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Vollautomatisch

Kapitel 25


  
"Juliane, Juliane, es wird Zeit, dass du ins Bett gehst, damit wir das Licht ausmachen können. Du hast doch sowieso schon genug Ärger mit der Schwarmleitung", Tina rüttelte an Julianes Schultern, bis diese sich in World 3000 losriss und wieder in der realen Welt auftauchte.

"Ist es schon so spät? Wie schnell die Zeit vergeht!"

"Du bist doch sonst nicht so begeistert am Spielen. Anscheinend gewöhnst du dich allmählich ans Schwarmleben."

"Heute war es halt mal spannend."

Den Schwarmregeln entsprechend legte sich Juliane gehorsam in ihr Bett und versuchte zu schlafen. Das wollte ihr jedoch nicht gelingen und so lag sie stundenlang wach, voller Gedanken über ihre Zukunftspläne.

Ob ich es wirklich wagen soll? All die Sicherheit aufgeben, die ich hier immerhin habe und mich in die raue Freiheit des Landlebens wagen? Ich könnte verhungern. Aber hier würde ich mit Sicherheit versauern. Ich mache es! Gleich morgen!

Trotz ihrer Aufregung fiel Juliane irgendwann in einen leichten Schlummer und träumte vom Melken und Bierbrauen. Noch vor dem Wecksignal wachte sie wieder auf und ihr erster Gedanke galt ihren aufregenden Plänen. Leise stand sie auf und ging zu ihrem Schrank, wo sie in ihrer Reisetasche nach ihrem alten, tragbaren Minicomputer wühlte. Sie überprüfte, ob das Gerät noch funktionierte und ob auch die aktuelle World 3000 Version darauf lief. Sie hatte Glück und schon bevor Tina ihrem Bett entstieg, hatte Juliane den Wald bis zum Dorfmagier erneut durchquert und gerade begonnen, auf seinen Wunsch hin Holz zu hacken. Einen kurzen Blick ins große Buch hatte Merlus ihr auch schon gewährt. Dadurch konnte sie sicher sein, dass diese Informationsquelle auch auf ihrem altmodischen Gerät funktionierte, wenn auch deutlich weniger elegant als auf dem modernen Schwarmcomputer.

Bei diesem Ausflug hatte Juliane unter anderem erfahren, dass sie bei der Schwarmleitung einfach nur kündigen musste, um ihre Freiheit wieder zu erlangen. Den Morgensport und das Frühstück absolvierte sie noch ganz normal, doch dann ging sie in die Küche, in der festen Absicht, dort Abschied zu nehmen.

Hedwig fiel aus allen Wolken, als Juliane ihr von ihrem Entschluss erzählte. Sie versuchte, Juliane von ihrem Ausbruchsversuch abzuhalten oder zumindest einen Aufschub zu bewirken.

"Ach weisst du Hedwig, bei euch in der Küche würde ich ja auch gerne weiterhin bleiben, aber du kennst die wachsenden Probleme ja selbst. Wer weiß, wie lange wir noch kochen dürfen. Falls ich einen guten Platz finde, werde ich versuchen, dich zu erreichen. Und wenn du dann willst, kannst du vielleicht auch aufs Land ziehen. Aber erstmal muss ich herausfinden, ob man auf dem Land leben kann."

"Oh, mein Mädel. Hier bist du doch in Sicherheit, auch wenn sie uns immer mehr einengen. Verhungern wirst du hier nicht. Und dort draußen könntest du jämmerlich zugrunde gehen."

"Das riskiere ich gerne, denn hier geht meine Seele zugrunde. Ich brauche eine Aufgabe oder wenigstens eine Herausforderung, sonst wäre ich lieber tot."

"Nun denn, ich werde für dich beten. Jetzt spute dich, damit du vor dem Dunkelwerden noch alles schaffst."

"Danke für deine Unterstützung. Ich habe sehr gerne hier mit euch gekocht."

Zu ihrer eigenen Überraschung nahm Juliane Hedwig in den Arm und gab ihr einen Abschiedskuss. Auch von den anderen Schwarmbewohnern, die ihr ans Herz gewachsen waren, verabschiedete sie sich herzlicher als sie es von sich gewöhnt war.

Dann packte sie ihre Tasche und meldete sich beim Schwarmcomputer ab. Ihr schien, als würde sie einen erleichterten Unterton in der Stimme des Computers durchhören, vermutete aber, dass das nur Einbildung war.

"Leb wohl, Juliane!" sagte die Haustür, dann war Juliane wieder in die Freiheit entlassen worden.

Mit der U-Bahn fuhr sie zuallererst zu dem Entrümpler, dem sie ihren Hausrat zum Verkauf anvertraut hatte. Dieser Entrümpler betrieb einen regen Handel mit den Hinterlassenschaften der ganzen Arbeitslosen. Seine Verkaufshalle war bis unter die Decke mit Gebrauchtwaren vollgestopft. Juliane brauchte eine Weile, bis sie sich orientieren konnte.

Dann jedoch fand sie schnell Schlafsack, Isomatte, Zelt, Outdoorklamotten, Kochgeschirr, Vorräte für eine Woche, Rucksack, Satteltaschen und ein preiswertes Fahrrad. Sogar einen kleinen Kocher trieb sie auf, den man mit Holzstückchen befeuern konnte. Man nannte ihn Hobo-Kocher und Juliane fühlte sich schon stark wie ein angehender Hobo, der ziellos durch die Lande streifte. Weil sie nicht mehr genug Geld hatte, um all diese Kostbarkeiten zu bezahlen, verwickelte sie sich mit dem Chef-Entrümpler in harte Verhandlungen. Am Ende hatte sie erreicht, dass er ihren alten Hausrat, der noch nicht verkauft war, gegen die neue Ausrüstung eintauschte.

Als Juliane ihre Errungenschaften endlich auf das Fahrrad geschnallt hatte, war es schon früher Nachmittag. Dabei hatte sie sich so beeilt mit den ganzen Reisevorbereitungen. Wie ärgerlich, dass ich keine Möglichkeit hatte, mich über mehrere Tage hinweg vorzubereiten. Aber wenn ich mich beeile, komme ich noch raus aus der Stadt und in ländliche Ecken bevor es dunkel wird.

Juliane setzte sich auf ihr Fahrrad und trat in die Pedale. Dank Energiekrise und der vielen eingesperrten Arbeitslosen waren die Straßen weitgehend frei und sie kam gut voran. Sie hielt sich in Richtung Nordost, wie der Wirt im Spiel ihr empfohlen hatte. Außerdem hatte sie in dieser Richtung mehrere Dorfprojekte recherchiert, die sie kennenlernen wollte. Aber selbst das nächste dieser Dörfer war zu weit weg, um innerhalb dieses Tages hin zu gelangen.

Nach einer Weile erreichte Juliane die Stadtgrenze. Der Schlagbaum stand nach oben, sodass sie ohne Behinderung durchfahren konnte. Aber sie war sich sicher, dass sie von den allgegenwärtigen Scannern registriert wurde.

Hinter der Stadt erstreckten sich Rapsfelder, soweit das Auge reichte. Ein Teil dieser Felder blühte schon und tauchte die Welt in leuchtendes Gelb. Die Straße führte schnurgeradeaus weg von der Stadt.

So fuhr Juliane fröhlich durch die Frühlingslandschaft und fühlte sich frei. Vor lauter Freude wollte sie ein Lied singen, doch ihr fiel keines ein. Darum trällerte sie einfach vor sich hin, soweit ihr das Strampeln genügend Luft ließ.

Bis ein Donnern von hinten heranpreschte. Das Dröhnen näherte sich rasch und entpuppte sich als Lastwagen mit Anhänger, der die freie Straße nutzte, um sämtliche Pferdestärken aus seinem Motor herauszuholen. An Juliane fuhr er ungebremst vorbei und wich auch nicht aus, sodass er Juliane fast mit sich riss.

Das erschreckte Juliane so sehr, dass sie sich entschloss, auf den schmalen Nebenweg zu wechseln, auch wenn dieser völlig verwahrlost wirkte. Aber sie wich lieber Matschhaufen und Schlaglöchern aus, als sich von einem wildgewordenen Laster umbringen zu lassen. Um zu dem Nebenweg zu gelangen, musste sie ihr Fahrrad samt Gepäck durch einen Graben hieven. Keuchend erreichte sie den Weg und schwang sich wieder auf ihr Fahrrad.

Dann setzte sie ihre Fahrt in den Frühlingstag fort. Der Himmel leuchtete tiefblau und spiegelte sich in den Pfützen, die Juliane spielerisch umfuhr. Der Fahrtwind pfiff ihr um die Ohren, was den Rausch der Freiheit noch verstärkte. Sich völlig allein wissend, jauchzte Juliane vor Vergnügen.

Mist, jetzt fängt das blöde Knie an, weh zu tun. Aber was solls? Ich bin ja schließlich daran gewöhnt, dass mein Bein schmerzt. Wie gut, dass ich in letzter Zeit immer Frühsport getrieben habe. Dadurch ist das Knie in besserem Zustand als vorher. Jetzt fahre ich aber einfach weiter, denn ich will noch nicht das Nachtlager aufschlagen. Außerdem ist hier in der Nähe kein geeigneter Platz zum unbeobachtet Zelten.

Nach einer Weile wurden die Schmerzen jedoch schlimmer und Juliane machte eine kurze Pause, um die übliche Salbe drauf zu schmieren und ihre Bandage anzulegen. Mit der Bandage konnte sie ihr Knie zwar nicht mehr so schnell beugen und kam deshalb langsamer voran, aber es half immerhin ein wenig.

Alle paar Kilometer passierte sie einen Agrarbetrieb, der wie eine Fabrik wirkte. Kein Mensch war zu sehen, daher fühlte sich Juliane auch nicht besonders beobachtet. Hin und wieder fuhr sie an einem verlassenen Dorf vorbei. Manche der ehemaligen Häuser waren dem Verfall preisgegeben, andere waren systematisch dem Erdboden gleich gemacht worden. Nur noch an den Fundamenten konnte man sehen, dass dort mal Häuser gestanden hatten. Juliane überlegte, ob sie in einem der verfallenen Häuser übernachten sollte, aber sie entschloss sich dagegen, denn sie war sich unsicher, ob sie dort sicher war. Dann doch lieber eine Lichtung im Wald.

Endlich erschien ein Wäldchen am Horizont. Die letzten Kilometer bis dorthin fielen Juliane zunehmend schwer. Sie musste mehrere Pausen einlegen, um ihr Knie zu beruhigen. Doch irgendwann hatte sie den Wald erreicht und verließ die Straße. Sie schob ihr Fahrrad über den holprigen Waldweg, bis sie eine geeignete Stelle zum Zelten fand, die nicht so leicht einsehbar war.

Juliane breitete die Plastikplane zum Unterlegen auf dem Waldboden aus, dann widmete sie sich den Bestandteilen des Zeltes. Nur einmal in ihrer Kindheit hatte sie beim Zeltaufbau geholfen. Darum stand sie ziemlich ratlos vor all den Einzelteilen. Doch nach gründlichem Studium der Aufbauanleitung setzten sich die Puzzlesteinchen allmählich zusammen, und es gelang ihr, die biegsamen Stangen zusammen zu setzen und durch die dafür vorgesehenen Laschen zu ziehen. Dann schob und drückte sie solange, bis es plopp machte und der Stoffhaufen wie ein Zelt aussah. Erleichtert zog sie die Außenhaut über die Kuppel und befestigte sie an den dafür vorgesehenen Stellen.

Jetzt nur noch die Leinen am Boden verankern, dann habe ich es geschafft. Doch wie soll ich diese Zeltnägel bloß in den Waldboden rammen? So ein Ärger! Ich hätte mir einen geeigneten Hammer besorgen sollen, aber dafür ist es jetzt zu spät. Dann brauche ich eben einen dicken Stein.

Bis Juliane einen passenden Stein gefunden hatte, verging geraume Zeit, denn der Wald war nicht besonders steinreich. Doch schließlich stand ihr Zelt und Juliane bewunderte stolz ihr neues Zuhause. Dann verstaute sie ihre Habseligkeiten darin.

Zeit fürs Abendessen! Dafür brauche ich Kleinholz. Leider sind die ganzen Zweige auf dem Boden feucht. Wo finde ich bloß trockenes Holz?

Mit schmerzendem Knie machte sich Juliane auf die Suche nach Trockenholz. Sie war schon kurz davor aufzugeben, da fand sie abgestorbene Zweige im unteren Bereich eines Nadelbaums. Dankbar brach sie die Zweige ab und ging zurück zu ihrem Lager. Bis das Feuer in ihrem Hobo-Kocher brannte, brauchte sie mehrere Anläufe, doch irgendwann prasselte die Flamme fröhlich vor sich hin und Juliane konnte den Suppentopf aufsetzen.

Wie gut, dass ich wenigstens Wasser dabei habe. Sonst hätte ich jetzt auch noch Wasser suchen müssen. Morgen muss ich meine Flaschen unbedingt nachfüllen, sobald ich an einem Bach vorbei komme.

Im letzten Licht des Tages verspeiste Juliane ihre Tütensuppe, die nach Freiheit und Abenteuer schmeckte. Dann kroch sie hundemüde in ihr Zelt.

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208 Seiten
ISBN 3-938764-01-5

Preis: 14.80 Euro

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