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Vollautomatisch

Kapitel 12


  
Die Heiserkeit war übers Wochenende glücklicherweise verflogen, doch Juliane war nur mit halber Aufmerksamkeit bei der Sache, als am Montag die Arbeit wieder anfing. Mit der anderen Hälfte ihres Verstandes dachte sie darüber nach, wie sie Gabriel zu Ritten unter freiem Himmel verhelfen konnte, ohne ihn zu gefährden.

"Juliane, bitte mehr Konzentration! Lies den letzten Satz noch dreimal!"

"Sorry, ja mache ich."

Mist! Jetzt versaue ich mir wegen eines nicht existenten Jungen noch meinen Job, wenn ich mich nicht zusammenreiße. Pass bloß auf, Mädchen!

Der Rest des Tages verlief fehlerlos - auch in den nächsten Tagen und Wochen gönnte sich Juliane kaum eine Unaufmerksamkeit, wenn sie am Mikrofon saß. Sie hatte den Eindruck, dem Computer alles sagen zu müssen, was es auf der Welt zu sagen gibt. Von den einfachen Standardsätzen war sie längst in das Dickicht fachspezifischer Gespräche vorgedrungen. Mal ging es um das Funktionieren technischer Geräte, ein ander Mal um örtliche Gegebenheiten, dann wieder um Handelsgespräche. Besonders die umfangreichen Listen mit Firmennamen und Produktbezeichnungen waren ihr ein Dorn im Auge. Aber das entspannte Betriebsklima war ein erholsamer Ausgleich für lästige Sprachfetzen.

Bald war der Tag gekommen, an dem Martina ihr Stimmmuster abgeschlossen hatte und Abschied nahm. Trotzi spendierte eine Flasche Champagner, den sie nach Feierabend gemeinsam schlürften. Martina wirkte eher traurig als in Feierstimmung.

"Was machst du eigentlich anschließend, Martina?"

"Das gleiche, was die meisten von uns tun: versuchen, von den Tantiemen zu leben."

"Ist das denn soviel?"

"Wenn man sehr bescheiden lebt, soll es angeblich eine Weile reichen. Ich habe eine Mitbewohnerin in meine Wohnung aufgenommen, damit die Miete nicht so teuer ist."

"Meine Wohnung eignet sich leider nicht, um darin zu zweit zu wohnen, schade. Aber dafür ist sie auch nicht sehr teuer. Aber ob das reichen wird?"

"Ich weiß auch noch nicht, ob ich mit dem Geld auskommen werde. Vielleicht mache ich nebenher Büroarbeiten, wenn ich Aufträge kriege. Und nach einem neuen Job suche ich natürlich sowieso."

"Weißt du eigentlich, wie es unseren Vorgängerinnen so ergeht, nachdem sie hier fertig sind?"

"So arg viele sind das noch gar nicht, weil die Stimmuster-Produktion hier bisher nicht mal ein Jahr lang läuft. Mit Silvia, deiner Vorgängerin telefoniere ich öfter, aber die ist ja erst einen Monat draußen. Sie kennt aber welche, die schon ein halbes Jahr und länger fertig sind. Manche leben wohl immernoch von den Tantiemen, andere haben einen neuen Job und es gibt wohl auch welche, die sich finanziell übernommen haben und jetzt im Schwarm wohnen."

"Dann drück ich uns die Daumen, dass wir zu denen gehören, die es schaffen. Meldest du dich mal, damit wir hören, wie du klarkommst."

"Logisch! Wir können uns auch nach Feierabend mal treffen."

"Gerne!"

Am nächsten Tag kam Nora: verunsichert, aber mit einer schönen Altstimme. Juliane fühlte sich schon sehr alteingesessen in ihrem Job, als sie Nora die Details des Arbeitsalltags erklärte.

Zu Hause versuchte Juliane mehrmals, ein Treffen mit Susanne zu verabreden, doch Susanne war so beschäftigt, dass sie den Termin immer wieder hinausschob. Auf dem Bildschirm sah Susanne völlig verändert aus: schick geschminkt, mit eleganter Frisur und einem seidenen Halstüchlein, aber gut gelaunt. Juliane war schon sehr neugierig darauf, wie es Susanne im Detail ergangen war. Aber die kleinen Abenteuer am Rande ließen sich einfach besser bei einem gemeinsamen Kaffee austauschen.

Ob sie wohl einen neuen Freund hat? Arbeit alleine hält einen meistens nicht so beschäftigt, dass man nicht mal am Sonntag seine beste Freundin besuchen kann. Na ja, ich hab ja meine Mittelalterwelt. Da warten sie schon auf mich.

In World 3000 schlug sie zahlreiche Scharmützel, lernte bukolische Städte kennen und befreundete sich immer enger mit ihren Mitreisenden. Der Weg zur Hauptstadt schien endlos, aber sie genoss jeden Tag der Reise.

Oft fiel es ihr spätabends schwer, sich aus der Abenteuerwelt loszureißen und schlafen zu gehen. Doch nachdem sie gemerkt hatte, dass sie für die Arbeit ihre volle Konzentration brauchte, zwang sie sich meistens rechtzeitig ins Bett.

Im Supermarkt achtete Juliane inzwischen sorgsam auf die Preise ihrer Einkäufe. Denn sie wollte so lange wie möglich von ihren späteren Tantiemen leben und ihr war klar, dass sie dazu ihre Ausgaben auf ein Minimum reduzieren musste. Noch gönnte sie sich ein paar ihrer kostspieligeren Lieblingsspeisen, aber die wollte sie nach und nach gegen billigere Produkte austauschen.

Sie stand vor der Kasse und überschlug die Kosten des Einkaufs, als sie mit ihrer eigenen Stimme angesprochen wurde.

"Bitte schieben Sie Ihren Wagen durch die Kasse!"

Verwirrt blickte Juliane sich um. Wie ist das möglich? Warum spreche ich mit mir? Habe ich schon Halluzinationen? Von hinten drängelte eine Frau.

"Machen Sie schon! Gehen Sie endlich durch die Kasse!"

Endlich verstand Juliane, was vor sich ging. Ihr Stimmmuster wurde bereits praktisch eingesetzt. Zügig ging sie durch die Kasse.

"Vielen Dank für Ihren Einkauf!"

Die automatische Kasse hat tatsächlich meine Stimme angenommen. Erstaunlich, dieser Effekt! Dabei habe ich das mit dem Wagendurchschieben doch nie gesagt, zumindest nicht in diesem Zusammenhang. Das ist wohl des Geheimnis des "Stimmmusters". Aus meinen Worten werden beliebige Sätze gebildet.

Sie drehte sich zu der Frau um, die gedrängelt hatte und sagte: "Entschuldigen Sie bitte meine Verträumtheit".

Jetzt war die Reihe an der Frau, sich verwirrt umzublicken.

Juliane genoss diesen kurzen Moment und machte sich dann auf den Heimweg.

Zu Hause fand sie eine Nachricht von Susanne vor. Susanne hatte am Sonntag endlich Zeit für ein gemütliches Schwätzchen. Juliane freute sich sehr, denn trotz der Kollegen im Callcenter und ihren virtuellen Freunden in der Mittelalterwelt, fühlte sie sich oft einsam. Sie konnte es kaum erwarten, dass es Sonntag wurde und sie endlich wieder eine echte Freundin treffen würde.

Doch zuerst war sie befremdet, als sie Susanne endlich im Café gegenüber stand. Susanne hatte sie in ein teures Etablissement eingeladen, das sich Juliane noch nie hatte leisten können.

Ob das überhaupt Susanne ist? Sie sieht überhaupt nicht mehr wie Susanne aus. Weder wie die fröhliche, normale Susanne aus Jugendtagen, noch die freudlose Susanne aus dem Schwarm. Wie geschniegelt sie aussieht. Ob man überhaupt noch normal mit ihr reden kann? Na ja, wenigstens die Augen erkenne ich wieder.

Trotz Julianes Befürchtungen sprang Susanne fröhlich auf und nahm ihre Freundin herzlich in den Arm. Beim Hinsetzen verhedderte sie sich mit einer ihrer langen Ketten an der Stuhllehne. Betreten kichernd befreite sie sich wieder und warf einen spöttisch amüsierten Blick auf ihr Geschmeide.

"Ich seh es dir schon an: du wunderst dich über meine aufgetakelte Erscheinung, oder?"

"Ertappt! Wie bist du denn zu den ganzen Klunkern gekommen? Und was hat der Friseur gekostet?"

"Theo hat es offenbar gefallen, mich nach Strich und Faden zu verwöhnen."

"Theo? Der ist doch jetzt dein Boss. Du meinst..., nein, das meinst du nicht, oder?"

"Doch, ich meine."

"Du und Theo? Nein - unfassbar. Ich hab mich schon gewundert, warum du überhaupt den Job bei diesem Schnösel angenommen hast."

"Das war der reine Fluchtimpuls. Ich hätte fast alles angenommen, was mich aus diesem trostlosen Kasten rausgeholt hätte."

"Gut, das konnte ich ja auch noch nachvollziehen. Aber, dass du dann gleich..."

"... mit Theo anbandelst. Sag es ruhig, auch wenn sich dir dabei bestimmt der Magen rumdreht. So schlecht ist der Theo gar nicht. Dieses ganze Schnösel-Getue ist nur Fassade. Eigentlich ist er ein ganz anständiger Kerl. Und einsam war er in dieser Schnösel-Welt. Ich glaube, dort sind die meisten einsam - egal wie es aussieht."

"Und du hast jetzt ein wenig Herz in sein Leben gebracht. Dafür überhäuft er dich mit unnützem Tand - na prima."

"He, he, ich wollte schon immer gerne Tand im Überfluss haben, schicke Kleider, elegante Schuhe, glitzernden Schmuck und teure Frisuren. Schon als ich ein kleines Mädchen war, wäre ich gerne eine Prinzessin gewesen. Wie könnte ich da jetzt widerstehen?"

"Das leuchtet ein. Als Kind hatte ich auch meine Prinzessinnen-Phase, aber jetzt reizt mich das kaum noch."

"Genau so dachte ich auch noch vor kurzem. Aber inzwischen denke ich, dass das nur ein Psychotrick ist, damit man sich nicht vor lauter Neid verzehrt. Bestimmt werde ich diese Nobelklamotten auch irgendwann leid, aber es ist klasse, das Luxusleben mal ausleben zu können."

"Mag sein, aber zur Zeit stelle ich mich eher auf das Leben eines Sparweltmeisters ein. Mein Job ist ja bald schon wieder vorbei und dann will ich versuchen, so lange wie möglich mit den Tantiemen auszukommen."

"Tantiemen? Klingt ja interessant."

"Ist es auch. Die zahlen mir Prozente auf die Lizenzverträge für die Nutzung meines Stimmmusters. Inzwischen finde ich das durchaus angemessen, denn es ist ziemlich merkwürdig, wenn Maschinen mit der eigenen Stimme sprechen."

"Wo du es grad erwähnst: seit ein paar Tagen spricht unser Aufzug mit deiner Stimme. Beim ersten Mal war ich ganz erschrocken und habe mich umgeschaut, ob du plötzlich im Aufzug erschienen bist. Aber da war niemand. Gespenstisch fand ich das, bis mir einfiel, dass du ja diese Stimmmuster produzierst."

"Und dann hat dich der Aufzug immerzu dran erinnert, dass wir uns mal treffen wollten?"

"Da habe ich sowieso oft dran gedacht, aber ich muss gestehen, dass die letzten Wochen oft wie ein Rausch waren. Theo und ich waren auch sehr miteinander beschäftigt. Heute hat er aber ein langweiliges Meeting und da habe ich die Gelegenheit gleich genutzt."

Im Verlauf des Gespräches fühlte Juliane sich wieder vertrauter mit Susanne, obwohl ein gewisser Graben bestehen blieb. Susanne in der Welt der Reichen angekommen und Juliane, die immer noch um eine würdige Existenz kämpfte.

Vollautomatisch

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Vollautomatisch
Vollautomatisch

208 Seiten
ISBN 3-938764-01-5

Preis: 14.80 Euro

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