Home
Romane
Vita
Projekte
Forum
Tagebuch
News
Impressum

Erwachen - Kurzgeschichte


Ein Sonnenstrahl schien mir in die Augen und weckte mich. Weckte mich aus einem endlos scheinenden Traum. Der Tag versprach schön zu werden. Ich verließ das Bett und trat ans Fenster. Der kornblumenblaue Himmel wurde nur von wenigen Blumenkohlwolken unterbrochen. Die Bäume blühten auf der saftig grünen Wiese. Welch Sinneseindrücke!

Ich erinnerte mich nicht, jemals eine so idyllische Szenerie gesehen zu haben. An was erinnerte ich mich überhaupt? Daran, wie Bäume aussehen, wenn sie blühen. Aber wer war ich? Und wo befand ich mich?

"Amnesie", meldete mein Wissensfundus. Aha, das wusste ich also, wie man es nennt, wenn man sich nicht mehr erinnert. Wie unpraktisch! Lieber hätte ich gewusst, wer ich bin und warum ich hier war. Dunkel drang die Erinnerung an einen Namen in mein Bewusstsein. Ob es meiner war? Wenn ich ihn doch nur greifen könnte.

Das Zimmer war zweckmäßig eingerichtet, um nicht zu sagen: steril. Es ließ keinerlei Rückschlüsse auf meine Identität zu. Hatte ich einen Unfall gehabt? Mit "Amnesie" verband ich Unfälle oder Hirntumoren. Aber ich fühlte mich wunderbar und schmerzfrei.

Was würde wohl passieren, wenn ich einfach dieses Zimmer verlassen würde, um nach draußen in die Idylle zu gehen?

"Guten Morgen, Sarah. Hast du gut geschlafen?" ein junger Mann war eingetreten und lächelte mich freundlich an.

"Ja danke, ich habe herrlich geschlafen und die Sonne hat mich aufgeweckt. Du sagtest Sarah? So heiße ich also?"

"Genau, du heißt Sarah. Das wusstest du schon mal, aber anscheinend hast du es nicht auf dich bezogen."

"Oh warte, ich erinnere mich. Ganz oft habe ich schon gesagt: mein Name ist Sarah. Aber dass ich damit mich gemeint habe, ist mir neu. Sag, hatte ich einen Unfall, denn ich erinnere mich nicht mehr an mich?"

"Nein, du hattest keinen Unfall. Alles ist in bester Ordnung. Kannst du den Namen Sarah jetzt mit dir in Verbindung bringen?"

"Ja, ich bin Sarah."

"Wunderbar! Das klingt schon ganz anders als gestern und all die Tage zuvor. Ich glaube, wir erleben heute einen Durchbruch."

"Bin ich schon lange hier? Wo bin ich überhaupt? Und warum kann ich mich an so Vieles nicht erinnern?"

"Das sind aber viele Fragen auf einmal. Nur nichts überstürzen. Ich bin schon sehr zufrieden, dass du dich mit deinem Namen identifizieren kannst."

Rätsel über Rätsel. So vieles, was ich wissen will.

"Wie ist denn dein Name? Ich glaube, ich wusste ihn schon mal, aber ich habe ihn leider wieder vergessen."

"Ah, herrlich, du zeigst echtes Interesse an anderen. Ich bin Sven."

"Sven! Das ist aber ein schöner Name. Jetzt erinnere ich mich auch wieder. Ich glaube, ich kenne dich schon lange."

"Stimmt genau. Ich bin dein Trainer - seit geraumer Zeit."

"Mein Trainer? Bin ich denn Sportlerin?"

"Nicht ganz, aber du bringst durchaus die richtigen Worte zusammen. Was würdest du jetzt denn gerne tun?"

"Die Bäume da draußen locken mich."

"Gut, dann machen wir einen Spaziergang. Ich glaube, du bist reif dafür."

Sven half mir beim Anziehen mehrerer Kleidungsstücke. Dabei fiel mir auf, dass er Schwimmhäute zwischen den Fingern hatte, aber das schien deren Beweglichkeit nicht einzuschränken. Meine Finger sahen normal aus - sagte zumindest mein Wissensfundus.

"Was ist mit deinen Fingern los?" fragte ich Sven, denn ich wollte möglichst viel über ihn wissen.

"Eine harmlose genetische Abweichung, wie auch meine großen, spitzen Ohren. Liegt an der allgegenwärtigen Radioaktivität. Ich habe noch Glück gehabt, denn meine Körperfunktionen sind in keinster Weise eingeschränkt."

"Warte mal, zu Radioaktivität fällt mir was ein: es gab einen Krieg. Einen Krieg, bei dem die meisten Menschen gestorben sind. Und bei diesem Krieg wurde durch Bomben Radioaktivität freigesetzt."

"Gut gelernt. Jetzt sind nur noch sehr wenige Menschen übrig geblieben. Kaum genug, um eine Zivilisation aufrecht zu erhalten. Ohne Maschinen wären wir wohl verloren."

"Was bedeutet eigentlich: gestorben?"

"Oh, da kommst du gleich mit den schwierigsten Fragen an. Aufhören zu leben, würde man wohl sagen, aber dann fragst du bestimmt: was bedeutet Leben."

"Stimmt, das wüsste ich gerne."

"Weißt du was? Wir gehen jetzt erst mal in den Park und freuen uns an dem schönen Frühlingsmorgen. Und später klären wir die großen Fragen der Welt."

"Einverstanden."

Sven führte mich durch lange Gänge. Eine Treppe brachte uns ins Erdgeschoss, wie er sagte, und dann traten wir auf die Wiese hinaus. Laute Piepsgeräusche stürmten auf uns ein. Als ich Sven danach fragte, erklärte er mir, dass Vögel die Ursache dieser Geräusche waren. Dann zeigte er mir ein kleines Geschöpf, das sich eilig in die Luft erhob, sobald wir uns ihm näherten. "Ein Spatz", meldete mein Wissen aus unbekannter Quelle.

"Ich dachte, es wäre ein Spatz, aber du sagst, es sei ein Vogel", machte ich Sven auf die Unstimmigkeit aufmerksam.

"Stimmt beides. 'Vogel' ist die allgmeine Bezeichnung für die meisten Tiere, die fliegen und 'Spatz' ist die spezielle Art."

"Aha, also eine Untergruppe. Ok, das macht Sinn."

Weiter hinten war ein merkwürdiges Tier unterwegs. Es schien aus zwei Teilen zu bestehen, davon einige metallisch glänzend. Der vordere Teil hatte unten kreisrunde Elemente, die den Boden berührten. In eine Art Kasten eingebettet sah man einen Teil mit beweglichen Extremitäten und einem kartoffelförmigen Kopf, der auf und ab wippte. Der Teil dahinter war aus Metall und diente offensichtlich der Fortbewegung. Durch Bewegungen der unteren Extremitäten glitt das Tier über den Weg. Unheimlich!

"Was ist das dort?"

"Ach das! Das ist Oskar, der von seinem Roboter geschoben wird. Oskar sitzt im Rollstuhl, weil er keine Beine hat und außerdem hat er einen Knollenkopf; das erschwert sein Denken. Aber er ist ein lieber Kerl."

"Ein lieber Kerl? Bin ich auch ein lieber Kerl?" irgendwie verband sich für mich mit dem Wort "lieb" etwas Positives.

"Du bist ja goldig! Inzwischen bist du drauf und dran eine liebe Kerlin zu werden, meine Süße."

"Deine Süße? Hat das was mit Zucker zu tun?"

"Ursprünglich wohl schon, aber im Zusammenhang mit dir ist es sowas ähnliches, wie ein lieber Kerl."

"Gut, das gefällt mir. Du bist auch ein lieber Kerl."

"Freut mich, dass du so denkst. Findest du mich nicht abstoßend mit meinen großen Ohren?"

"Abstoßend? Das ist ein negatives Wort, oder? Nein, deine großen Ohren gefallen mir sehr gut. Leider habe ich nicht so große Ohren, sonst würden wir gut zusammenpassen."

"Du bist sehr schön, so wie du bist."

"Meine Erinnerung sagt mir auch, dass ich dem klassischen Schönheitsideal entspreche. Ist das was Gutes?"

"Ja, das ist etwas sehr Gutes. Du erinnerst uns daran, wie wir Menschen früher aussahen und das gefällt uns."

"Dann bin ich zufrieden."

Zufriedenheit ist ein ungewohntes Gefühl. Ob ich vorher je zufrieden war? Wenn ich doch nur mehr über mich wüsste. Diese Amnesie ärgert mich. Aber der Tag ist so schön und Sven ist so lieb zu mir, da sollte ich mich nicht ärgern. Ich möchte Sven gerne näher sein - ein seltsames Gefühl, aber sehr angenehm.

"Zeig mir doch noch mal deine Hände."

Sven reichte mir seine Hände und schaute mich fragend an. Ich hielt seine Hand so, dass man die Schwimmhäute sehen konnte und hielt meine Hand dagegen, die viel mehr wie eine normale Hand aussah. Dann wurde meine optische Wahrnehmung von einem anderen Bild überlagert, das zeigte, wie zwei Hände ineinander verschränkt wurden. Das Bild reizte mich und daher ergriff ich Svens Hand und hielt sie mit meiner Hand. Wir konnten unsere Arme auf diese Weise zusammen schwenken, was ich auch prompt ausprobierte. Das Händehalten gefiel mir und ich lächelte Sven an. Sven strahlte zurück. In meinem Bauch fühlte es sich warm an.

"Weißt du was? Wenn es nur noch so wenig Menschen gibt, könnten wir doch zusammen neue machen. Denn daran erinnere ich mich: dass zwei Menschen zusammen neue, kleine Menschen machen können. Mit dir würde ich gerne kleine Menschen machen."

"Oh, du bist wirklich niedlich - genau wie du sein sollst. Und du hast auch schon sehr viel verstanden in der kurzen Zeit. Aber dir ist wohl bisher entgangen, dass du eine Androidin bist, wenn auch die erste, die Gefühle und Bewusstsein hat."