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Vollautomatisch

Kapitel 17


  
"Nimm lieber eine Mahlzeit mit Gemüse, denn die dürfte von Mutter Hedwig sein. Die Lasagne sieht zwar lecker aus, ist aber wahrscheinlich Fertigfraß."

Juliane folgte Tinas Ratschlag und nahm einen Teller mit Reis und Gemüse aus dem Ausgabefach. Sofort füllte sich das Fach automatisch mit einem neuen Teller. Außer der Hauptmahlzeit gab es noch Nachtisch und Getränke nach Wunsch. Mit ihrem gefüllten Tablett folgte Juliane Tina zu einem freien Tisch.

Das Essen riecht ja wirklich lecker, wie selbstgekocht. Aber ansonsten ist das hier schon eine ziemlich ungemütliche Abfütterungsmaschinerie. Die anderen Insassinnen sehen auch nicht sehr glücklich aus. Wie sie alle rüberstarren.

"Ob ich mich den anderen irgendwie vorstellen sollte, oder wie läuft das hier? Die gucken alle so argwöhnisch."

"Ach lass dich von denen doch nicht beeindrucken. Später kannst du ja mal in den Gemeinschaftsraum gehen und dich mit ihnen bekannt machen. Spezielle Begrüßungsrituale gibt es hier nicht."

"Ok, dann werde ich versuchen, die Blicke einfach zu ignorieren."

"Glaub mir, die wissen, wie beschissen du dich fühlst. Von denen ist ja noch Keine lange hier. Schließlich ist das hier ein funkelnagelneues Schwarmhaus."

Juliane war froh, ein unverfängliches Thema gefunden zu haben und erzählte Tina davon, wie sie durch den Bauzaun geschaut hatte und dass sie als Kind in dem ehemaligen Stadtteil an dieser Stelle gespielt hatte.

Wie versprochen, schmeckte das Essen vorzüglich. Auch der Nachtisch, ein Erdbeerpudding, war ausnehmend lecker und Juliane hätte am liebsten noch mehr davon gegessen. Laut Tinas Aussage war der Nachtisch zwar synthetisch, aber davon ließ Juliane sich nicht abschrecken. Hauptsache er schmeckte gut.

Eigentlich ist es ja gar nicht so schlecht hier. Fast wie in einem Ferienlager. Und mit gefülltem Bauch sieht die Welt auch gleich viel sympathischer aus. Ich frage mich, vor was ich mich eigentlich gefürchtet habe. Die Frauen hier scheinen eigentlich ganz nett zu sein. Das Beste ist aber, dass ich mir keine Sorgen mehr machen muss. Das ist eine richtige Erleichterung.

Nach dem Essen blieben die meisten noch eine Weile sitzen und tranken in aller Ruhe ihre Getränke. Ein paar Frauen kamen auf dem Weg nach draußen an Julianes Tisch vorbei und begrüßten sie kurz. Juliane konnte sich die verschiedenen Namen und Gesichter jedoch nicht auf Anhieb merken, denn die Frauen unterschieden sich kaum in der Art, wie sie auftraten.

Später lerne ich sie bestimmt alle richtig kennen. Vielleicht finde ich ja sogar ein paar Freundinnen unter den Mitbewohnerinnen. Auch Tina ist ziemlich nett. Ich war ganz schön dumm, mit meiner Angst vor dem Schwarmleben.

Nach dem dritten Kaffee entschieden sich auch Tina und Juliane, die Kantine wieder zu verlassen. Die benutzten Tabletts schoben sie in ein entsprechendes Fach, wo sie sofort in der Versenkung verschwanden.

Da niemand im Gemeinschaftsraum saß, ging Juliane wieder in ihr Zimmer und widmete sich der Mittelalterwelt. Beim Spielen vergaß sie völlig, dass sie jetzt im Schwarm lebte und ihre Freiheit verloren hatte. Sie fühlte sich wie zu Hause, denn an ihrer Mittelalterwelt hatte sich nichts verändert.

Schneller als erwartet war es schon wieder Zeit fürs Abendessen. In der kalt wirkenden Kantine fühlte sich Juliane zunächst wieder unbehaglich, weil sie daran erinnert wurde, wo sie sich befand. Doch im Verlauf des Essens besserte sich ihre Laune erheblich. Das Essen schmeckte gut, obwohl es nur belegte Brote und ein Süppchen gab.

Wie sich ein voller Bauch doch auf die Stimmung auswirkt. Das ist mir noch nie so deutlich aufgefallen wie hier. Kaum habe ich ein paar Bissen im Magen, sieht die Welt gleich viel rosiger aus. Wie gut, dass wir Frühsport treiben müssen, sonst würden wir hier wohl wirklich du fetten Kugeln werden. Hoffentlich stört mein Knie nicht beim Sport; das wäre sonst ziemlich ärgerlich. Aber ich habe einfach keine Lust, zuviel Wirbel um mein Hinken zu machen. In letzter Zeit ging es eigentlich auch ziemlich problemlos mit dem Bein.

Nach einer weiteren Runde World 3000 wurde Juliane müde und legte sich in ihr neues Bett. Ein kleines Extra-Kopfkissen hatte sie von Zuhause mitgebracht, damit es nicht gar so fremd war in ihrem neuen Leben. Das Kissen roch vertraut und Juliane konnte sich schnell entspannen. Im Halbschlaf sah sie die Entrümpler vor sich, die ihre alte Wohnung leerten und war froh, dass sie das nicht hatte selbst machen müssen. Der eine Entrümpler hatte wirklich sympathisch gewirkt, so sympathisch, dass sie ihm eigentlich gerne beim Entrümpeln geholfen hätte, trotz der Schmerzen, die ein Entrümpeln ihrer eigenen Wohnung bedeutet hätte. Der Anflug von Heimweh, der sie bei den Gedanken an ihre alte Wohnung gepackt hatte, verging jedoch schnell wieder und Juliane glitt in traumlosen Schlaf.

"Ding-Dong! Guten Morgen! Es ist Zeit zum Aufstehen!"

Eine freundliche Stimme, die an Nora erinnerte, weckte Juliane am nächsten Morgen. Sie fühlte sich ausgeschlafen, aber die entspannte Stimmung vom Abend war verschwunden. Stattdessen blickte sie sich entsetzt in dem seelenlosen Zimmer um, das sie jetzt bewohnte.

Oh je, wo bin ich hier nur gelandet. Und hier soll ich den Rest meines Lebens verbringen?

"He Juliane, keine Zeit zum Trübsalblasen. Keine Widerrede, ich sehe es dir an, wie du dich fühlst. Lass uns in der Kantine einen schnellen Kaffee schlürfen, dann wird es gleich besser. Und dann ist Zeit zum Sporteln."

"Ok, danke. Du hast Recht, ich war grad völlig entsetzt, wo ich hier gestrandet bin. Aber das kennst du ja bestimmt auch gut genug."

"Klar kenne ich das. Ich habe mich auch grad erst eingelebt. Glaub mir, der Kaffee wird helfen. Das tut er immer."

Tina behielt Recht. Schon nach wenigen Schlucken Kaffee fühlte Juliane sich wieder besser. Dabei war sie sonst gar kein ausgeprägter Kaffee-Fan.

Da es weder regnete noch schneite, fand der Frühsport draußen statt. Juliane genoss die klare, frische Luft. Die sportlichen Übungen erwiesen sich als harmlos und ließen sich auch mit ihrem Hinkeknie leicht bewältigen. Zuerst liefen sie ein paar hundert Meter im Kreis, dann folgten normale Aufwärmübungen. Eine Computerstimme feuerte sie an.

Woanders nennt sich sowas Aerobic-Kurs und muss teuer bezahlt werden. Eigentlich gar nicht so schlecht, diese staatlich unterstützte Lebensführung. Zuhause hätte ich ja nicht mal den Platz gehabt für solche Übungen. Und ein Fitness-Center konnte ich mir sowieso noch nie leisten.

Nach dem Frühsport hatten die Schwarmbewohner Zeit zum Duschen und um ihre Zimmer zu säubern. Dann gab es ein üppiges Frühstück. Juliane hatte die Wahl zwischen Brötchen, Vollkornbrot, Corn Flakes, Obst, Haferbrei und diversen Getränken. Das Schwarmleben gefiel ihr zunehmend besser.

Zurück in ihrem Zimmer forderte Julianes Computer sie auf, sich für eine freiwillige Tätigkeit zu entscheiden. Nach einer kurzen Durchsicht der verschiedenen Möglichkeiten wählte sie die Küche, weil sie Mutter Hedwig kennenlernen wollte.

Julianes Dienst begann sofort, denn bis zum Mittagessen musste die Mahlzeit gekocht sein. Die Küche befand sich im Untergeschoss des Schwarmhauses und nur die freiwilligen Helfer hatten Zutritt.

Mutter Hedwig erwies sich als kräftig gebaute Matrone mit dunkelblonder Betonfrisur. Sie war sofort zur Stelle, als Juliane die Küche betrat.

"Aah, eine Neue in unseren heiligen Hallen. Willkommen in der Küche! Du hast richtig gewählt. Wie heisst du denn?"

"Ich heisse Juliane, und wie darf ich dich, äh, Sie nennen?"

"Nenn mich einfach Mutter Hedwig, wie alle hier. Schön, dass du hier mithelfen willst. Wir können jede helfende Hand gebrauchen, um dem Fertigessen zu entkommen. Welche Erfahrung hast du beim Kochen?"

"Nicht sehr viel, aber ich bin in der Lage preiswerte Mahlzeiten zuzubereiten, die den Bekochten meistens schmecken."

"Wunderbar, ganz phantastisch. Da hast du den meisten Frauen heutzutage was voraus. Hier hast du ein Messer. Du kannst gleich mal mit Zwiebelschneiden anfangen. Das müssen alle Neuen hier am Anfang machen. Währenddessen können wir weiterreden."

Juliane nahm das Messer entgegen und setzte sich vor einen Riesenberg ungeschälter Zwiebeln.

"Hallo Freundinnen!" rief Mutter Hedwig mit erhobener Stimme in den Raum. "Hier ist Juliane, die uns ab jetzt im Kampf gegen das Kunstessen unterstützen wird."

Applaus und Willkommenrufe kamen aus allen Ecken der Küche. Außer Juliane und Mutter Hedwig befanden sich noch ein knappes Dutzend weiterer Frauen in Raum.

"So, Juliane, jetzt erzähl mir doch mal, wie du deinen ersten Tag im Schwarm erlebt hast."

Wie herzlich hier alle sind. So eine familiäre Stimmung hätte ich niemals im Schwarm erwartet. Hier geht es ja richtig menschlich zu.

"Eigentlich war es besser als befürchtet. Und das leckere Essen hat den Einstieg auch erleichtert. Meine Zimmergenossin Tina hat mir gleich am Anfang erzählt, dass du hier für alle kochst. Das tröstet wirklich über den Kummer hinweg, dass man sein Leben nicht selbst bewältigt hat und nicht mehr gebraucht wird."

"Was hast du gestern denn alles gegessen?"

"Reis und Gemüse, denn das hatte mir Tina empfohlen, weil die Lasagne angeblich synthetisch war. Der Erdbeerpudding zum Nachtisch hat auch sehr gut geschmeckt."

"Erdbeerpudding hast du auch gegessen? Kein Wunder, dass du so positiv eingestellt bist. Merk dir: von Kunstnahrung wie dem Erdbeerpudding solltest du in Zukunft unbedingt die Finger lassen, wenn dir dein freier Wille am Herzen liegt."

Juliane starrte Mutter Hedwig verständnislos an.

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208 Seiten
ISBN 3-938764-01-5

Preis: 14.80 Euro

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