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Vollautomatisch

Kapitel 23


  
Juliane testete die Schärfe des Messers und schnitt sich dabei in den Daumen. Au, das tut ja richtig weh! Und morgen wird mich das beim Gemüseschnippeln stören.

Oh, Mann bist du blöd, Mädel! Wenn du dich jetzt gleich tötest, kannst du überhaupt nicht mehr Gemüse schnippeln. Was willst du denn nun? Gib es zu, du willst eigentlich gar nicht tot sein. Du willst nur nicht im Schwarm leben. Ja, aber ich habe doch gar keine Alternative! Vielleicht könntest du weg gehen. Weg - aufs Land. Raus aus der Stadt. Dann verlässt du zwar die soziale Hängematte, aber die gefällt dir ja sowieso nicht. Hm? Ob ich wirklich weggehen könnte? Einfach so?

Na klar, oder hast du irgendwo unterschrieben, dass du lebenslang im Schwarm eingekerkert bleiben musst? Nein? Nein! Na, also! Besser als jetzt sterben, ist Weggehen alle Mal. Wenn du dann dort draußen verhungerst, hast du es wenigstens versucht. Ok, ich werde es versuchen. Zuerst sollte ich mal herausfinden, was sich außerhalb der Stadt überhaupt abspielt, denn in der Stadt kann ich nicht bleiben ohne Job.

Entschlossen umwickelte Juliane das Messer vorsichtig mit Toilettenpapier und steckte es zurück in ihre Jacke. Dann legte sie sich in ihr Bett. Aber an Schlaf war überhaupt nicht zu denken. Die Idee wegzugehen raste durch ihren Kopf und schlug dabei wilde Purzelbäume. Dabei wurde ihr immer schmerzhafter bewusst, dass sie von der Welt außerhalb ihrer Stadt überhaupt nichts wusste. Inzwischen hatte sie sogar jegliche Verbindung zu Allem außerhalb ihres Schwarms verloren.

Wie leben die Menschen eigentlich auf dem Land? Gibt es dort überhaupt Menschen oder sind dort nur noch Landwirtschaftsroboter? Was ich alles herausfinden muss, bevor ich aufbrechen kann. Und dann brauche ich noch eine Ausrüstung, denn nur mit den Kleidern am Leib werde ich nicht weit kommen. Ob mein Restgeld für ein Fahrrad ausreicht? Wohl eher nicht. Ach wäre es doch nur schon Morgen, damit ich mit meinen Recherchen anfangen kann.

Obwohl sie es kaum für möglich gehalten hätte, schlief Juliane irgendwann ein und träumte von Wanderungen in einer fremden ländlichen Welt. Kaum schien das erste Tageslicht ins Zimmer, erwachte sie wieder und hätte sich am liebsten gleich an ihren Computer gesetzt, um mehr über die Außenwelt zu erfahren. Aber da wartete ja noch die Arbeit in der Küche und vorher der Sport und das Essen.

Dass ich die Küchenarbeit mal als lästige Pflicht empfinden würde, hätte ich auch nicht gedacht. Dabei ist sie das einzig wirklich Sinnvolle in dieser Menschen-Aufbewahrungsanstalt.

"Wie gut, dass du die Nudeln spendiert hast, Juliane. Denn sonst hätten wir heute gar nichts kochen können."

"Freut mich, dass es etwas genützt hat. Mal was ganz anderes, Hedwig: Weißt du eigentlich, was jenseits der Stadtgrenzen vor sich geht?"

"Da sind andere Städte und all die Städte bilden zusammen die Europäische Union. Wieso fragst du?"

"Das mit der EU weiß ich natürlich, aber ich meinte eher, was zwischen den Städten ist. Auf dem Land."

"Ach so, das Land meinst du. Landwirtschaftliche Produktionsstätten vermute ich dort."

"Nur? Früher gab es dort doch mal Dörfer, weiß ich aus dem Geschichtsunterricht. Sind die alle weg?"

"Oh, da bin ich überfragt. Das hat mich nie besonders interessiert. Ich weiß nur, dass auf dem Land die Nahrung produziert wird. Und früher gab es in den Bergen natürlich Wanderparadiese für Urlauber. Aber ob es die noch gibt?"

"Schade, dass du es nicht weißt. Wir Jüngeren wissen es bestimmt noch viel weniger. Da werde ich wohl den Computer fragen müssen."

"Ja, tu das. Der Computer weiß schließlich alles. Aber warum interessierst du dich plötzlich für das Leben auf dem Lande?"

"Nur so. Äh, vielleicht schreibe ich eine Geschichte darüber."

"Das ist gut, dass du eine Geschichte schreiben willst. Dann scheinst du dich ja allmählich hier einzuleben."

"Ja, das wird es wohl sein."

Schade, dass ich mich nicht traue, Hedwig die Wahrheit zu sagen. Aber die Wand könnte Ohren haben und außerdem hält Hedwig mich sonst bestimmt für verrückt. Was ich ja vielleicht auch bin. Gut, dass ich wenigstens das Messer unentdeckt wieder reinschmuggeln konnte. Sonst hätte sich Hedwig noch mehr über mich gewundert.

Nach dem Mittagessen setzte sich Juliane sofort an ihren Computer. Zur Tarnung legte sie sich einen Sammelordner mit der Bezeichnung "Geschichten" an, denn sie wollte nicht, dass der Computer zu schnell erfuhr, was sie plante.

"Schön Juliane, dass du Geschichten schreiben willst. Du scheinst Vernunft anzunehmen."

"Ja, ich will ganz brav werden. Zeige mir, wie die Menschen auf dem Land leben", hoffentlich hat der Computer meinen Sarkasmus nicht rausgehört.

"Das Land ist weitgehend unbewohnt. Manche Agrarökonomen wohnen in der Nähe ihrer Ländereien, aber das wird immer weniger. Die landwirtschaftliche Produktion läuft schließlich vollautomatisch."

"Gibt es gar keine traditionellen Bauern mehr?"

"Doch natürlich, aber die fallen statistisch nicht ins Gewicht."

"Für meine Geschichte will ich trotzdem etwas über diese Bauern wissen."

"Die meisten dieser Bauern leben am Rande des Existenzminimums, weil sie hoch verschuldet sind. Das wird keine gute Geschichte, darüber zu berichten."

"Das lass mal meine Sorge sein. Wie und vor allem wo leben diese Bauern?"

"Na gut, wenn du es unbedingt willst. Hier habe ich einen Dokumentationsfilm über einen solchen Bauern. Er wurde heimlich und unter Lebensgefahr von einem Soziologen gefilmt. Die heutigen Bauern sind nämlich extrem fremdenfeindlich."

Auf Julianes Bildschirm erschien eine Szene, die sie landschaftlich an ihre Mittelalterwelt erinnerte. Doch anstelle eines Dorfes war nur ein vereinzelter Hof zu sehen. Ein bärbeißig wirkender Greis humpelte von der Haustür, die schief in den Angeln hing, zu einem Gebäude, das Juliane als Scheune interpretierte. Auf dem Rücken des Bauern konnte Juliane ein Gewehr erkennen. Als der Greis die Scheune wieder verließ, hatte er ein langstieliges Werkzeug geschultert und lief zu einem Acker, auf dem viele Pflanzen durcheinander wuchsen. Dort begann er zu hacken.

In einer anderen Szene konnte man sehen, wie der Mann eine Ziege von einem Landstück zum nächsten zerrte und dort erneut an einen Pflock band. Ein Hund, bei dem man trotz der Entfernung die Rippenknochen zählen konnte, zerrte an einer Kette und winselte, als der alte Mann an ihm vorbei lief. Der Bauer warf dem Hund ein Bündel Grünzeug hin.

Plötzlich drehte sich der Greis erstaunlich schnell um, griff nach dem Gewehr auf seinem Rücken und zielte damit auf die Kamera. Das Bild verwackelte und erlosch dann vollständig.

"Wie du siehst Juliane, ist mit diesen Bauern nicht zu spaßen. Der Forscher kam zwar mit dem Leben davon, aber nur weil er sehr schnell wegrannte."

"Und sonst gibt es kein Leben auf dem Lande? Was ist mit den ganzen Dörfern?"

"Verlassen. Während der Energiekrise sind die Bewohner vom Land in die Städte gezogen, weil es dort draußen mangels Transportmöglichkeiten keine Chancen mehr gab."

"Das kann ich mir ja kaum vorstellen, dass dort gar niemand mehr lebt."

"Mir liegen keine Informationen über bewohnte dörfliche Siedlungen vor."

"Ich dachte, du bist an ein weltweites Informationsnetz angeschlossen und weißt alles."

"Kostenlos stehen dir nur die Informationen des stadtinternen Netzes zur Verfügung. Willst du kostenpflichtig recherchieren?"

"Wieviel kostet das denn?"

"Bei Nichtabonnenten wird im Minutentakt und je nach angezeigtem Inhalt abgerechnet. Die aktuellen Kosten werden jeweils unten am Bildschirm angezeigt."

Oh je, und das, wo ich doch kaum noch Geld habe.

"Also gut, versuchen wir es mal. Zeig mir die Informationen über Bewohner ländlicher Gebiete."

Eine ellenlange Liste erschien auf dem Bildschirm. Am Fuss des Bildschirms standen Verweise auf weitere tausend Listenseiten.

"Oh je, ist das aber viel. Zeig mir den Inhalt des ersten Eintrags."

Die Informationsseite enthielt einen Vortrag über Schmetterlinge.

"Sowas suche ich doch nicht, du dämlicher Computer. Ich meinte natürlich Menschen."

"Dann musst du dich bei der Formulierung eben präziser ausdrücken, Juliane. Hier eine Liste mit Informationen über Menschen in ländlichen Gebieten."

Diesmal gab es immer noch fünfhundert Listenseiten. Auf dem ersten Informationsangebot fand Juliane eine vage Beschreibung des Lebens im achtzehnten Jahrhundert. Währenddessen kletterte die Kostenanzeige in atemberaubender Geschwindigkeit nach oben. Schon diese kurze Abfrage kostete so viel, wie Juliane in einer Woche in der Küche verdiente. Juliane sah dies mit Entsetzen.

"Stop! Hör sofort auf mit diesen kostenpflichtigen Seiten! Stop!"

"Zu Befehl, liebe Juliane. Willst du jetzt wieder World 3000 spielen?"

"Ja, nur zu."

Welch ein Albtraum. Anscheinend soll verhindert werden, dass ich mich frei informiere. Bei diesen Preisen bin ich restlos ruiniert, bevor ich auch nur in die gewünschte Richtung vorgestoßen bin. Na, dann muss es eben ohne gehen. Besser als sterben ist es allemal, die Freiheit des Landlebens zu suchen. Am besten, ich spiele erst mal ne Runde, damit es nicht auffällt, was ich vorhabe.

Nach der Arbeit in der Brauerei setzte sich Julia zu Rufus in die Schankstube. Als der Wirt ihr das Essen brachte, bat sie ihn spaßeshalber, weil ihr nichts besseres einfiel, sich zu ihnen an den Tisch zu setzen, weil sie ein paar Fragen an ihn hätte.

"Du kennst dich doch auf dem Lande aus, Sonnenwirt. Wo kann ich Menschen finden, die auf dem Lande leben, wenn ich die Stadt verlassen will?"

Seltsamerweise nahm der Wirt gar keinen Anstoß daran, dass sich Julia in World 3000 gar nicht in der Stadt befand, sondern in einer ländlichen Wirtschaft saß.

"Das wird gar nicht so einfach werden. Am besten hältst du dich in Richtung Nordosten von dort aus, wo du jetzt lebst. Gehe in die Hügel, aber nicht in die Berge. Und meide die Siedlungen der Taugenichtse. Ansonsten könntest du auch mal den Dorfmagier fragen. Willst du noch einen Humpen Bier?"

Vollautomatisch

Künstliche Intelligenz
von Günter Görz, Bernhard Nebel

Die Virenjägerin
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Vollautomatisch
Vollautomatisch

208 Seiten
ISBN 3-938764-01-5

Preis: 14.80 Euro

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