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Vollautomatisch

Kapitel 10


  
Pünktlich fünf vor Neun erreichte Juliane das mausgraue Gebäude des Callcenters. Davor stand eine Gruppe junger Frauen, die fröstelnd, mit hochgezogenen Schultern zusammenstanden und Rauchkringel in die Luft bliesen. Ob ich hier wohl mit denen zusammen warten muss? Nein, jemand anders geht einfach rein. Vielleicht halten die noch eine Rauchpause bevor es losgeht.

Juliane ging an den Frauen vorbei und versuchte die scharfen Blicke zu ignorieren. Jetzt wissen sie alle, dass ich hinke. Da hab ich bestimmt gleich einen Spitznamen weg. Was solls? Beim Telefonieren braucht man keinen eleganten Gang.

Als sie gerade durch die Tür ins Innere des Gebäudes gehen wollte, hörte sie ein wütendes Zischen: "Verschwinde, du Jobkillerin!"

Meinen die mich? Wieso Jobkillerin? Ich will doch nur ganz normal meine Arbeit machen, wie andere auch. Wenn das gleich schon so feindselig anfängt, kann das ja noch heiter werden.

Der Aufzug brachte sie ins vierte Geschoss.

Sie trat in einen Vorraum, der ganz in dunkelblau gehalten war. Eine einzelne Tür durchbrach die glatten Wände; auch in dunkelblau. Daneben fand Juliane ein Schaltpanel, in dessen oberer Hälfte ein einzelner Knopf prangte. Ein Schild mit der Aufschrift "Bitte hier klingeln" machte deutlich, welchem Zweck der Knopf diente.

Merkwürdig! Bei den unteren beiden Geschossen konnte man bis in die Großraumbüros reinschauen, das dritte war leer und hier treiben sie so eine Geheimniskrämerei. Sehr merkwürdig.

Obwohl ihr etwas mulmig zumute war, klingelte Juliane ohne lang zu zögern. Schon nach wenigen Sekunden öffnete sich die Tür zischend und Juliane hörte eine Stimme.

"Ah, Sie sind es. Willkommen! Gleich die erste Tür links."

Wie geheißen, durchschritt Juliane den Eingang und nahm die linke Tür. Der Raum ähnelte einem Tonstudio. Ein jugendlich wirkender Typ lümmelte sich auf einem Armlehnendrehstuhl.

"Hallo, ich bin Sascha Trotzmann, genannt Trotzi und Sie sind bestimmt Juliane?"

"Ja, das bin ich. Guten Tag."

"Nehmen Sie Platz! Ich erkläre Ihnen jetzt erstmal wie der Laden läuft."

"Gerne!"

Juliane zog sich einen Drehstuhl heran und ließ sich darauf nieder. Irgendwie war es hier anders, als sie sich ein Callcenter vorgestellt hatte.

"Tja, also, wir nehmen hier Stimmmuster auf, für automatisierte Beantwortungssysteme. Du - ach ja, wir duzen uns hier - also, du bekommst dann eine der drei Kabinen weiter hinten im Gang und sprichst deine Texte, ähnlich wie bei der Bewerbung. Ich sitze hier drin und kontrolliere, ob ihr Drei euren Job gut macht. Die anderen beiden sind schon eine Weile dabei und müssten auch gleich kommen. Du kannst sie dann in der Mittagspause um eins kennenlernen. So, jetzt zeige ich dir deine Kabine."

Trotzi stand auf und bedeutete Juliane, ihm zu folgen. Zwei Zimmer weiter öffnete er die Tür. "Voila, deine Kabine."

"Ok, und was geschieht hier jetzt?"

"Der Computer wird dir alles sagen. Zuerst macht ihr wohl Sprachtraining und dann gehts los mit den Sätzen."

"Und die Kunden, die ich bedienen soll? Um welches Produkt geht es eigentlich?"

"Um gar kein Produkt. Wie schon gesagt, wir nehmen Stimmmuster für automatische Beantwortungssysteme auf. Aus deinen Sätzen werden die Computer dann sinnvolle Gespräche mit den Kunden zusammenstellen. Du musst dich mit den Kunden überhaupt nicht rumärgern."

"So ist das also."

"Genau! Ach, und bevor ich es vergesse: bis heute abend müsste dein Vertrag aus der Verwaltung kommen."

"Ok, soweit alles klar."

Trotzi ließ Juliane alleine und sie machte es sich auf dem Stuhl vor der Bildschirmwand bequem. Der übrige Raum war mit dunkelblauem Schaumstoff ausgekleidet, so dass sich Juliane kaum atmen hörte.

"Hallo Juliane! Ich bin dein Arbeitsbegleiter. Wir werden gemeinsam einen Satz Stimmmuster aufzeichnen. Hast du verstanden, worum es geht?"

"Ja, ich habe verstanden."

"Sehr gut. Lass uns mit Stimmübungen anfangen, damit deine Stimmbänder warm werden. Setz dich aufrecht hin oder steh auf und sprich mir nach: Mimimi, Pipapipapo."

"Mimimi, Pipapipapo."

Was für eine merkwürdige Situation. Da sitz ich hier und spreche "mimimi" mit einem Computer. Dabei dachte ich, ich müsste mit Kunden telefonieren. Darum haben die mich auch gar nichts fachspezifisches zum Produkt gefragt, weil die Stimme selbst das Produkt ist. Kein Wunder, dass die Frauen vor der Tür mich beschimpft haben. Jetzt bin ich tatsächlich eine Jobkillerin. Ich leihe dem Computer meine Stimme. Irgendwie unheimlich. Aber was bleibt mir anderes übrig? Das war schließlich der einzige Job weit und breit.

"Susosa Sasuso - Fischers Fritze fängt frische Fische."

Vor allem auf den "sch" ritt der Computer rum. Immer wieder musste sie "schön schaurige Schaumschläger" sagen. Juliane fühlte sich schon wie eine Dampfmaschine.

"So, deine Stimmbänder dürften inzwischen warm sein. Jetzt spiele ich dir einige Originalbänder von Callcenter-Gesprächen vor, damit du verstehst, worum es geht."

"Ok"

"Ääh, ja - also hier ist der Telefonservice. Was wollen Sie?"

"Telefonservice, guten Tag! Ihre Kundennummer!"

"Nö, da kann Ihnen keiner helfen."

Ein Potpourri nöliger und schlecht gelaunter Stimmen hallte aus dem Lautsprecher.

"Verstehst du? So wollen die Kunden nicht angesprochen werden. Jetzt hörst du ein paar Beispiele, wie es besser ist."

Wohlklingende, säuselfreundliche Stimmen erfüllten den Raum und überschlugen sich fast vor lauter Höflichkeit. Gegen Ende wurden sie etwas normaler, blieben aber ausgesprochen freundlich.

"Gut, dann wollen wir mal loslegen. Greif dir das Mikrofon, das von der Decke kommt und platziere es direkt vor deinem Mund."

Dann begann das Ablesen. Jeder Satz kam drei Mal dran, manchmal auch öfter. Zuerst gab es eine Reihe von Begrüßungssätzen, dann folgten Zahlen und später Buchstaben.

In einer kurzen Pause, in der Juliane ihre trockene Kehle mit Wasser schmierte, meldete sich Trotzi über Lautsprecher und bat um Wiederholung einiger Sätze und Buchstaben. Anschließend ging es wieder weiter mit kurzen Sätzen. Gegen Mittag fühlte sich Juliane schon ganz ausgedörrt im Mund.

"Ok, jetzt hast du dir eine Pause verdient. Am Ende des Ganges findest du einen Aufenthaltsraum mit Essensausgabe. Dort wirst du auch deine Kolleginnen kennenlernen."

Juliane stand auf, streckte sich und ging zum Aufenthaltsraum. Dort saßen bereits Trotzi und eine Frau in Julianes Alter an einem kleinen Resopaltisch.

"Darf ich vorstellen: das ist Martina. Martina, hier haben wir Juliane. Vera kommt bestimmt auch gleich."

Martina und Juliane begrüßten sich freundlich, aber abwartend. Martina zeigte Juliane, wie die Essensausgabe funktionierte. Dann kam die erwartete Vera und die Begrüßerei fing von vorne an. Sehen ja eigentlich ganz nett aus, die beiden. Ob sie auch nett sind?

Der erste Teil der Mahlzeit verlief weitgehend schweigend, weil alle zu sehr mit dem Essen beschäftigt waren. Juliane war auch froh, ihre Stimmbänder etwas schonen zu können.

"Kommst du mit, eine rauchen?" fragte Martina, als sie fertig gegessen hatten.

"Mitkommen?"

"Ja, wir müssen draußen rauchen."

"Unten vor dem Haus?"

"Nein, keine Sorge, wir haben unseren eigenen Balkon. Haben sie dich auch schon beschimpft?"

"Ja, zumindest haben sie gezischt."

"Daran wirst du dich gewöhnen. Wenn man erst kurz nach neun kommt, sind sie meistens schon weg. Auf, komm mit. Wir können draußen weiterschwätzen."

Juliane folgte den anderen auf den Balkon, wo ihnen ein frischer Wind um die Nase blies. Aus ihrer Handtasche kramte Juliane ein älteres Päckchen Zigaretten, denn obwohl sie nur ab und zu rauchte, hatte sie gerne immer welche dabei.

"Wie hat dir denn dein erster Morgen gefallen?", fragte Vera.

"Ganz gut. Ich weiß zwar noch nicht, ob ich es auch gut gemacht habe, aber Trotzi hat sich nur einmal eingemischt."

"Bestimmt wars gut. Deine Stimme hat einen weichen Klang, klingt aber ansonsten normal - das wird grad gebraucht."

"Richtig", mischte Trotzi sich ein. "Das, was ich schon durchgehört habe, war soweit in Ordnung. Die Leute wollen eine menschliche Stimme hören, wenn ein Computer mit ihnen spricht. Da passt deine Stimme wunderbar."

"Freut mich zu hören. Bisher habe ich noch nie Sprachaufnahmen gemacht."

"Darum haben wir dich auch genommen. Zur Zeit werden unverbrauchte Stimmen gesucht."

"Und durch unsere Stimmmuster verlieren die Mitarbeiter in den anderen Stockwerken ihre Arbeit?"

"Ganz im Gegenteil, aber das kapieren die Damen da unten leider nicht, egal wie oft man es ihnen erklärt. Das dritte und vierte Geschoss wurden geschlossen, bevor wir mit den Stimmmustern angefangen haben. Und wenn das Stimmmustergeschäft die Damen nicht mitfinanzieren würde, wären sie ihren Job jetzt schon los. Langfristig werden sowieso keine Callcenter-Mitarbeiter mehr gebraucht. Das wird alles von Computern erledigt."

"Hm, also langfristig durchaus Jobkiller aber kurzfristig Jobretter. Merkwürdige Kombination."

"Auch was das Langfristige angeht, sehe ich das anders. Stimmmuster werden sowieso produziert. Ob es nun deine Stimme ist, oder die von jemand anders, macht im Prinzip nur für dich einen Unterschied, also freu dich einfach, dass du ausgewählt wurdest."

"Ja, das leuchtet ein. Ich bin auch ganz begeistert, dass ich genommen wurde."

"So, Leute! Die Arbeit ruft!"

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Vollautomatisch
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208 Seiten
ISBN 3-938764-01-5

Preis: 14.80 Euro

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