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Jenseits des Ölgipfels

Kapitel 37


  
"Bleib im Bett, Liebste. Ich bring dir ein Frühstück hoch."

Nachdem er das Wasser aufgesetzt hatte, huschte Jens schnell in die Bibliothek und fand ein paar heiter wirkende Romane, die er Johanna ans Bett brachte, damit sie in der Wartezeit etwas Nettes zu tun hatte. Dann eilte er zurück in die Küche, um das Frühstück vorzubereiten und auf einem Tablett verlockend anzurichten.

Johanna hatte die Bücher noch nicht angerührt und lag mit geschlossenen Augen auf ihrem Kissen, als Jens das Frühstück zu ihr hoch brachte. Ob sie wohl wieder eingeschlafen war? Jens stand unentschlossen neben dem Bett, denn aufwecken wollte er sie nicht. Als er gerade wieder rausschleichen wollte, öffnete Johanna ihre Augen einen Spalt weit. Jens gab ihr einen Kuss und stellte das Tablett neben ihr aufs Bett.

"Ich hab gar keinen Hunger."

"Das kann ich mir vorstellen, aber trink wenigstens ein bisschen, das wird dir gut tun. Und dann solltest du auch ein paar Happen essen, sonst sackt dein Kreislauf immer mehr ab."

Brav trank sie ein Schlückchen und knabberte am Marmeladenbrot. Jens war besorgt über ihre Erscheinung: das Gesicht blass wie ein Laken und die Augen immer noch stark verschwollen. Er neckte sie mit dem Brot wie ein kleines Kind, das gefüttert wird, und brachte sie dazu, noch einmal vom Brot abzubeissen.

"Willst du vielleicht etwas Musik hören?"

"Ach, das braucht doch zuviel Strom."

"Ganz im Gegenteil, wir haben massenhaft Strom übrig, der einfach so verschwindet, weil ihn keiner nutzt."

"Im Ernst? Aber ich dachte, der Strom wäre so knapp wegen der Waschmaschine."

"Die Waschmaschine war nur schwierig, weil sie soviel Strom auf einmal braucht. Unser Kraftwerk produziert ständig zwei Kilowatt Stromleistung, das ist eine ganze Menge, viel mehr als wir verbrauchen. In die Akkus passt nur ein Teil des Überflusses und der restliche Strom verschwindet einfach auf Nimmerwiedersehen. Wie du siehst, tust du dem Strom sogar einen Gefallen, wenn du ihm die Chance gibst, etwas mit sich anzufangen."

"Ja, das leuchtet ein. Das hatte ich bisher nicht kapiert, dass wir Strom übrig haben. Dann sollten wir dem Strom die Chance geben, schöne Musik zu machen."

Jens suchte die Musik raus, die Johanna bei seinem ersten Besuch aufgelegt hatte, denn er war sich sicher, dass sie diese Musik mochte. Als die ersten Töne erklangen, war schon ein wenig Farbe in ihr Gesicht zurückgekehrt. Doch Jens machte sich Sorgen, weil sie völlig ohne Widerstand akzeptiert hatte, im Bett zu bleiben. Das passte so gar nicht zu ihr. Es ging ihr wohl wirklich richtig schlecht.

Durch die viele Arbeit, die er jetzt alleine bewältigen musste, hatte er kaum Zeit, sich die ganze Zeit Gedanken um Johanna zu machen, doch er schaute alle ein bis zwei Stunden nach ihr, damit sie sich nicht verlassen fühlte. Jedes Mal, wenn er kam, lag sie einfach still im Bett, aber wenigstens die Musik schien ihr zu gefallen.

Gegen Nachmittag hatte sie sich jedoch wieder soweit gefangen, dass sie sich für eines der Bücher entschieden hatte und darin las. Das Buch hiess "Kleine Welt im Tessin" von einer Kathrin Rüegg, an die Jens sich aus einer Großmutter-Sendung im Fernsehen erinnerte. Diese Großmutter tat Johanna bestimmt gut, und wenn ihn sein Gedächtnis nicht im Stich ließ, hatte sie auch die Härten des Landlebens kennengelernt und überstanden.

Leise ging er, um die zweite Melkrunde des Tages zu beginnen. Ohne haltende Hand war das Melken doppelt so schwierig wie zu zweit, und die Ziege spürte wohl seine Unruhe, denn sie zappelte noch mehr als sonst. Hatte er nicht mal bei Seymour ein Gestell gesehen, das beim Ziegenmelken half?

Bevor er sich so über die Ziege ärgerte, dass er grob wurde, ließ er sie lieber vorerst wieder laufen und kehrte zurück ins Haus, um nach der nötigen Information zu suchen. Das abgbildete Melkgestell sah einfach aus, wie ein niedriger Tisch mit Geländer und Rampe zum hochklettern. Der Bau des Gestelles würde Jens zwar über eine Stunde kosten, aber er rechnete sich aus, dass er diese Zeit wahrscheinlich schon am nächsten Tag wieder eingespart hätte, vorausgesetzt, das Melken funktionierte mit dem Gestell tatsächlich besser.

Ohne Zweifel war ihm eine Stunde Arbeit in der Werkstatt erheblich lieber als ein endloser Kampf mit einer unwilligen Ziege. Bis das Gestell schließlich fertig war, dauerte es dann doch über zwei Stunden und es war so schwer, dass Jens seinen Anhänger benutzen musste, um es zur Wiese zu bringen.

Die Ziegen blökten schon ganz ungeduldig, wohl weil ihre Euter angeschwollen waren, als Jens endlich das Melkgestell aufbaute. Oben auf der Plattform konnte die Ziege ihren Kopf durch zwei Bretter stecken und fand dort zwei leckere Karotten vor, die Jens extra zu diesem Zweck von ihrem eigenen Essen geopfert hatte.

Trotz Jens' anfänglicher Skepsis funktionierte der Melkstand ganz hervorragend, denn die Ziegen waren ganz begierig auf die Karotte und stürmten um die Wette zum Gestell. Die Gewinnerin brachte sich ganz von selbst in die richtige Position und knabberte an den Möhren. Jens setzte sich auf den dafür vorgesehen Platz und begann zu melken. Zuerst ging es schwierig, weil der Euter schon so gespannt war, aber dann floss die Milch zügiger und die Ziege war schneller gemolken als je zuvor. Die andere Ziege hatte es anschließend sehr eilig, auch Karotten zu essen, die Jens natürlich wieder ergänzt hatte und ließ ihn willig seine Arbeit verrichten.

Nachdem er einen Teil der Milch zur späteren Käseherstellung in die Speisekammer gestellt und den Rest im Kühlschrank verstaut hatte, ging Jens wieder zu Johanna, die er jetzt schon lange alleingelassen hatte. Sie schlief. Ihre geröteten Augenlider ließen vermuten, dass sie wieder geweint hatte. Jetzt wirkte sie aber entspannt, als hätte sie beim Einschlafen noch etwas Schönes gelesen. Ihr Buch lag nämlich direkt neben dem Kopfkissen und berührte ihre Hand.

Um sie in Ruhe schlafen zu lassen, setzte er sich in die Bibliothek und stöberte in den Büchern über Landwirtschaft. Allein das alles zu lesen würde Jahre dauern: bei der vielen körperlichen Arbeit sogar Jahrzehnte.

Wie konnte er Johannas und auch seine Probleme lösen? Maßnahmen wie das Melkgestell würden die Arbeit nach und nach erleichtern, aber wenn er versuchte, sich das Arbeitspensum realistisch vorzustellen, wurde ihm klar, dass sie keine Chance hatten, alles zu schaffen, was sie vorhatten.

Er war froh, dass sie auf die Ansaat von Lein für dieses Jahr verzichtet hatten und dass die Genehmigung vom Landwirtschaftministerium für Faserhanf immer noch fehlte. Denn auch wenn ihm Johannas Textil-Pläne gefielen, konnten sie doch froh sein, wenn sie ihre Nahrungsversorgung einigermaßen in den Griff bekamen.

Am nächsten Tag aß Johanna immerhin wieder eine ganze Scheibe Brot zum Frühstück, aber schon der Weg ins Bad schien sie sehr anzustrengen. Das zeigte Jens deutlich, wie angeschlagen sie noch war. Jens kümmerte sich um die Tiere, stellte Käse aus der Milch vom Vortag her, wendete die Käselaibe, die im Lager reiften, bereitete das Mittagessen zu und goss das Gemüse in Garten und Gewächshaus, was auch mit dem Schlauch immer mehr Zeit in Anspruch nahm, weil es zunehmend wärmer und trockener wurde. Nachdem er mit dem Gießen fertig war, wurde es schon wieder Zeit für die zweite Melkrunde der Ziegen. Zwischendrin ging er regelmässig zu Johanna, damit sie wusste, dass er für sie da war.

Obwohl er den ganzen Tag gearbeitet hatte, war Jens gerade einmal mit der täglichen Grundversorgung fertig geworden. Ohne Melkstand hätte er sicherlich nicht einmal das geschafft. Er hatte kein Unkraut entfernt, nichts gesät, nichts gepflanzt, nicht nach dem Feld geschaut und keinen Einkauf erledigt. Seine Bewunderung für professionelle Bauern wuchs zusehens und er fragte sich, ob er wirklich für das Landleben geeignet war.

Vielleicht war das mit dem eigenen Hof doch eine unvernünftige Schnapsidee gewesen und für Stadtmenschen in schwierigen Zeiten nicht zu bewältigen. In der Stadt kannte er sich wenigstens aus und hatte es immer geschafft, sich irgendwie durchzuwursteln. Hier auf dem Land waren sie Fremde, die einen Fehler nach dem anderen machten und selbst für einfache Tätigkeiten viel Zeit brauchten.

Bevor es ihm mit seinen Zweifeln noch so erging wie Johanna, rannte Jens lieber zur Quelle und sprang diesmal vorher in den kalten Teich, um einen klaren Kopf zu bekommen. Das half - zumindest fürs Erste.

Als er Johanna am nächsten Morgen das Frühstück brachte, wollte sie aufstehen und wieder an die Arbeit gehen. Doch Jens überredete sie, sich noch einen Tag länger auszuruhen, denn er spürte, dass Johannas Arbeitswille nur ihrem schlechten Gewissen und nicht der wiedergekehrten Kraft entsprang. Er war aber froh, dass sich bei Johanna inzwischen Widerspruchsgeist rührte, denn das hielt er für ein gutes Zeichen.

Gegen Abend machten sie zusammen einen Spaziergang über den Hof und Jens zeigte seiner Frau, dass alles in Ordnung war. Das Melkgestell gefiel Johanna sehr gut und schien ihr Hoffnung auf Arbeitserleichterung zu geben. Nach einer erholsamen Nachtruhe konnte sie es kaum abwarten, mit der neuen Methode die Ziegen zu melken und Jens erhob keine Einwände.

In den ersten Tagen hatte Johanna nur Kraft für wenige Stunden, aber das störte Jens nicht im geringsten, denn er war sehr glücklich, dass sie überhaupt wieder auf den Beinen war. Allerdings befürchtete er, dass sich Johannas Zusammenbruch möglicherweise wiederholen könnte, denn die Arbeit schien mit zunehmender Jahreszeit zu wachsen.

In den Nachrichten hörte Jens von umfangreichen Bauernprotesten vor allen Landratsämtern und Landwirtschaftsministerien. Die Bauern waren zu Fuß anmarschiert und forderten mehr Treibstoff, um genügend Nahrung für die Bevölkerung produzieren zu können. Johanna schien bei dieser Nachricht Kraft zu gewinnen. Wahrscheinlich dachte sie sich, wenn die Profibauern schon Grund zum Protestieren hatten, dann war ihr Zusammenbruch eher entschuldbar.

Dennoch blieb eine gewisse Traurigkeit weiterhin in ihr Gesicht geschrieben und öfter hörte Jens bei ihren Gesprächen durch, dass sie sich für ihre Schwäche verachtete und es gelang ihm nicht, ihr das auszureden.

Jens entschied, dass sie sich fortan am Sonntag nur um die Tiere kümmern würden, und auch das immer abwechselnd, damit jeder wenigstens alle zwei Wochen einen völlig freien Tag hatte. Johanna war zwar zuerst dagegen, weil es doch so unendlich viel zu tun gab, willigte aber schließlich ein, weil Jens nicht lockerließ.

Abends saß Jens jetzt oft in der Bibliothek und wälzte Bücher, Internetseiten und Gedanken auf der Suche nach Arbeitserleichterungen. Er überlegte gerade, ob ein Microdrip-System zur automatischen Betröpfelung der Gemüsepflanzen Sinn machen würde oder ob der Installationsaufwand zu hoch sein würde, als er im Radio von einem Angebot der Regierung an die protestierenden Landwirte erfuhr.

Mehr Treibstoff konnte nicht versprochen werden, aber freiwillige Grundsicherungsempfänger sollten für Kost und Logis bei den Bauern arbeiten und der Staat würde ihnen ein geringes Taschengeld zahlen. In den Meinungsumfragen zu diesem Angebot fiel zwar auch öfter das Wort "Ausbeutung", aber im Allgemeinen war die Resonanz sehr positiv.

Ob das vielleicht auch eine Lösung für ihren Hof war? Jens dachte dabei sofort an Andreas, obwohl er nicht wusste, ob Andreas auch nur andeutungsweise Interesse am Landleben hatte. Nach einem längeren Gespräch mit Johanna rief Jens schließlich bei Andreas an.

Jenseits des Ölgipfels

The Party's Over
von Richard Heinberg

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Jenseits des Ölgipfels
Jenseits des Ölgipfels

268 Seiten
ISBN 3-933634-18-0

Preis: 16.90 Euro

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