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Vollautomatisch

Kapitel 6


  
"Reißen Sie sich zusammen!" der Filialleiter stand dicht hinter Juliane und herrschte sie mit Flüsterstimme an.

Juliane streckte den Rücken durch und versuchte ein Lächeln, das ihr jedoch nur sehr unvollkommen gelang.

Hoffentlich geht dieser Typ bald wieder weg. Diese letzte Woche ist die Hölle. So ein blöder Job. Da vergeht einem ja völlig die Lust aufs Arbeiten. Wozu suche ich eigentlich so verzweifelt nach einem Job? Da wartet doch genau so ein Stumpfsinn auf einen wie im Schwarm. Am besten geb ich mir einfach die Kugel.

"Ja, gerne können Sie mir Ihr Kleingeld geben", geduldig wartete Juliane, bis eine ältere Dame ihre Kupfermünzen zusammengesucht hatte.

Der Kunde hinter der Dame trommelte nervös mit den Fingern auf seinen Einkaufswagen und schielte zur automatischen Kasse, bei der mal wieder alles zackzack lief.

Abends ließ sich Juliane kraftlos auf ihren Schreibtischstuhl fallen, kaum war sie zuhause angekommen.

Und jetzt auch noch Jobsuche. Dabei steht doch auf jeder Webseite: "Bitte schicken Sie uns KEINE Bewerbungen zu!" Und die Arbeitsagentur hat auch nie etwas Neues zu bieten, genausowenig wie andere Stellenbörsen. Die leben doch nur noch von ihrer Werbung für "Erfolg durch Bewerbungsoptimierung". Den Aasgeiern soll man doch nur seinen letzten Cent zahlen, für eine lausige Broschüre mit Bewerbungstipps, die eh jeder kennt.

Ihr Computer begrüßte sie mit drei Absagen. Die gesamte Bewerbungs-Ausbeute der letzten Tage war mal wieder dahin. Und keinerlei neue Chancen in Sicht.

"Such deutschlandweit und im Ausland", fauchte Juliane ihren Computer an.

Auf ihrem Bildschirm erschien eine längere Liste. Ganz oben stand "Wasseringenieur in Kenya".

"Nein, du Dödel. Natürlich nicht alle Arten von Jobs. Nur die, die ich auch machen kann."

Die Liste schrumpfte zusehens und passte schließlich auf eine Bildschirmseite.

Kein einziger Sekretärinnen-Job deutschlandweit - unheimlich. Hier: "Betriebswirt", aber: "bevorzugt mit Doktortitel und Berufserfahrung in Großkonzernen". Das kann ich mir gleich abschminken. Nichtmal ein Anstands-"In" steht hinter dem Betriebswirt. Die nehmen sowieso nur Männer. Ist denn da gar nix dabei? Ob wohl noch ein Bier im Kühlschrank steht?

Juliane stand auf und ging zu ihrer Kochecke. Im Kühlschrank standen sogar noch drei Flaschen Bier.

Wann hab ich die eigentlich da reingestellt? Muss schon ewig her sein. Mal aufs Haltbarkeitsdatum gucken. Ok, die sind noch gut.

Sie nahm eine Flasche aus dem Kühlschrank und öffnete sie. Bevor sie den ersten Schluck nehmen konnte, knurrte ihr Magen so laut, als wäre ein brüllendes Ungeheuer in der Küche.

Wann habe ich eigentlich das letzte Mal gegessen? Gestern abend eine Tütensuppe, oder war das vorgestern? Und irgendwann unterwegs ein Croissant. Na ja, egal. Schliesslich sagt man nicht umsonst: "Sechs Bier sind wie ein kleines Steak".

Der erste Schluck schmeckte scheußlich. Doch Juliane nahm noch einen zweiten, der schon besser schmeckte. Den dritten fand sie schon lecker und trank gleich noch einen vierten. Dann ging sie wieder zu ihrem Schreibtisch.

"Schick einfach an alle Bewerbungen!"

Auf ihrem Bildschirm erschien eine neue Liste, die ihre vorformulierten Bewerbungen enthielt. Juliane musste sie nur noch überprüfen und freigeben.

Wie gut, dass ich mir wenigstens mit dem Bewerbungstext sicher bin. Schließlich hat er bei allen Textanalysen super Ergebnisse erhalten. Und mein Computer passt ihn wirklich gut auf die jeweiligen Jobangebote an.

Sie nickte eine Bewerbung nach der anderen ab.

Wenn ich mir doch wenigstens ein kleines Praktikum leisten könnte. Dann hätte ich ein bisschen Berufserfahrung. Aber ich brauch ja Geld zu Leben und für die meisten Praktikumsplätze muss man inzwischen sogar zahlen. Man hats schon schwer als kleines Licht.

Als die Liste abgearbeitet war, hatte Juliane auch die Bierflasche geleert und sie holte sich eine neue.

Jetzt lass ich mich noch ein bisschen berieseln. So schlimm ist es eigentlich gar nicht. Wenn ich nix finde, dann geh ich halt in so einen blöden Schwarm. Kann auch nicht schlimmer sein als den ganzen Tag an der Kasse zu sitzen. Wenigstens hat man dann keine Sorgen mehr außer dem Frühsport.

Im Unterhaltungsprogramm wurde ein neuer Krimi angepriesen. Juliane entschied sich dafür, ihn anzusehen und machte es sich auf ihrem Bett bequem. Nach dem Krimi wählte sie einen Science-Fiction Film und holte sich das letzte Bier aus dem Kühlschrank.

Am Morgen erwachte sie halb angezogen. Ihr Kopf dröhnte ein wenig, gerade unterhalb der Schwelle zu Kopfschmerzen.

Hastig duschte Juliane und eilte zur Arbeit, die wieder genauso eintönig war wie an allen anderen Tagen. Abends kaufte sie als letzte Kundin in ihrem Supermarkt ein, denn ihr Kühlschrank war inzwischen gähnend leer. Sie bezahlte bei der automatischen Kasse, die ihr ein freundliches "Vielen Dank für Ihren Einkauf. Bitte beehren Sie uns bald wieder!" entgegenrief.

Samstag war endlich ihr letzter Arbeitstag. Juliane gab sich besonders viel Mühe, die wenigen Kunden an ihrer Kasse freundlich anzulächeln.

Mein Lächeln sieht bestimmt aus wie eine Maske. Die Mundwinkel fühlen sich an wie festgefroren. Aber Kunstlächeln ist ja allgemein akzeptiert. Das wird schon keinem auffallen.

Endlich war es vorbei. Das letzte Mal hängte Juliane den Firmenkittel an den Haken, dann beeilte sie sich heimzukommen.

Zuhause wurde sie mit einer Nachricht von Susanne begrüßt.

"Hallo Juliane! Stell dir vor, ich hab den Job bei Theo bekommen. Ich bin ja sooo glücklich.". Susanne strahlte übers ganze Gesicht.

Eigentlich müsste ich sie jetzt ja anrufen und ihr ausgiebig gratulieren. Aber da breche ich dann nur in Tränen aus, weil ich selbst so elend dastehe. Am besten schick ich ihr nur eine kurze Nachricht; solange kann ich das Maskenlächeln wieder aufsetzen.

Was mach ich denn nur mit dem Abend. Eigentlich sollte ich mir mal wieder was Nettes gönnen. Zur Feier des Jobverlustes sozusagen. Ich glaub, ich streife eine Weile durch die City.

Juliane bretzelte sich samstagabendfein auf und machte sich auf den Weg. Ohne groß darüber nachgedacht zu haben, stand sie schließlich vor ihrer alten Stammdisco. Der Türsteher erkannte sie nicht mehr. Kein Wunder, solange wie ich nicht mehr hiergewesen bin.

Die laute Musik schlug ihr wie mit der Keule ins Gesicht. An der Tanzfläche blieb sie kurz stehen und sah sich das Gewühl der zappelnden Leiber an.

Früher wäre ich sofort auf die Tanzfläche gestürzt, aber das kann ich mir inzwischen ja abschminken. Und wie nervig diese Blitzlichter sind; das hält man echt nur aus, wenn man wild tanzt. Besser, ich gehe in die Cocktailbar.

In der Cocktailbar war es ruhiger. Juliane kletterte auf einen der Hocker an der Bar.

"Mix mir mal einen Swimmingpool!" bestellte sie beim Barmann.

Der sieht ja richtig schnuckelig aus, wie er so die Cocktails schüttelt. Mhmm, und der Swimmingpool schmeckt genauso lecker, wie ich ihn in Erinnerung habe. Die Musik ist ja nicht so berauschend, aber immerhin verbreitet sie gute Laune.

Während Juliane ihren Cocktail schlürfte, blickte sie so unauffällig wie möglich in der Bar umher. An den Tischen saßen etliche Pärchen, die sich verzückt in die Augen blickten. Außerdem sah sie eine Gruppe Frauen, die sich von den anderen Tischen zusätzliche Stühle geholt hatten und dicht den kleinen Tisch umlagerten. Sie schienen sich prächtig zu amüsieren. Als ein besonders tanzbares Musikstück lief, stand eine der Frauen auf und stolzierte mit elegantem Hüftschwung in Richtung Tanzfläche. Eine nach der anderen folgten ihr die anderen Frauen.

Dazu würde ich ja auch liebend gern tanzen. In dem Gedränge würde mein Hinken bestimmt kaum auffallen. Aber es wäre einfach zu traurig, wenn ich dran denke, wie ich früher über die Tanzfläche geflogen bin. Ne ne, das lassen wir lieber.

"Na, so ganz alleine, schöne Frau?"

Oh, nein, jetzt kommt wieder so ein Typ mit so einer blöden Anmache an. Wird man denn nie verschont? Na ja, er sieht eigentlich ganz sympathisch aus.

"Und du, auch ganz alleine?"

"Da haben wir ja schon was gemeinsam!"

Oh je, wie dämlich. Wenn dem nicht bald was Gescheiteres einfällt, kann er abstinken.

"Darf ich dir noch einen Cocktail bestellen? Schmeckt der gut?"

"Ja, der schmeckt sehr lecker."

"Ok. Herr Ober, zwei von diesen Cocktails bitte, für die junge Dame und mich!"

Immerhin ist er nicht geizig. Eigentlich sollte ich nicht mehr soviel trinken. Dieser Swimmingpool steigt ziemlich in den Kopf.

"Nun meine Holde, willst du mir nicht von dem tollen Urlaub erzählen, von dem du gerade heimgekehrt bist?"

"Hä? Ich glaube, Sie verwechseln mich. Ich war nicht im Urlaub.".

Tickt der nicht richtig? Ach so, der zwinkert mich so lustig an. Das soll wohl ein Scherz sein mit dem Urlaub, damit wir uns fröhliche Lügengeschichten erzählen können.

"Jetzt erinnere ich mich wieder. Ja, ich war gerade in der Karibik. Immer Sonne, Reggae, schöne Männer und gute Cocktails."

"Oh ja, die Karibik ist wunderbar."

Juliane fand Gefallen an dem Gespräch über einen imaginären Urlaub. Das ist auf alle Fälle besser als übers Wetter reden oder über den Alltagsfrust. Eigentlich eine raffinierte Anmachmethode. Kannte ich noch gar nicht.

Nach dem Swimmingpool testeten sie noch mehrere andere Cocktails. Sie suchten sich welche aus, die karibische Feelings erweckten. Der Barmann schien Spass daran zu finden, ihre Cocktails immer ausgefallener zu dekorieren.

"Jetzt musch isch abber nachhause. Isch schon spät geworn. Schau nur: die anderen schind schon alle wech."

"Recht hassu, meine Holde. Darf ich dich nachhausche geleiten? Damit kein böscher Räuber disch überfallen kann."

"Oh, mein heldenhafter Beschützer."

Der Mann ergriff Juliane am Arm und geleitete sie schwankend zum Disco-Ausgang. Vor der Tür winkte er einem Taxi.

"Wo solls denn hingehen?"

Juliane gab dem Taxifahrer ihre Adresse und lehnte sich zurück. In ihrem Kopf drehte sich alles. Oh je, das waren wohl zuviele Cocktails. Aber es hat Spass gemacht. Sie merkte, dass der Mann aus der Cocktailbar sich an sie schmiegte und ließ ihn gewähren.

Die Zeit verfloss, ohne dass Juliane es merkte.

Ihr Kopf fühlte sich an, als hätte jemand mit einem Hammer auf ihn eingeschlagen. Juliane öffnete die Augen und schloss sie sofort wieder. Das Licht brannte fürchterlich und steigerte den Schmerz bis ins Unermessliche.

Oh nein, welch ein Kater. Diese blöden Cocktails. Wie spät ist es eigentlich?

Sie öffnete eines ihrer Augen einen kleinen Spalt und versuchte, einen Blick auf den Wecker zu erhaschen, bevor der Kopfschmerz wieder zu stark wurde.

Schon Mittag. Meine Güte, was hab ich mich gehen lassen. Wie konnte es nur passieren, dass ich soviel gesoffen habe? Da war dieser Typ, der mir einen nach dem anderen spendiert hat. Hat der mich nicht auch heimgebracht? Ich erinnere mich noch ans Taxi. Und was war dann? War der noch hier? Haben wir etwa?

Juliane zwang ihre Augen wieder auf und begutachtete argwöhnisch das Bett. Es war völlig zerwühlt, aber das hatte noch nichts zu sagen.

Es riecht nach Mann und nach Sex. Der war bestimmt noch hier. Und ich Esel erinnere mich nicht dran und weiss noch nicht mal seinen Namen. Ob er mir den irgendwann gesagt hat? Oh, wie peinlich. Und diese Kopfschmerzen.

Mühsam schleppte sich Juliane ins Bad, um nach Aspirin zu suchen. Mit reichlich Wasser spülte sie zwei Tabletten runter. Anschliessend duschte sie ausgiebig. Nach einer Weile klärte sich ihr Kopf und sie fühlte sich wieder halbwegs menschlich.

Mit einem Handtuch um ihr feuchtes Haar gewickelt, setzte sie sich schließlich an ihren Schreibtisch. Ihr Computer überhäufte sie mal wieder mit Absagen. Neue Jobangebote waren nicht zu finden, egal wie lange Juliane suchte. Daher entschied sie sich irgendwann fürs Filmeschauen. Sie wählte einen Horrorfilm und amüsierte sich darüber, wie merkwürdig ein Gruselfilm bei Tageslicht wirkte.

Später schaute sie die Filme, die ihr ein Zufallsgenerator oder irgendwelche Programmgestalter anboten. Irgendwann dunkelte es.

So sieht also meine Zukunft aus. Stumpfsinnig in der Bude hocken und mich berieseln lassen. Vielleicht sollte ich auch mit World 3000 anfangen, dann kann ich mir wenigstens einbilden, etwas sinnvolles zu tun zu haben. Ach, das ist mir jetzt zuviel Action. Guck ich lieber weiter Filme.

Weit nach Mitternacht brannten Juliane die Augen und der Kopfschmerz wurde wieder stärker. Sie legte sich ins Bett und versuchte zu schlafen.

Das ist doch kein Leben. Wozu werden wir überhaupt geboren? Die Welt wäre viel besser dran, wenn wir nicht da wären. Dann könnten wenigstens die Tiere und Pflanzen in Frieden leben.

Die Minuten zogen sich hin wie Stunden. Immer wieder die gleichen Gedanken zogen durch Julianes Kopf.

Ach, ich kann nicht schlafen. Ob ich es mal mit einer Schlaftablette versuche?

Sie schlurfte ins Bad und öffnete den Spiegelschrank. Hinter den Hustentropfen fand sie eine Packung mit Schlaftabletten. Sie öffnete die Pappschachtel und ließ die Streifen rausrutschen. Die Packung war noch fast voll.

Nachdenklich hielt Juliane die Schlaftabletten in der Hand.

Vollautomatisch

Künstliche Intelligenz
von Günter Görz, Bernhard Nebel

Die Virenjägerin
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Vollautomatisch
Vollautomatisch

208 Seiten
ISBN 3-938764-01-5

Preis: 14.80 Euro

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