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Vollautomatisch

Kapitel 21


  
Die nächste Woche war quälend langweilig.

Nicht einmal World 3000 konnte Juliane aufmuntern, obwohl sie einen großen Teil ihrer Nachmittage in der Mittelalterwelt verbrachte.

Rufus saß inzwischen große Teile der Tage in der Schänke und ließ sich das vorzügliche Bier schmecken. Meistens schnitzte er kleine Figuren aus Holzstücken, die Julia für ihn gesammelt hatte.

Julia hingegen lernte im benachbarten Braukeller die Herstellung des flüssigen Goldes, das Rufus in solch großen Mengen in sich hineinschüttete. Das Bierbrauen war komplizierter als Julia sich das vorgestellt hatte. Vor allem war sie erstaunt, über das Maß an Hygiene, das eingehalten werden musste.

Der Wirt, der zugleich zuständig für die Brauerei war, zeigte ihr zur Demonstration ein Fässchen Bier, bei dem es an Sauberkeit gemangelt hatte und das deshalb völlig ungenießbar geworden war. Gleich nachdem Julia es probiert und sich angewidert geschüttelt hatte, brachte der Wirt das missratene Bier nach draußen und goss es weg.

An Nachmittag ging Julia meistens in die Molkerei und half bei der Käseherstellung. Ganze Regalwände voll reifender Käselaibe wollten gewendet und mit Salzlake bestrichen werden. Auch bei der Herstellung der Käselaibe war Julias Hilfe gern gesehen, denn es war anstrengend, den Käsebruch im Kessel umzurühren und die frischen Laibe zu pressen. Das überließ die alte Bäuerin gerne der eifrigen Julia.

Kaum verließ Juliane jedoch die Spielumgebung, brach Verzweiflung über sie herein. Im Schwarmhaus hatte sich zwar nichts wesentliches geändert, aber alles, was ihr vorher gemütlich erschienen war, wirkte jetzt einengend auf sie.

Am liebsten würde ich die ganze Zeit im Mittelalterdorf bleiben, aber leider drückt ab und zu die Blase. Außerdem will ich kein Zombie werden, der gar nicht mehr in der echten Welt lebt. Dann kann ich ja gleich in so einen Faulenzerschwarm ziehen. Und das will ich auf gar keinen Fall!

"Hallo Computer! Muss es wirklich eine ganze Woche sein, bevor ich wieder raus darf? Ich habe doch gar nichts Schlimmes angestellt."

Die Stimme des Hauscomputers meldete sich.

"Ja, es muss eine ganze Woche sein. Bei einem schlimmen Vergehen hättest du eine viel längere Ausgangssperre, also beklage dich nicht."

"Aber was soll ich denn hier tun? Ich fühle mich so nutzlos."

"Du brauchst doch gar nicht nützlich sein. Mach dich frei von solchen Gedanken. Heutzutage geht es nicht mehr darum, nützlich zu sein."

"Ich will aber etwas Sinnvolles tun."

"Vormittags bist du doch schon in der Küche. Das ist schon mehr als ein vernünftiger moderner Mensch arbeiten will. Soll ich dir etwa noch eine Beschäftigung ermöglichen?"

"Ja bitte!"

"Einverstanden. Du kannst dich im Erdgeschoss im Büro melden."

"Danke, ich komme sofort."

Juliane kämmte schnell ihre Haare, die zottelig um ihren Kopf hingen, und verließ ihr Zimmer. Im Erdgeschoss öffnete sich die Tür zum Büro, sobald Juliane unten ankam. Die altbekannte Stimme, die so sehr nach ihr selbst klang, rief sie herein und forderte sie auf, einen Stapel Papier aus dem Ausgabefach zu entnehmen.

"Setz dich da drüben an den Tisch und sortiere diesen Stapel Schriftverkehr alphabetisch nach Firmennamen."

"Ok, mach ich."

Juliane nahm den Stapel Papier, der so aussah, als wäre er von ein und demselben Drucker bedruckt worden. Lässt sich das denn nicht automatisch sortieren? Na klar, logisch geht das, aber ich wollte ja Arbeit haben. Fangen wir also mit der Sortierung an.

Die Papiere enthielten nichtssagende Geschäftsbriefe, die auf Juliane einen unechten Eindruck machten. Sie waren kunstvoll durcheinandergewürfelt, so wie es nur eine raffinierte Zufallsfunktion schaffte. Juliane häufte zunächst Stapel von nahe beieinanderliegenden Buchstaben des Alphabets auf, um diese anschließend einzeln zu sortieren.

"Computer, gibt es hier eigentlich gar keine anderen Mitarbeiter?"

"Nein, zur Zeit genießen alle anderen ihre Freizeit."

"Hm."

Welch eine sinnlose Tätigkeit. Ob es morgen wohl besser wird?

Nachdem sie den Stapel durchsortiert hatte, ging Juliane wieder in ihr Zimmer. Im Vergleich zu der öden Büroarbeit schien ihr der nächste Ausflug in die Mittelalterwelt wie Balsam auf ihrer gelangweilten Seele.

Die Arbeit auf dem Feld war zwar nur virtuell, aber zumindest fühlte es sich sinnvoll an. Und als Juliane dann das erste Bier probieren durfte, bei dem sie selbst aktiv mitgeholfen hatte, war sie fast wieder glücklich. Wie pervers. Dabei schmecke ich es nicht mal in echt, sondern nur simuliert. So weit ist es schon mit mir gekommen. Aber immerhin habe ich viel gelernt beim Bierbrauen. Wer weiß, ob ich das nicht später mal gebrauchen kann.

Am nächsten Tag versuchte Juliane es noch mal in dem Büro. Sie erhielt wieder einen Stapel Geschäftsbriefe zum Sortieren. Ich glaub, ich spinne. Das sind genau die gleichen Briefe wie gestern. Alle wieder sorgfältig durcheinandergewürfelt.

"He, warum bekomm ich noch mal die gleichen Briefe? Die habe ich doch gestern schon mal sortiert."

"Du wolltest doch Arbeit haben, oder? Hier ist deine Arbeit. Wenn sie dir nicht passt, kannst du auf dein Zimmer gehen."

"Weisst du was, du blöder Computer: genau das werde ich tun. Hier hast du deine Beschäftigungstherapie!"

Juliane warf den Briefstapel mit Schwung zurück in das Ausgabefach und stampfte dabei mit dem Fuß auf den Boden, um zu demonstrieren, wie wütend sie war. Der Computer ließ sich davon aber nicht beeindrucken, sondern verabschiedete sich von Juliane, als wäre alles ganz normal verlaufen.

Voller Empörung stürmte Juliane die Treppen hoch und durch den Gemeinschaftsraum. Dort wurde sie von Sabine aufgehalten.

"He Juliane, gut, dass du vorbeikommst. Dein erster Strumpf ist bereit für die Anprobe."

"Oh wunderbar. Wenigstens ein Lichtblick in diesem nutzlosen Leben."

"Na na, wer wird den hier so frustriert sein? Das Leben ist doch einfach herrlich. Komm mal rüber und steck deinen Fuß hier in den Strumpf. Achtung, auf die Nadeln aufpassen, damit sie nicht abrutschen."

Juliane entblößte ihren Fuß und zog den halbfertigen Strumpf über. Die fünf Nadeln befanden sich in der Mitte ihres Vorderfußes, genau dort, wo der Fuß sich allmählich verjüngte. Die Weite passte perfekt.

"Sehr gut, genau hier muss ich schmaler werden. Ok, jetzt weiß ich ungefähr, wie der Rest des Strumpfes verlaufen muss. In einer Stunde werde ich dich nochmal probieren lassen, wenn es dir recht ist."

"Gerne, du kannst dann ja einfach bei mir klopfen."

Zurück in ihrem Zimmer verzichtete Juliane darauf, ihr Headset aufzusetzen, damit sie das Klopfen von Sabine nicht verpasste. Statt in die Mittelalterwelt einzutauchen stöberte sie im Netz nach echten Informationen über die Braukunst und die Käsebereitung. Sie war erstaunt, wie realitätsnah diese Vorgänge im Spiel gestaltet waren. Das was sie dort gelernt hatte, entsprach also tatsächlich der echten Vorgehensweise. Juliane war so vertieft in ihre Recherchen, dass sie vom Klopfen Sabines erschreckte. Auch Tina schreckte auf, von diesem ungewohnten Geräusch.

"He, was soll denn das? Wer klopft denn da?"

"Keine Sorge, das ist bestimmt Sabine, die mir den fertig gestrickten Strumpf zeigen will."

"Na sowas! Besuch auf dem Zimmer ist hier aber nicht üblich."

"Ich gehe auch raus zu ihr in den Gemeinschaftsraum."

Huch, habe ich da irgendein Tabu übertreten ohne es zu ahnen? Ach, wahrscheinlich ist Tina es einfach nicht gewöhnt, Kontakt zu den anderen zu haben, wenn sie im Zimmer sitzt. Sie lebt ja sowieso sehr ruhig vor sich hin, was es ja normalerweise auch einfach mit ihr macht.

Der Strumpf passte wie angegossen. Sabines Augen leuchteten als sie es sah. Auch Petra war inzwischen soweit, dass Juliane den anderen Strumpf anprobieren konnte. Um Tina nicht noch mal zu irritieren, blieb Juliane im Gemeinschaftsraum sitzen, bis der zweite Strumpf fertig war. Dabei schaute sie den beiden Frauen beim Stricken zu.

Wie vertieft sie in ihre Arbeit sind. Sie haben mich völlig vergessen. Auch wenn Wollsocken alles andere als lebenswichtig sind, ist das hier endlich mal eine echt sinnvolle Beschäftigung, natürlich abgesehen vom Kochen. Ob ich vielleicht auch stricken lernen sollte?

"Wärt ihr bereit, mir das Stricken beizubringen? In meiner Kindheit habe ich mal die Grundbegriffe gelernt, aber die habe ich längst vergessen und Strümpfe konnte ich noch nie stricken."

"Ja, klar können wir dir das beibringen. Für den Anfang ist das Strumpfstricken aber zu schwer. Am besten besorgst du dir mitteldicke Wolle für einen Schal und dazu passende Nadeln. Dann zeigen wir dir das gerne, nicht wahr Petra?"

"Logisch. Ist doch eine gute Gelegenheit unseren Strickclub zu vergrößern."

"Prima. Mein Geld müsste noch reichen für einen Schal und entsprechende Nadeln. Werde ich gleich mal bestellen gehen."

Soweit ist es also schon mit mir gekommen. Stricken lernen als Hoffnungsanker der Sinnhaftigkeit. Na ja, immer noch besser als immer wieder die gleichen Papiere sortieren.

Vollautomatisch

Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft. Neue Konzepte für das 21. Jahrhundert
von Jeremy Rifkin

Die Virenjägerin
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208 Seiten
ISBN 3-938764-01-5

Preis: 14.80 Euro

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