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Vollautomatisch

Kapitel 7


  
Denk nicht mal im Traum daran! Das ist nun wirklich keine Lösung. Pack den Stier bei den Hörnern!

Stimmt schon, aber es ist alles so frustrierend. Wozu lebe ich überhaupt?

Du lebst auf jeden Fall nicht, um dein Leben wegzuwerfen. Was für ein Quatsch! Was droht dir denn schon im schlimmsten Fall? Etwas weniger Platz für dein Privatleben und mehr Freizeit. Wie du an Susanne gesehen hast, kommt man da sogar wieder raus.

So ein enges Zweibettzimmer ist aber echt grässlich, vor allem, wenn so eine Transuse mit einem zusammenwohnt.

Ein Zweibettzimmer ist doch kein Grund, sich umzubringen! Du hast se wohl nicht mehr alle. Wenn hier einer ne Transuse ist, dann bist du das.

Ja, ja, ich werd mich zusammenreißen. Wenn man es so betrachtet, hast du ja sogar recht. Falls ich nichts finde, und in so einen Schwarm ziehen müsste, hätte ich immerhin mehr Freizeit. Mein bisheriges Leben als Supermarktkassiererin ist ja auch nicht gerade toll gewesen. Der Job hat mich nicht ausgefüllt und abends war ich trotzdem zu müde, um noch in Aktion zu treten für interessantere Themen.

Genau, denk lieber positiv über deine Möglichkeiten nach.

Juliane warf die Packung mit den Schlaftabletten in den Müll - die sollen mich nicht mehr in Versuchung führen - und ging zurück ins Schlafzimmer.

Schlafen konnte sie natürlich trotz ihrer guten Vorsätze nicht. Stattdessen nutzte sie die Zeit, um konstruktiv über ihre Möglichkeiten nachzudenken.

Was will ich eigentlich wirklich vom Leben? Was würde ich wollen, wenn es nicht um Job oder Container gehen würde? Irgendwie habe ich das völlig aus den Augen verloren. Auch als Betriebswirtin in einem Büro arbeiten, wäre eigentlich nicht das, was ich tief drinnen vom Leben erhoffe.

Irgendwie ist etwas schiefgegangen, beim Aufbau unserer Welt. Alles ist darauf angelegt, dass man sich seinen Lebensunterhalt durch Arbeit verdient. Auf die Idee, dass es einmal nicht mehr genug Arbeit gibt, weil alles von Maschinen erledigt wird, ist keiner gekommen. Und jetzt haben wir den Salat: viel zuviel Menschen für viel zuwenig Arbeit. Worauf könnte man seinen Lebensunterhalt denn sonst aufbauen, wenn man kein Vermögen hat, das sich von selbst vermehrt?

Genug zu essen ist schließlich für alle da - das wird ja auch von fleißigen Maschinen produziert. Und seit sich die neuen Energieformen eingespielt haben, braucht man im Winter auch nicht mehr zu frieren. Aber die meisten Menschen sind inzwischen wie unnötige Überbleibsel; sie werden einfach nicht mehr gebraucht.

Muss man gebraucht werden, um ein lebenswertes Leben zu führen?

Mist: meine Unterarmnarbe juckt schon wieder. Bestimmt bilde ich mir das nur ein; schliesslich sieht man kaum noch eine Narbe und ich habe das Implantat jetzt seit Studienbeginn. Da dürfte ich schon lange nichts mehr spüren. Das Material soll ja angeblich auch sehr verträglich sein. Aber immer wieder juckt es mich.

Bestimmt piesackt mich dieses Ding immer wieder, weil ich es einfach nicht mag, mit einem implantierten Ausweis rumzulaufen. Immerhin ist in meinem ja nur meine Bürgernummer gespeichert. Bei den armen Schwarmbewohnern ist deren gesamte Vita gespeichert und abrufbar; da schauderts mich. Na ja, solange man nicht untertauchen will, sind die eingebauten RFIDs eigentlich sehr nützlich. Man spart sich schließlich einen Haufen Formalitäten. Aber ich mag es trotzdem nicht!

Tja, und was mach ich jetzt aus meiner verkorksten Situation? Erstmal weiter Job suchen; das ist klar. Vielleicht auch auf ungewöhnlichen Wegen. Und wenns nicht klappt, dann sollte ich mir ein Hobby ausdenken, das einen glücklich hält und das man auch im Container ausleben kann. Was könnte da wohl geeignet sein? Gedichte schreiben, wie Susanne so entrüstet von sich gewiesen hat? Ne, das wäre wohl nix für mich. Schon eher spannende Geschichten ausdenken. Oder vielleicht irgendein interessantes Fachgebiet raussuchen, sich informieren und die Infos leicht verständlich zusammenfassen - wozu gibt es überall kostenlosen Speicherplatz im Netz? Oder ich stürz mich in eine Alternativwelt, wie World 3000 oder vielleicht was Mittelalterliches?

Bei ihren Überlegungen über zukünftige Hobbies driftete Juliane allmählich in den Schlaf. Sie träumte davon, wie sie als Schwertkämpferin gefährliche Monster bekämpfte und nach ihren Siegen Gedichte deklamierte.

Am nächsten Tag befahl sie ihrem Computer, ab sofort an alle passenden Jobangebote automatisch Bewerbungen zu schreiben und ihr die Absagen zu ersparen. Natürlich würden alle Bewerbungen und Ablehungen gespeichert, sodass Juliane sie überprüfen konnte, sobald sie Lust dazu hatte. Aber der tägliche Frust, von vielen Firmen abgelehnt zu werden, würde ihr erspart bleiben.

Stattdessen wollte sich Juliane lieber in der Stadt umsehen, ob sie dort zufällig über eine Arbeitsstelle stolpern würde.

Im Vergleich zu früher war die Jobsuche vor Ort natürlich sehr viel schwieriger geworden. Schilder mit der Aufschrift "Aushilfe gesucht" sah man fast nie mehr. Bei unaufgeforderten Anfragen nach einem Arbeitsplatz konnte man wegen Belästigung angezeigt werden. Solche Anzeigen waren meistens teuer - zu teuer für Julianes schmales Budget.

Die einzige Chance bestand darin, als Kunde eines Geschäftes dezent anzufragen. Wenn man etwas gekauft hatte, sahen die Geschäftsinhaber meistens davon ab, einen anzuzeigen. Aber auch für wahllose Einkäufe hatte Juliane nicht genug Geld. Sie musste ihre Jobbeschaffung vor Ort also sehr sorgsam angehen.

Mit der U-Bahn fuhr Juliane ins Stadtzentrum. Die Bewegungsfreiheit wäre als Schwarmbewohner schon enorm eingeschränkt. Das würde mir gar nicht gefallen.

Die Innenstadt erschien Juliane noch leerer als bei bei ihrem letzten Besuch. Vom früheren Gedränge war keine Spur mehr. Sogar die Ramschläden waren großteils wieder verschwunden, weil die Armen ihre Siedlungen nicht verlassen durften. In der Nähe der U-Bahnstation sah Juliane einige neu entstandene Geschäfte, die jedoch eher für Leute mit dickem Geldbeutel geeignet schienen. In den Schaufenstern hingen keine Preise; wahrscheinlich waren die Produkte zu teuer als dass man ihren Preis öffentlich nennen könnte. Oder die erwünschte Kundschaft war viel zu nobel, um auf Preise zu achten.

In so einen Laden brauche ich mich gar nicht rein wagen. Die rufen sofort nach der Polizei, wenn die mich sehen. Ohne Pelzmantel kommt man bei denen bestimmt nicht durch die Gesichtkontrolle. Überhaupt ist die Pelzmanteldichte hier enorm. Gibt es denn überhaupt keine Mittelschichtler mehr, die ihre Einkäufe erledigen? Na ja, ein paar normale Leute kann man auch noch sehen, aber die gehen alle nicht in die neuen Geschäfte. Einfach mal weitergehen.

Hinter den Nobelgeschäften sah Juliane den Eingang zu einer Mall und dahinter starrten die meisten Schaufenster blind ins Leere. "Zu vermieten" stand auf den staubigen Glasflächen. Hier und da gab es dazwischen noch geöffnete Geschäfte, die zwischen den aufgegebenen Läden ziemlich verloren wirkten.

Ein Kleidergeschäft hatte sich die ganzen Jahre über an der gleichen Stelle gehalten, wohl weil es preiswerte Szeneklamotten anbot und immer den aktuellen Geschmack traf. Doch jetzt stand es zwischen ausgestorbenen Läden und wirkte wie ein letztes Überbleibsel des Massenkonsums. Auf den Scheiben prangten Schilder mit Aufschrift: "Sonderverkauf wegen Umzug".

Aha, die wollen bestimmt in eine bessere Umgebung ziehen, weil es hier so trostlos wirkt. Mal sehen, wie sich der Laden entwickelt hat. Ich bräuchte sowieso eine schicke Bluse für eventuelle Vorstellungsgespräche.

Beim Betreten des Ladens blinkte ein Lämpchen an der Seite der Eingangstür auf. Juliane war registriert worden. Im Gegensatz zu den meisten anderen Leuten achtete Juliane oft auf die dezenten Anzeichen der allgegenwärtigen Überwachung. Da die ganzen Chips und IDs das Leben bequemer machten, akzeptierten die meisten Menschen sie unkritisch und machten sich keine Gedanken über eventuelle Nachteile. Aber Juliane ärgerte sich über den "großen Bruder", der sie auf Schritt und Tritt begleitete. Wahrscheinlich juckte ihre Implantatsnarbe deshalb manchmal.

Ein Schilderwald wies Juliane den Weg zur Blusenabteilung. Dort angekommen wurde Juliane von der Vielfalt der Blusen fast erschlagen. Am ersten der langen Kleiderständer suchte sie nach ihrer Größe und arbeitete sich dann durch das Angebot.

Hier finde ich ja nie was; soviele Blusen wie es hier gibt. Vor lauter Fülle verliert man ja völlig den Überblick. Huch, was ist denn das für eine Schaufensterpuppe?

Ein Wesen, das aussah wie eine Schaufensterpuppe, schwebte auf Juliane zu.

"Guten Tag. Darf ich Ihnen behilflich sein?", sagte die Schaufensterpuppe mit samtener Stimme. Dabei bewegte sie sogar den Mund, sodass es aussah, als hätte sie wirklich gesprochen.

"Ja gerne. Ich suche eine schicke aber dezente Bluse, die für Vorstellungsgespräche geeignet ist."

"Ok, verstehe: für Vorstellungsgespräche geeignet. In welcher Farbe?"

"Bevorzugt dunkel. Blau oder schwarz."

"Gut, also eine dunkle dezente Bluse", die Puppe maß Juliane mit einem Blick von oben bis unten. "Größe 38 nehme ich an."

"Äh, ja, stimmt."

"Ok, einen Moment. Das werden wir gleich haben."

Die Schaufensterpuppe glitt zügig auf den nächsten Kleiderständer zu. Juliane konnte jetzt genauer erkennen, dass die Puppe nicht schwebte, sondern rollte, fast als hätte sie Inlineskates untergeschnallt, aber ohne die typischen Beinbewegungen. Bis auf die Füße sah die Puppe sehr damenhaft aus, doch die Füße wirkten etwas plump; wahrscheinlich, damit sie genug Standfläche hatte.

Nach kurzer Zeit kam die Puppe mit drei Blusen im Arm zurück. Juliane fand die Auswahl durchaus passend, zumindest passend zu ihrer Wunschbeschreibung.

"Was halten Sie von diesen hier?"

"Die sieht brauchbar aus; die werde ich mal anprobieren. Aber ansonsten hätte ich lieber was ohne Rüschen."

"Ohne Rüschen, ok - wird gemacht. Die Umkleidekabinen finden sie übrigens dort", die Puppe deutete auf eine Reihe von stoffverkleideten Kabinen.

Dann fuhr sie wieder davon, bis zu einem Treppenabsatz. Dort blieb sie kurz stehen, es ruckte etwas und anschließend erstieg die Puppe die Treppe. Das wirkte zwar nicht gerade elegant, aber immerhin flüssig. Auf dem erhöhten Absatz angekommen rollte die Puppe wieder weiter.

Juliane war vom Anblick der Roboterpuppe so fasziniert, dass sie fast vergessen hatte, zur Umkleidekabine zu gehen. Doch das holte sie jetzt nach, als sie sah, dass die Puppe sich wieder der Blusensuche zuwandte. Juliane war kaum bei den Umkleidekabinen angekommen, da kam die Puppe auch schon zurück mit reichlich Blusenauswahl im Arm.

"Hier, diese Bluse dürfte Ihnen gefallen", die Puppe hielt eine ausnehmend elegante aber schlichte Bluse in die Höhe.

"Oh ja, die sieht gut aus. Die werde ich gleich als erstes ausprobieren."

Juliane nahm die Bluse entgegen und verschwand in der Umkleidekabine. Die Bluse passte perfekt und sah angezogen genauso gut aus, wie im Arm der Roboterpuppe. Juliane verließ die Kabine, um sich in einem größeren Spiegel anzuschauen.

"Wunderbar. Die Bluse sitzt hervorragend und der Kragen schmeichelt Ihrem Halsansatz."

"Äh, der Kragen tut was?" Juliane betrachtete sich im Spiegel und stellte fest, dass der Kragen tatsächlich dem Halsansatz schmeichelte. Wie hatte die Puppe das nur erkennen können?

"Ganz entzückend. Mit dieser Bluse werden Sie die gewünschte Stelle bestimmt bekommen."

"Danke, ich nehme die Bluse. Wo kann ich bezahlen?"

"Ich kann sie Ihnen hier direkt freischalten. Aber wenn Sie unser Haus verlassen, würde sie sowieso automatisch abgebucht. Sie haben also die Wahl."

"Dann schalten Sie sie mir bitte gleich frei."

"Ok, die Bluse ist jetzt auf Sie registriert. Der Betrag wurde von Ihrer Karte abgebucht. Vielen Dank für ihr Vertrauen."

Juliane steckte die Bluse sorgfältig in ihre Tasche. Die brauchen hier bestimmt keine Verkäuferinnen. Die Roboterpuppe ist ja der reinste Knüller. Sonst sehen diese Maschinen immer so unpersönlich aus. Aber diese hier hat sogar einen sympathischen Augenaufschlag. Geradezu unheimlich, was inzwischen alles möglich ist.

In anderen Läden war es ähnlich. Meistens sah Juliane überhaupt keinen Menschen mehr dort arbeiten. In einer kleinen Parfümerie fand Juliane eine lebende Frau, die beriet. Der Kassiervorgang verlief natürlich vollautomatisch, wie überall. Auf dem Beratungstresen stand ein Schild mit der Aufschrift "Wir vergeben keine Jobs!" Damit war die Sache klar und Juliane zog unverrichteter Dinge ab.

Tag für Tag graste Juliane andere Ecken des städtischen Geschäftslebens ab, aber nirgendwo gab es auch nur einen Funken Hoffnung auf Arbeit.

Nach zwei Wochen kam sie abends wie immer müde nach Hause. Dort empfing sie ihr Computer mit einer Nachricht.

"Ein Callcenter will Stimmproben von dir. Du sollst Texte ablesen."

Vollautomatisch

Künstliche Intelligenz
von Günter Görz, Bernhard Nebel

Die Virenjägerin
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Vollautomatisch
Vollautomatisch

208 Seiten
ISBN 3-938764-01-5

Preis: 14.80 Euro

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