas.

"Damit solltest du aber zu Arzt gehen. Das kann ziemlich grässlich werden, breitet sich aus, steckt an und man wirds nur schwer wieder los", blieb Jens beharrlich.

"Mal sehen", sagte Andreas und machte mit seinem Tonfall deutlich, dass für ihn das Thema beendet war.

Der Fernseher wurde zum Erotik-Kanal umgeschaltet und das Gespräch zwischen Jens und seinen Kollegen verstummte nach und nach. Aus Langeweile und Neugier nahm Jens sich einen der Pizzariegel und biss hinein. Es schmeckte erstaunlich pizzaähnlich. Geschmacklich war es ein echter Knüller, wie Jens überrascht zugeben musste. Mit mildem Interesse ließ er die wogenden Busen des Erotik-Kanals auf sich wirken und die Zeit verstrich unmerklich. Zwischendrin kam eine Nachrichtensendung, in der berichtet wurde, dass eine Jens unbekannte Schauspielerin angeblich ihre Brust auf 110 cm Brustumfang vergrössert hatte, was von den Bewohnern der Zimmers mit einem Gröhlen quittiert wurde. Ausserdem wurde eine neue Sorte Pizzariegel mit Paprikageschmack angekündigt.

Durch den Programmwechsel wurde Jens bewusst, wie spät es schon war und er beschloss aufzubrechen, um noch heimzukommen, solange die Straßenlaternen leuchteten. Er verabschiedete sich und machte sich auf den Weg. Beim Verlassen des Zimmers erschien es ihm lange nicht mehr so trostlos, wie am Anfang. Eigentlich war es sogar ganz gemütlich. Auch die Containersiedlung wirkte nicht mehr bedrohlich auf ihn, die gleichförmige Struktur vermittelte ein Gefühl von Ordnung.

Auf der Straße angekommen, schlug Jens seinen Kragen hoch, um den kalten Nieselregen besser zu ertragen, der ihm unfreundlich ins Gesicht schlug. Der Wind hatte zugenommen im Laufe des Tages und es war deutlich kälter geworden. Ihm grauste es schon vor seiner kalten Wohnung, die leider immernoch ziemlich zugig war, obwohl die Ritzenstopfaktion mit den Zeitungen spürbare Verbesserung gebracht hatte. Tja, da hatte so eine enge Viererbude mit gut isolierten Fenstern durchaus seine Vorzüge, dachte Jens an die vergleichsweise wohnliche Container-Bleibe.

Er schüttelte sich, stieg auf sein geparktes Fahrrad, das friedlich, aber nass auf ihn wartete und fuhr ein Stück weit mit voller Kraft, um die Schwere loszuwerden, die wie bleiern an ihm hing. So schnell würde er seine Unabhängigkeit nicht aufgeben, auch wenn er dafür kräftig strampeln musste.

Um Strom zu sparen, leuchtete seit dem ersten grossen Stromausfall nur noch jede zweite Straßenlaterne, bei Windstille sogar nur jede dritte. Das hatte geholfen, die Stromausfälle auf ein erträgliches Maß zu begrenzen, behaupteten zumindest die Verantwortlichen.

Zuhause angekommen, ging er erstmal duschen, um sich etwas aufzuwärmen und vom Mief der Containersiedlung zu befreien. Nach dem Duschen schaltete er seinen Fernseher an, der zufällig gerade wie erhofft Nachrichten brachte. Die Oberweite der Schauspielerin hatte Jens an Informationen über die Welt noch nicht gereicht. Sein bevorzugter Sender brachte andere Nachrichten, die eher unerfreulich waren. Der Ölpreis hatte ein neues Rekordhoch erreicht, immer mehr Windkraftwerke fielen aus und konnten mit den verfügbaren Mitteln nicht repariert werden, die Erwerbslosen-Rate war wie erwartet angestiegen, aber die Regierung konnte erstmals seit zwölf Monaten wieder eine leicht gestiegene Zustimmung unter der Bevölkerung verzeichnen.

Jens wunderte sich im Nachhinein, wie zuversichtlich er sich in den letzten Stunden in der Containersiedlung gefühlt hatte. Jetzt fühlte er sich wieder wie vor dem Besuch: Unsicher in Bezug auf die Zukunft, aber entschlossen, seinen Weg zu gehen. Wann hatte es angefangen, dass es ihm bei den Anderen gefiel? Nachdem er den Pizza-Riegel gegessen hatte? Vielleicht war es auch nur die entspannte Kumpelstimmung gewesen.

Jenseits des Ölgipfels

Beyond Oil: The View from Hubbert's Peak
von Kenneth S. Deffeyes

Peakoil Reloaded
< <   > >

1  2  3  4  5  6  7  8  9  10  11  12  13  14  15  16  17  18  19  20  21  22  23  24  25  26  27  28  29  30  31  32  33  34  35  36  37  38  39  40  41  42  43  44  45  46  47  48  49  50 

Jenseits des Ölgipfels
Jenseits des Ölgipfels

268 Seiten
ISBN 3-933634-18-0

Preis: 16.90 Euro

Bestellen...