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Vorrat - Kurzgeschichte


Wie immer schauten die Passanten Annette neugierig hinterher. Sie ließ sich davon jedoch kaum beeindrucken, warf ihre langen, grauen Locken in den Nacken, damit sie sie nicht mehr an der Nase kitzelten und zog weiter ihren Handwagen nach Hause. Seltsam, wenn ich das Ding mit dem Fahrrad ziehe, stört sich niemand daran, doch kaum lasse ich das Fahrrad zu Hause, drücken sie sich die Nase platt an ihren Autoscheiben. Und die Fußgänger verrenken sich schier den Hals. Wie sehr man doch dem Standard entsprechen muss.

Kopfschüttelnd setzte Annette ihren Weg fort. Ihr Nacken war schon ganz kräftig geworden, so oft musste sie in letzter Zeit den Kopf schütteln. Ihr war klar geworden, dass die Welt dabei war, sich zu ihrem Nachteil zu verändern - sehr zu ihrem Nachteil.

Kurz vor ihrem Wohnblock schalt Annette zwei Jungen, die immerzu gegen einen der wenigen Bäume traten, die den Bürgersteig begrünen sollten. Wieder einmal schüttelte sie den Kopf.

Dann, auf ihrem heimatlichen Hinterhof, besuchte sie sofort den kleinen Haselnussbaum, den sie im letzten Jahr gesät hatte. Obwohl er noch so klein war, trug er seine ersten Blütenrispen - Hoffnung auf Nüsse im kommenden Herbst. Keiner hatte gegen ihn getreten, was Annette mit Erleichterung erfüllte.

Sie pflückte eine Handvoll Bärlauchblätter an der schattigen Stelle, wo sie Bärlauch gepflanzt hatte. Er hatte sich seit seiner Ankunft in Annettes Hinterhofgarten ordentlich breit gemacht und war Annettes ganzer Stolz. Mir läuft schon das Wasser im Mund zusammen, wenn ich an den feinen Kräuterquark denke, den ich mir nachher damit zubereiten werde.

Das Kind der Nachbarin saß, wie so oft, auf der Treppe des Hinterhauses.

"Na, du kleine Taugenichtsin. Mal wieder nichts besseres zu tun, als auf der Treppe rum zu lungern?"

"Ja", sagte die Kleine leise.

"Was treibt eigentlich deine Mutter um die Zeit?"

"Die schläft bestimmt noch."

"Aha!"

Annette schloss die Haustür auf, scheuchte das Mädchen von den Treppenstufen und wuchtete ihren Anhänger die wenigen Stufen hinauf. Das Mädchen schnappte sich seinen Schulranzen und huschte hinter Annette her, als diese das Haus betrat.

"Na, haste etwa deinen Schlüssel vergessen?"

"Ja", piepste die Kleine.

Mal wieder schüttelte Annette ihren Kopf.

Sie holte Mehl und Öl aus ihrem Anhänger und strebte dem Keller zu.

"Dass du mir ja nichts anrührst von meinen Einkäufen", herrschte Annette das Mädchen an.

"Ja."

Sicherheitshalber schloss Annette die Kellertür hinter sich, denn sie wollte nicht, dass das Mädchen sah, was sie tat. Sie trug ihre Vorratseinkäufe in ihren Holzverschlag, den sie mit Rauhfasertapete weitgehend uneinsehbar gemacht hatte. Mühsam schloss sie ihr Kellerabteil auf, denn sie wollte ihre Einkäufe nicht auf den Boden stellen und war deshalb so bepackt, dass sie nur eine Hand bewegen konnte. Dann schaltete sie das Licht an und schloss die Tür hinter sich. Erleichtert stellte sie Mehltüten und Ölflasche ab.

Aus einer Schachtel nahm sie zwei Plastiktüten und Klebstreifen, um die beiden Mehltüten sorgfältig zu verpacken. Dabei gingen ihr, wie so oft bei dieser Prozedur, die unzähligen Larven der Getreidemotte durch den Kopf, die eines Tages ihren Küchenschrank heimgesucht hatten. Diese Schädlingsattacke hatte sie eine komplette Schrankfüllung teures Biogetreide gekostet und fast die geistige Gesundheit, denn der Ekel vor den wimmelnden Maden war unermesslich gewesen. Aber Annette hatte dadurch auch die Erkenntnis gewonnen, dass solches Gewürm ihr nie wieder einen ganzen Schrank verseuchen sollten. Darum wurde alles Getreide jetzt immer einzeln eingepackt.

Anschließend öffnete Annette eine der viereckigen Regentonnen, die in ihrem Keller standen. Auf die eine Seite stellte sie die verpackten Mehltüten und auf die andere die Flasche mit dem Billigöl. Sehr zufrieden begutachtete sie, wie sich auch diese zweite Tonne mit Vorräten füllte. Und dass diese Vorräte sie finanziell kaum belasteten, weil sie spottbillig waren, erfreute sie noch mal zusätzlich. Für das Geld, das andere am Tag fürs Rauchen ausgaben, konnte sie genügend Kalorien für einen ganzen Monat einlagern - gewusst wie. Um auch in Notzeiten etwas Abwechslung zu haben, kaufte sie außer Mehl und Öl auch noch Reis, Haferflocken, Zucker, Salz und andere Dinge ein, aber immer schön langsam nach und nach, denn sie musste jeden Cent zweimal umdrehen. Deshalb bildeten Mehl und Öl auch ihren Grundstock, weil sie unschlagbar billig waren. Und in echten Hungerzeiten nur schwer selbst zu erzeugen.

Annette rieb sich vergnügt die Hände und verschloss ihre Regentonne dann wieder. Niemand ahnte, dass sie in den Tonnen schon Vorräte für ein gutes Jahr versteckte. Sie liebte die Tonnen, denn sie waren billig, dort passte viel hinein, Mäuse hatten keinen Zugang und selbst bei einer leichten Überschwemmung waren die Nahrungsmittel gut geschützt. Außer für die Tonnen war in ihrem Keller noch Platz für ein kleines Feldbett, falls sie, aus welchem Grund auch immer, vorübergehend in den Keller ziehen musste. Ganz unauffällig hatte sie alles Erforderliche dort untergebracht, was ihr einen Aufenthalt ermöglichen würde. Aber sie hoffte, dass diese Art von Notfall nicht eintreten würde.

Mit einem Gefühl von grimmiger Befriedigung verließ Annette den Keller wieder und kehrte ins Erdgeschoss zu ihren restlichen Einkäufen zurück. Dort hockte immer noch das Mädchen und schaute sehnsüchtig auf Annettes Fahradanhänger.

"Du, Oma, bist du eigentlich sehr reich?"

Annette war entsetzt. Oma? Die Kleine tickt wohl nicht richtig. Obwohl,.... wenn ich es recht bedenke, dann könnte ich inzwischen Oma sein, wenn ich damals Kinder bekommen hätte. Meine grauen Haare zeigen das auch ganz deutlich. Und wie sie wohl auf die Idee kommt, dass ich reich sein könnte. Das kleine dürre Dingelchen.

"Reich? Nein eigentlich nicht. Wir kommst du denn darauf?"

"Na, weil du soviel leckere Sachen eingekauft hast."

"Wenn man die richtigen Sachen kauft, dann kann man heutzutage so billig einkaufen, wie nie zuvor. Auch wenn es dir viel erscheint, war das alles nicht teuer", Oh je, jetzt komme ich schon wieder ins Dozieren. Das kapiert das Würmchen doch gar nicht.

"Aber das sieht alles sehr lecker aus. Meine Mutter schimpft immer, dass alles so teuer ist. Bei uns gibt es nicht oft was zu essen."

"Was? Dann kann sie aber nicht gut einkaufen! Darum bist du wohl auch so dünn."

"Ja, mag sein."

Die Göre ist wirklich arg dünn, fast schon abgemagert. Dabei kann man so preiswert satt werden. Was mag sie nur für eine Mutter haben?

"Ach weisst du was? Wenn du magst, kannst du mit mir kommen zum Mittagsessen. Es lohnt sich sowieso viel mehr, für zwei Personen zu kochen als für eine. Aber vorher musst du mir beim Hochtragen der Einkäufe helfen. Wie heisst du eigentlich?"

"Ich heiße Sarah. Darf ich wirklich bei dir mitessen, Oma? Das ist ja toll."

"Aber nur, wenn du mich nicht mehr Oma nennst. Nenn mich Annette."