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Vollautomatisch

Kapitel 5


  
Die Torte war Juliane zu süß und sie fühlte sich auf eklige Weise vollgefressen. Susanne schien die Torte jedoch zu schmecken. Sie verputzte den Kuchen bis auf den letzten Krümel.

"Aah, das war gut", sagte sie, drückte auf einen Knopf des Bestellpanels und ließ den benutzten Teller in der Säule verschwinden, die durch den Knopfdruck wieder nach oben geglitten war. "Die nächste Zigarette wird mir jetzt bestimmt besonders gut schmecken."

Sprachs und zündete sich eine Zigarette an. Wie um den Genuss zu beweisen, sog Susanne den Zigarettenrauch tief ein und atmete anschließend eine große Rauchwolke aus. Die Entlüftungsanlage über ihren Köpfen hatte Mühe, die ganze Wolke wegzusaugen, obwohl sie hörbar ihre Saugleistung verstärkte.

"Wie wärs jetzt noch mit einem kleinen Piccolo? Da wäre mir gerade nach zumute."

"Ja, gerne. Ich gebe einen aus."

Juliane schob ihren eigenen Kuchenteller in die Ausgabesäule und bestellte per Knopfdruck eine kleine Flasche Sekt mit zwei Gläsern. Die Flasche zischte, als Juliane sie öffnete und wäre fast übergelaufen, wenn Juliane nicht rechtzeitig mit dem Gießen in Susannes Glas begonnen hätte.

"Zum Wohl! Auf ein glückliches neues Jahr!"

"Zum Wohl!"

Susanne nahm einen Schluck und seufzte genussvoll. Schweigend tranken sie ihre Gläser bis zur Hälfte. Merkwürdig, sonst ist Susanne immer so gesprächig. Ob sie wohl aus der Übung gekommen ist? Na ja, hier gibt es auch genug zum Rumgucken.

Die meisten anderen Gäste der Cafeteria waren Frauen in Susannes Alter und fast alle trugen, wie sie, dunkelblaue Baumwollhosen und Sweatshirts. Sie unterhielten sich eifrig, teilweise kichernd, ganz so, wie man es von jungen Frauen im Café erwartet. Durch die identischen Kleider wirkten sie jedoch uniformiert. Juliane musste bei dem Anblick an chinesische Arbeiterinnen denken. Selbst sie passte wunderbar ins Bild, denn mit ihren eigenen dunkelblauen Kleidern wirkte sie, als würde sie dazugehören.

Etwas unbehaglich zumute wandte sich Juliane von der Betrachtung der anderen Gäste ab. Als ihr Blick wieder auf Susanne ruhte, erkannte sie, dass Susannes Augen in Feuchtigkeit schwammen.

"He, was ist los? Traurig?"

Susanne schüttelte den Kopf so heftig, dass die Tränen in die Luft geschleudert wurden.

"Traurig? Ne, eigentlich nicht. Ich weiss auch nicht so recht, was in mich gefahren ist."

"Hm, sowas kommt ja manchmal vor. Vielleicht sinds die Hormone."

"Ja, das wirds sein."

Susanne kicherte, aber es war klar durchzuhören, dass es ein unglückliches Kichern war.

Schweigen.

Was sag ich denn jetzt bloß, um diese verkorkste Situation wieder aufzulockern?

"Ach, weißt du? Das mit dem glücklichen neuen Jahr ist so eine Sache. Ich wünsch mir schon gar kein Glück mehr, denn es tut viel zu sehr weh, weil es ja doch nie klappt."

"Was ist denn das Hauptproblem?"

"Das ist gar nicht recht greifbar, aber ich fühle mich so grauenvoll überflüssig. Klar, wir werden akzeptabel versorgt. Die Maschinen überlassen uns sogar gnädigerweise einen Teil ihrer Arbeit, dabei wissen alle, dass die Maschinen die Arbeit besser erledigen als wir Menschen. Niemand braucht mich. Wenn ich jetzt sterben würde, wäre einfach nur ein Bett frei und der Staat wäre um einen unnötigen Esser erleichtert."

"Aber, ich ..."

"Spars dir. Klar, du würdest mich vermissen. Aber alle halbe Jahre ein Schwätzchen reicht nicht aus, um dem Leben einen Sinn zu geben. Im World 3000 habe ich zwar schöne Erfolge und mit meiner Arbeit sind alle zufrieden. Aber wozu lebe ich überhaupt?"

Inzwischen flossen die Tränen in Strömen und Susannes Oberkörper zuckte gelegentlich, als hätte sie einen Schluckauf. Juliane streckte ihre Hand über den Tisch. Nach einem Moment des Zögerns ergriff Susanne die Hand und klammerte sich daran fest wie eine Ertrinkende, die aus dem Wasser gezogen werden will.

Oh je, was sag ich bloß? Ich kann sie doch hier nicht in ihrem Unglück versinken lassen. Wie kann ich ihr nur helfen? Ob ich sie in den Arm nehmen sollte? Aber das würde dann allen auffallen und sie würden glotzen. Das tu ich Susanne besser nicht an.

"Hast du es mal mit was Kreativem versucht?"

"Was? Gedichte schreiben? Pah!"

"Müssen ja nicht unbedingt Gedichte sein, können auch Geschichten sein, liebevoll aufbereitetes Wissen, Bilder, Musik oder was auch immer."

"Du hast bestimmt recht. Manche Leute fühlen sich ja sogar schon von ihrer Modelleisenbahn ausgefüllt und sind glücklich. Aber irgendwie inspiriert das Schwarmleben überhaupt nicht."

"Hm."

"Es ist auch grauenvoll zu sehen, wie die Michaela immer mehr dem Stumpfsinn anheim fällt. Das Zimmerputzen muss ich schon seit Monaten alleine machen, damit wir keinen Ärger kriegen, beim Frühsport ist sie nur körperlich anwesend, wenn überhaupt und den Rest des Tages starrt sie in ihren Bildschirm. Sie spielt nicht mal mehr, sondern zieht sich eine Soap nach der anderen rein. Zum Essen muss ich sie hinzerren und oft gelingt mir nicht mal das. Natürlich nimmt sie schon lange Medikamente gegen Depressionen, aber die scheinen überhaupt nichts zu nützen. Ich werde ganz froh sein, wenn sie endlich bei den Faulenzern eingeliefert wird und dafür schäme ich mich auch noch."

"Bestimmt ist das schrecklich, wenn die Zimmerkollegin so verfällt. Wahrscheinlich wird es tatsächlich besser für dich, wenn sie weg ist. Aber ich glaube nicht, dass du dich dafür schämen musste, wenn du den Tag herbeisehnst. Mir würde es wohl nicht anders gehen. Wann rechnest du denn mit ihrem Umzug?"

"Das ist ja das Problem. Solange ich sie aufwecke und rumzerre, fällt ihr Zustand nicht besonders auf. Das kann noch ewig so weitergehen. Aber ich kann sie doch nicht einfach sich selbst überlassen."

"Ich sehe; das ist echt ein übles Dilemma. Da fällt mir auch keine brauchbare Lösung ein." Was hab ich es da gut, dass ich alleine leben darf. Auch wenn ich manchmal etwas einsam bin.

"Na ja, irgendwann wird es den Psychologen auffallen. Die kennen sich schließlich damit aus, weil sie selbst im Schwarm leben."

"Wie sieht es eigentlich mit den anderen Frauen in deiner Nachbarschaft aus?"

"Bestenfalls lauwarm. Klar, wir hocken oft zusammen auf dem Balkon und schwätzen auch viel. Aber das bleibt alles an der Oberfläche. Ich finde die meisten öde und ich glaube, sie finden auch mich öde. Am besten würde es mir gefallen, wenn du auch hier leben könntest. Dann hätten wir bestimmt viel Spaß."

"Viel besser wäre es noch, wenn du auch einen Job bekommen könntest. Dann könnten wir in Freiheit viel Spaß haben."

"Stimmt ja. Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen."

"Bei der Jobsuche werde ich die Augen offenhalten. Vielleicht finde ich ja auch für dich einen Job. Da fällt mir ein: du kennst doch Theo, oder?"

"Theo? Diesen Lackaffen? Was ist mit dem?"

"Der sucht eine Empfangsdame, um seine traditionsbewussten Kunden mit Kaffee und einem menschlichen Anblick zu beglücken. Aber mit meiner Haxe ist das nix. Da braucht man hohe Absätze."

"Hm, hm! Empfangsdame? In der spießigen Nobelgesellschaft? Mit High Heels? Dass du den Job nicht wolltest, ist mir sonnenklar. Du warst bestimmt empört, allein schon über die Idee, die gutbetuchten Kunden mit dem Anblick von Frauenfleisch zu erfreuen."

"Stimmt. Du kennst mich fast besser, als ich mich kenne, denn ich war ganz erschrocken über meine Reaktion."

"Das werde ich mir mal durch den Kopf gehen lassen, mit dem Job. Lackaffe hin oder her: noch bin ich jung genug, um solvente Mandanten zu entzücken. Das wäre vielleicht die letzte Chance."

"Wenn du daran Interesse hättest, solltest du es vielleicht tatsächlich wagen. Am besten bald, bevor er eine andere nimmt."

"Ich werds mal überschlafen. Schließlich weiß man nie, wieviel Glück die Kunden da vom weiblichen Anblick erwarten."

Unruhe ergriff die Cafeteria. Stühle wurden gerückt und viele der Frauen brachen auf.

"Oh je, es ist schon Zeit, heimzugehen. Schluss mit Ausgang. Magst du mich noch begleiten? Ich könnte geschwind eine Sondergenehmigung einholen."

"Ja, ich würde gerne mal sehen, wie du so lebst."

Susanne holte ein Handy aus der Hosentasche und sprach kurz hinein, bevor sie es wieder einsteckte. "Ok, du darfst. Ausnahmsweise, weil ich Geburtstag habe."

Schnell tranken sie den restlichen Sekt, dann griff Juliane nach ihrer Tasche und sie machten sich auf den Weg.

"Schau, die Häuser hier, das sind alles Frauenschwärme. Das dritte Haus dort hinten ist mein Zuhause."

"Wo leben denn die Männer?"

"Viel weiter hinten. Die kriegen wir kaum je zu Gesicht."

Wie ein Fächer zogen die langestreckten Häuser an ihnen vorbei. Jedes sah genauso aus wie alle anderen. Dazwischen befand sich jeweils eine Wiese mit einem Sportplatz-Oval in der Mitte.

"Auf diesen Sportplätzen müssen wir morgens immer antanzen. Außer wenn es doll regnet, dann gibt es Gymnastik auf dem Balkon."

"Und ein Trainer treibt euch dann immer an?"

"Ja, ein Robot-Trainer. Der ist ganz lustig, wenn er so seine Befehle ruft und die Bewegungen vormacht. Und er sieht auch tatsächlich, wenn wir uns drücken wollen."

Juliane drehte sich um, denn sie wollte sehen, wie die Rückseiten der Häuser verkleidet waren, schließlich schien dort im Norden keine Sonne. Sie sah eine Fassade, die wie ein Schweizer Käse wirkte. In regelmäßigen Abständen durchbrachen viereckige Löcher die Hauswand.

"Das sind die Balkons - unsere Aufenthaltsräume. Gehen nach innen, damit man sie bei Kälte mit Isolierfenstern abdichten kann. Im Sommer sind sie angenehm schattig; abends kann man sogar die Sonne untergehen sehen. Im Winter dienen sie als Wintergarten und schützen den dahinterliegenden Innenraum vor Kälte. Dann hätte man sie natürlich lieber auf der Sonnenseite, aber die ist ja mit der Stromproduktion beschäftigt."

"Die Erbauer haben das wohl alles genau ausgetüftelt."

"Kann man wohl sagen. So, hier sind wir nun. Da vorne in den Eingang müssen wir rein."

Ein schmaler Weg führte am Haus entlang zu den beiden Eingängen. Susanne schritt zügig bis zum zweiten Eingang aus.

"Willkommen daheim, Susanne. Ist diese Person dein Gast?" sagte die Haustür.

"Ja, das ist mein Gast."

"Ok, die Id wurde registriert. Willkommen Gast! Sie haben eine Viertelstunde Besuchszeit."

Sie betraten einen Gang, der nur ein Treppenhaus enthielt und ansonsten völlig kahl war.

Susanne kicherte. "Die Faulenzer haben sogar Aufzüge, damit sie schön faul bleiben können. Aber wir müssen Treppe steigen; bis in den vierten Stock."

In jedem Stockwerk zweigten links und rechts Türen ab, die sich in nichts voneinander unterschieden. Juliane spürte ihr Knie, als sie endlich das vierte Stockwerk erreichten. Sobald Susanne ihren Fuß auf die Stockwerksebene gesetzt hatte, klackte es und die rechte Tür öffnete sich wie von Geisterhand.

Ein schmaler Gang führte tief ins Gebäude hinein. Linkerhand reihte sich eine Tür an die nächste und rechts konnte man durch Fenster zum Balkon sehen.

"Siehst du, da hocken sie alle und langweilen sich. Wie jeden Tag."

Susanne deutete durch eines der Fenster auf den Balkon, wo man mehrere Frauen auf billigen Plastiksesseln sitzen sah. Sie machten einen lustlosen Eindruck, waren aber so in ihr Gespräch vertieft, dass sie die beiden Neuankömmlinge nicht beachteten.

"Und hier: mein Zuhause - Zimmer Nummer acht."

Die Tür öffnete sich; natürlich vollautomatisch, obwohl es auch eine normal aussehende Türklinke gab. Vorne im Zimmer gab es eine Engstelle, dahinter öffnete sich der Raum etwas breiter, war aber wie ein Schlauch eingerichtet.

"Hier links ist die Toilette und rechts eine Dusche. Das ist ganz praktisch, dass wir die nur zu zweit teilen müssen. Auf der linken Seite des Zimmers ist mein Reich. Komm ruhig mal rein."

Auf dem rechten Bett saß eine Frau in Julianes Alter mit Kopfhörern auf den Ohren. Sie starrte unverwandt auf einen Bildschirm, der am Fußende des Bettes befestigt war. Susanne hob kurz die Hand zum Gruß. Michaela ließ ihre Hand schwach zucken und widmete sich dann wieder vollständig dem Starren. Wahrscheinlich hat sie nichtmal bemerkt, dass ich auch hier bin.

"Das ist mein Schrank; nicht sehr üppig, aber immerhin und dieses Brett dort ist mein Schreibtisch. Den Bildschirm kann man entweder an die Wand klappen, wenn ich ihn vom Schreibtisch aus benutzen will, oder man benutzt ihn vom Bett aus wie bei Michaela."

"Sehr funktional."

"So könnte man es auch bezeichnen", Susanne kicherte.

"Ruf mal bei Theo an, vielleicht klappt das ja. Seine Nummer hast du?"

"Ja, die habe ich noch."

"Ok, dann werde ich mal wieder nachhause gehen. Lass es dir gutgehen und halt die Ohren steif."

"Ja, werd ich machen. Dir wünsche ich viel Glück bei der Jobsuche."

Nach einer herzlichen Umarmung strebte Juliane dem Ausgang zu.

Raus hier, bloß raus hier! Ich muss unbedingt einen neuen Job finden. Raus hier!

Vollautomatisch

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Vollautomatisch
Vollautomatisch

208 Seiten
ISBN 3-938764-01-5

Preis: 14.80 Euro

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