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Die Vision


Ein Licht flackerte. Eigentlich sollte ich jetzt die Augen schließen, das wusste ich genau, doch das Flackerlicht faszinierte mich so sehr, es zog mich an, sog mich auf, bis ich fast darin versank.

Dann begann das Trommeln. Rhythmisches Klopfen im Gleichklang mit dem Licht. Selbst meine Fingerspitzen fühlten den Rhythmus, den unwiderstehlichen Rhythmus der Trommeln.

Immer tiefer sog es mich in die Trance, ich spürte es genau.

Und dann sah ich ihn wieder, den schwarzen Vogel. Der Vogel war ungewöhnlich groß, vielleicht eine Krähe. Er flog auf und traf sich mit mehreren Artgenossen. Über den Häusern fand sich ein ganzes Geschwader der schwarzen Vögel zusammen und flog pulsierend, mal aufwärts, mal abwärts, immer mehr Krähen kamen dazu, bis der Schwarm den Himmel verdunkelte. Sie stiegen auf, schraubten sich immer höher und passierten dann den Mond.

Der Mond! Wie schon so oft, konnte ich die Risse deutlich erkennen. Wie ein gesprungenes Ei sah er aus. Der größte Riss zog sich fast durch den gesamten Mondkreis und zerschnitt dem Mann im Mond das Gesicht. Aber das war nicht der einzige Riss. Weitere Spalten klafften an den Seiten auseinander. Gezackte Spalten.

Immer weiter öffneten sich die Risse im Mond.

Vor dem was jetzt kam, unweigerlich kommen musste, fürchtete ich mich ganz besonders. Wahrscheinlich hätte man das nun folgende Debakel von Anfang an nicht aufhalten können, schoss es mir durch den Kopf, aber die Risse zeigten deutlich, dass es endgültig ernst wurde.

Das Grauen in mir wuchs ebenso wie die Spalten im Mond. Es schmerzte, bei diesem Prozess zuzusehen, es mit ansehen zu müssen.

Zuerst bröckelte ein Randstück ab. An den Bruchkanten zerfiel das Mondgestein. Wie eine Staubwolke sah es aus, die sich vom Mond wie in Zeitlupe fortbewegte. Doch bestimmt war es nicht nur feiner Staub, denn selbst riesige Felsbrocken mussten auf die große Distanz wie Staubkörner wirken.

Ein rotes Aufblitzen verstärkte den Eindruck einer Explosion und schließlich brach ein Viertel des Mondes aus ihm heraus, bevor er kurz darauf in unendliche viele Bruchstücke zersprang.

Mir war, als hörte ich den gewaltigen Knall dieses Zerberstens. Doch in einer Ecke meines Hinterkopfes war mir klar, dass das schreckliche Schauspiel unhörbar war, denn der Mond befand sich im Vakuum des Weltraums - noch.

Die Brocken vom ehemaligen Mond drifteten quälend langsam auseinander. Ganz allmählich wurden einige dieser Brocken größer, immer größer und es wurden immer mehr Bruchstücke, die anwuchsen.

Die Reste des Mondes näherten sich offensichtlich der Erde und stürzten auf uns zu.

Meine Nackenhaare stellten sich auf, so sehr erschreckte mich das Geschehen. Ich wollte fliehen, doch ich schien festgewachsen, dort wo ich gerade stand. Überhaupt! Wohin wollte ich denn fliehen? Gab es irgendeine Möglichkeit, dem Untergang zu entkommen?

Die Mondbruchstücke wuchsen zusehens, bald waren sie so groß als stünden viele Monde am Himmel. Gezackte Monde, verschiedenen große Monde. Mondgrau waren sie - zuerst, dann begann der erste zu leuchten, er schien zu glühen. Ob er die Erdatmosphäre berührt hatte? Bestimmt! Jetzt würde es nicht mehr lange dauern.

Noch ein Brocken glühte auf, noch einer und noch einer, bis der ganze Himmel voller hell leuchtender Monde war. Monde, die wie Sonnen blendeten, in allen Farben des Regenbogens, aber vor allem in orange, rot und weiß.

Für einen Moment musste ich die Augen schließen, so sehr schmerzte das helle Licht. Doch ich wollte mir das schreckliche Schauspiel nicht entgehen lassen und schaute gleich wieder hin.

Die Sonnen sahen jetzt aus wie Scheinwerfer in einer Disco und beleuchteten den Tanzboden. Die Menschenmenge um mich herum hüpfte und tanzte, zuckte in Ekstase. Dass so viele Menschen in meiner Nähe waren, bemerkte ich erst jetzt. Sie wanden sich. Tanzend? Nein in Panik! Sie wussten nicht wohin sie fliehen sollten. Ich hörte sie kreischen - voller Angst.

Das blendende Licht wurde unerträglich, ich konnte nichts mehr erkennen.

Dann spürte ich einen Ruck, der durch den Boden ging. Die Erde unter meinen Füßen bäumte sich auf. Offenbar war einer der Brocken in der Nähe eingeschlagen.

Heiße Luft prallte mit unvorstellbarer Wucht gegen meinen Körper. Die Menschen in meiner Umgebung wurden zu Boden geworfen. Nur ich blieb stehen, wie angewurzelt, wie ein Geist, der aber alles fühlte, was um herum vorging. Ob das die Druckwelle war? Die Druckwelle, die es auch bei Atombomben gab?

Ehe ich mich versah, kam die brennende Luft zurück, diesmal aus der anderen Richtung. Beim nächsten Atemzug zerrte dann schon die zweite Druckwelle an mir, diesmal wieder aus der ersten Richtung. Ein Sog, der alles verwehte, was er zu fassen bekam.

Mein Blick weitete sich und ich sah Häuser, Autos und Bäume, die vom Sturm des Einschlags in die Luft geschleudert wurden und wie Kanonenkugeln sausten, alles vernichtend, auf das sie trafen. Makaber sah es aus, wie ein abgetrenntes Dach auf einen entwurzelten Baum prallte und sich von der Wucht der Begegnung in seine Bestandteile auflöste. Die Ziegel flogen weiter, wie Gewehrkugeln, erschlugen Menschen, die vom Sturm wie Puppen gebeutelt wurden.

Nur ich stand da, regungslos, der einzige Baum, der noch stand, fühlte alles, erstickte schier an der Hitze des Orkans, verzweifelte fast beim Anblick der Geschehnisse.

Die gewehrkugelartigen Geschosse kamen näher auf mich zu, fast konnte ich eines fassen, so nah kam es mir. Doch, oh Graus, es war kein Dachziegel, kein Stück Fels, kein namenloses Etwas, sondern ein Totenkopf, an dem noch Reste der Haare klebten.

Von ferne hörte ich eine Stimme sagen: "Welch ein Sturm!"

Feuer, überall Feuer! Alles was nicht vom Sturm verweht wurde, stand mit einem Mal in Flammen. Die Menschen um mich herum erhoben sich und rasten an mir vorbei, brennend wie Fackeln. Sie schrien schmerzerfüllt und brannten lichterloh, einige taumelten, stürzten wieder zu Boden - ausgebrannt, verkohlt.

Es brannte und brannte, ganze Ewigkeiten lang brannte es. Die Welt war in düsteres Rot getaucht. Reste von Häusern glühten rotschwarz und brachen im stiebenden Funkenrausch in sich zusammen.

Schließlich erlöschten die Flammen - Dunkelheit umhüllte die Welt. Die ganze Umgebung war in Schwärze gehüllt. Ewigkeiten vergingen. Schauerliches Heulen tönte aus allen Richtungen abgewechselt von lieblichen Gesängen.

Woher kamen wohl diese Gesänge? Wer sang angesichts dieses Grauens? Wer brachte das nur über sich?

Aus der Finsternis erschienen Engel, leuchtend, fliegend, wogend. Liebliche Engel, die mich umflatterten, aber ignorierten. Was wollten diese Engel hier? Die Seelen der Toten einsammeln? Bestimmt war das ihre Mission. Darum auch so viele Engel. Wie schön sie waren, die Engel!

Mein Blick trübte sich, wie Schleier fiel das Grau zwischen mich und die Engel. Was war dieses Grau, dieser Schleier?

Nach einer Weile verstand ich: Asche fiel zu Boden, immer mehr Asche. Die Welt wurde wieder heller, aus schwarz wurde dunkelgrau. Die zerbrochenen Reste der Zivilisation wurden von der Asche bedeckt, als wäre sie Schnee. Schnee, der die Erde meterhoch bedeckte, der immer höher stieg. Je heller es wurde, desto höher stieg die Ascheschicht.

Tote Bäume ragten aus der Asche, sonst nichts. Oder doch? Das Skelett eines Hauses könnte ich in der Ferne sehen. Grau in Grau, doch schwarz wie Kohle, dort wo keine Asche lag.

Menschen irrten umher. Einsame Menschen, gebrochene Menschen. Langsam taumelten sie, sahen einander nicht, als wären sie blind, blind vor Pein.

Von ferne ertönte eine Stimme, die sagte: "Grosse Not kommt über uns, grosse Not und viel Leid!"

Was für ein Unfug, dachte ich, das Leid ist schon da, es muss nicht erst kommen. Wie könnte die Not grösser sein?

Die einsamen Menschen trafen sich. Ohne sich anzusehen sammelten sie sich zu einer Schlange, als hätten sie ein gemeinsames Ziel. Aus der Menschenschlange wurde ein Strom, der endlos schien. Dass es überhaupt noch soviele Menschen gab?

Ein Leuchten war es, dem sie zustrebten, die ganzen Menschen. Das Leuchten entsprang einer der Ruinen. Ein majestätisches Hochhaus wird es einst gewesen sein, jetzt war es nur noch ein Gerippe, aber es schien hoffnungsvoll warm orange aus der Öffnung zu seinen Füßen. Was mochte da leuchten in all dem Elend? In dieser Welt, die sonst nur noch aus Grau bestand?

Eine Stimme gab mir Antwort auf die Frage nach der Quelle des Leuchtens: "Wann gibt es Essen für die Hungrigen?"

Ich wollte den Menschen nahe sein, dazugehören. Wie von Geisterhand glitt ich auf die Menschenschlange zu, kam ihr immer näher. Da - einen der Menschen konnte ich erreichen, ich ergriff ihn am Ärmel, rief ihm zu.

Der Mensch drehte sich zu mir um, doch ich sah in kein Gesicht. Nur verkohlte Schärze starrte mich an. Unter seiner Kapuze steckte kein Mensch mehr, sondern etwas, das so nicht mehr lebendig sein konnte. Wie konnte er stehen, gehen, sich in der Schlange vorwärtsschleppen? Fragen über Fragen.

Die Schwärze des ehemaligen Gesichtes zog mich an, sie war voller Rätsel für mich. Nicht einmal mehr Reste von Augen waren zu erkennen, nur Schwarz unendliches Schwarz. Ich verlor mich in dem Schwarz, wurde aufgesogen, spürte, wie ich an Fahrt gewann, ging auf eine Reise ins Grauen.

So schnell wurde ich, dass ich wie ein Satellit um die Erde schnellte. Alles konnte ich sehen, was der Erde angetan worden war von ihrem zerborstenen Begleiter. Überall sah ich Krater. Große Krater, die ganze Länder zertrümmert hatten, kleine Krater, rund und hübsch, wie Arenen des Todes.

Alles war in grau und schwarz getaucht - trostlos.

Die Erde drehte sich. Ein Tag folgte auf den anderen. Sie drehte sich immer schneller, wie ein Kreisel sauste sie, die Erde, und die Zeit verging. Viel Zeit verging. Jahre, Jahrzehnte!

Äonen später verlangsamte sich der Kreisel der Erde wieder. Ich sank der Oberfläche entgegen - landete sanft.

Aus der Gräue der Asche spross Grün, eine neue Pflanze stieg empor, dem Licht der Sonne entgegen, die wieder schien. Eine Pflanze der Hoffnung!

Am Fuß der Pflanze öffnete sich eine winzige Höhle. Zuerst sah ich nur eine schwarze, glänzende Kugel in der Mitte der Höhle. Aus der Kugel wurde eine weiße Schnauze mit einer niedlichen schwarzen Nasenspitze. Die Schnauze wurde zu einen wieselartigen Tier, das vorsichtig aus der Höhle kroch, schnupperte, ob die Luft rein war und dann die Erdoberfläche betrat. Das Tier war über und über mit einem weiß schimmernden Fell bedeckt.

Das Wiesel wuchs zusehens, so groß wie ein Mensch wurde es. Dann richtete es sich auf und stand auf seinen zwei Hinterfüßen. Es hob eine der Vorderpfoten, wie zum Gruß. Es sah mich an. Lächelte es?

Lange betrachtete ich das Tier. Warum war es so groß? Warum war es freundlich, obwohl es wie ein Raubtier schien? Was hatte es zu bedeuten?

Ein Stich durchfuhr mich schmerzhaft. Hatte ich etwa meine Unverwundbarkeit eingebüßt? Es rüttelte mich durch. Stimmen riefen. Ich spürte, wie ich über den Boden geschleift wurde. Was hatte das alles zu bedeuten?

Ich öffnete meine Augen. Oh nein, nicht schon wieder!

Der Raum mit den dicken Gummipolstern. Männer in weißen Kitteln. Sie zerrten an mir, um mir die Zwangsjacke anzuziehen. Nicht schon wieder!

Wie ich es hasse, so gefesselt zu werden. Als würde ich jemand verletzen wollen. Jetzt würden sich mich bestimmt wieder betäuben, meine Wahrnehmung dämpfen, meine Gefühle abtöten, damit ich nichts mehr spüre.

Nicht wissend, dass sie meine Vision nicht betäuben können, dass ich ihr immer gewahr bin, egal, was sie in mich hineinpumpen. Ich spürte es schon wirken, wie die Welt dumpfer wurde, wie in Watte getaucht. Alles wurde langsamer, wie in Zeitlupe.

"Herr Sehmann, gleich wird alles gut. Sie hatten wieder einen ihrer Anfälle. Gleich geht es Ihnen wieder besser."

Das war der junge Arzt. Eigentlich sehr freundlich und wohlmeinend, aber nichtsahnend. Was würde es ihm auch nützen, wenn er ahnen würde?

Ich verhielt mich ruhig, passiv, um nicht noch mehr Spritzen zu riskieren. Die Zwangsjacke wurde gelockert, wenn auch noch nicht ausgezogen. Mehrere Männer wuchteten mich in einen Rollstuhl und schoben mich zurück in den Aufenthaltsraum. Als wäre nichts geschehen.

Meine Mitinsassen saßen da wie zuvor, völlig unbeeindruckt.

Einer stand am Fenster und betrachtete das Unwetter, das draußen tobte. Immer wieder sagte er: "Welch ein Sturm!"

Ein anderer, ich weiß, er ist schwer depressiv, murmelte seine ewige Litanei: "Grosse Not kommt über uns, grosse Not und viel Leid!"

Und dann unser Kasper, immer aktiv, immer hungrig: "Wann gibt es Essen für die Hungrigen?"

War alles nur ein Alptraum in einem Anfall - der ewig wiederkehrende Alptraum?

Oder ist es so, dass schon die alten Griechen es besser wussten, als sie glaubten, dass Fallsüchtige das zweite Gesicht haben? Fallsucht als heilige Krankheit, die die Seher kennzeichnet?