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Jenseits des Ölgipfels

Kapitel 30


  
An einem sonnigen Februartag, der schon den Frühling erahnen ließ, fuhren Jens und Johanna auf ihren Fahrrädern zu einigen der nahegelegenen Bauernhöfe, die mit Olivier kooperierten.

Einer der Bauernhöfe gefiel Jens und Johanna besonders gut, vor allem wegen der Vielfalt, die dieser Hof bot. Der Bauer hatte nur ein kleines Windrad für den Eigenbedarf und ansonsten eine grosse Biogas-Anlage, die mit Hilfe von Druck und Hitze sogar flüssigen Treibstoff produzierte, den man als Dieselersatz verwenden konnte. In dieser Anlage verarbeitete der Bauer alle Pflanzenreste, die anfielen, und den Kot der Tiere des Hofes. Als Abfall entstand hochwertiger Dünger, mit dem der Bauer seine Felder düngte. Von jeder Tierart gab es nur wenige, dafür waren viele Arten auf dem Hof heimisch: Kühe, Schweine, Ziegen, Schafe, Hühner, Hasen und Gänse. Die Erzeugnisse dieser Tiere wurden, soweit möglich, direkt auf dem Hof verarbeitet.

Auf einem anderen Hof konnten sie beheizte Gewächshäuser bewundern, die an Fabrikhallen erinnerten, so gross wie sie waren. In diesen Hallen gediehen tatsächlich Tomaten, wie Olivier schon am Anfang berichtet hatte. Auch Gurken, Zucchini, Paprika und Salat wurden in diesem künstlichen Sommerwetter angebaut. Eiffelturmhohe Windräder produzierten Licht und Wärme, die in den Gewächshäusern gebraucht wurden.

Voller neuer Eindrücke kehrten sie am Abend heim und der eigene Hof begann in ihren Köpfen Gestalt anzunehmen.

Die Adoption verlief tatsächlich so schmerzlos, wie Heide versprochen hatte, doch empfand Jens die Zeremonie beim Notar als äußerst langatmig. Bei der gleichen Gelegenheit wurde Jens auch der Hof übertragen und die Zahlung des Startkapitals auf sein Konto veranlasst.

Für wenige Tage hiess Jens nun "Jens Wagner".

Jens und Heide feierten die späte Geburt ihrer Mutter-Sohn-Beziehung in einem teuren Restaurant, von dem Jens bisher gar nicht gewusst hatte. Einerseits fühlte sich Jens sehr wohl damit, aber andererseits fühlte es sich auch immer mal wieder sehr merkwürdig an, durch eine simple Unterschrift plötzlich eine neue Mutter zu haben. Ihr gemeinsames Grippeerlebnis half jedoch, dass es sich stimmig anfühlte, als würde das Entreissen aus den Klauen des Todes die Geburtserfahrung ersetzen.

Heides Humor trug stark dazu bei, dass der Abend zu einem richtigen Fest wurde, voller Lachen und angeregten Gesprächen. Immer wieder mal ging Jens auch seine richtige Mutter durch den Kopf und ihm wurde klar, dass Heide keineswegs ihren Platz einnehmen wollte und würde. Seine Mutter würde ihren Platz in seinem Herzen nicht verlieren, soviel stand fest. Denn Heide eroberte einen anderen Platz in seinem Herzen, als stünden im Hintergrund freie Herzplätze in Warteposition, um aktiv zu werden, sobald sie gebraucht würden.

Aber wenn Jens die Wahl gehabt hätte, sich eine Mutter auszusuchen, hätte er sich bestimmt gerne eine Frau wie Heide ausgesucht. Trotz der weissen Haare und tiefen Runzeln versprühte sie soviel jugendlichen Charme, dass er immer wieder vergass, dass sie schon über achtzig war.

Die nächsten Tage vergingen wie im Flug, weil es so viel vorzubereiten galt, dass Jens kaum zum Nachdenken kam. Seine Wohnung wollte Bennie übernehmen, der sich freute, fünf Quadratmeter mehr für weniger Geld zu bekommen. Die meisten seiner Besitztümer würde Jens zurücklassen, denn der Transport durch ganz Deutschland wäre teurer als eine Neuanschaffung gewesen. Fürs erste mussten wohl die Möbel reichen, die laut Heide im Wohnhaus des Hofes standen. Ein paar wenige Umzugskisten mit seinem Computer und seinen Lieblingsbüchern ließ er sich mit einem Sammeltransport nachschicken. In der letzten Woche besuchte er auch nochmal all seine Freunde, die er wahrscheinlich lange nicht mehr sehen würde.

Die Hochzeit fand am letzten Tag vor der Abreise statt und diente gleichzeitig als Abschiedsfest. Bennie war als Trauzeuge eingeladen und Heide kam in ihrer neuen Mutterrolle. Die zweite Trauzeugin war eine Schulfreundin von Johanna, die Jens bisher nicht gekannt hatte. Nach der standesamtlichen Trauung fand eine kirchliche Trauung im privaten Rahmen statt, denn Johannas Eltern hatten ihre guten Beziehungen zur Gemeinde spielen lassen und einen extra Trauungstermin unter der Woche ermöglicht.

Obwohl Jens mit kirchlichen Dingen nicht viel im Sinn hatte, spürte er beim Heiratsversprechen eine Gänsehaut.

Johanna sah in ihrem Brautkleid wirklich bezaubernd aus. Jens war ganz erstaunt, welchen Aufwand sie für ein so kleines Fest getrieben hatte, aber er sagte sich, dass man die Bedeutung einer Hochzeit wohl besser nicht an der Anzahl der Gäste festmachen sollte. Als er Johanna nach den Zeremonien auf ihr Brautkleid ansprach und erwähnte, dass es ja eigentlich schade sei, dass sie es nur dieses eine Mal anziehen würde, lachte sie und erklärte ihm, dass ihr Kleid modular aufgebaut sei und dass sie Teile davon durchaus später noch tragen würde, z.B. die Bluse, das Jäckchen und den engen Rock, den man unter dem weiten Tüll nur erahnen konnte.

Weil er keinen Namen weitergeben wollte, an den er sich selbst noch gar nicht gewöhnt hatte, nahm er Johannas Nachnamen an und so hiess Jens jetzt "Jens Trautmann".

Wie zu erwarten, gab es viel zuviele Torten und auch das abendliche Buffet hätte für ein Vielfaches von Gästen gereicht. Frau Trautmann war emsig darauf bedacht, es allen Gästen recht zu machen und wirkte fast aufgekratzt. Johanna vertraute Jens in einem ruhigen Moment an, dass ihre Mutter täglich stundenlang geweint hatte, seit ihr Wegziehen feststand. Auch Sonja war sehr unglücklich gewesen, als sie es erfuhr und ließ sich nur mit dem Versprechen trösten, dass sie in den Sommerferien zu Besuch kommen dürfe.

Am nächsten Morgen stand die ganze Familie Trautmann auf dem Bahnsteig und sogar Heide hatte die frühe Stunde nicht gescheut und war zum Abschiednehmen gekommen. Der Abschied zwischen Johanna und ihrer Familie verlief tränenreich, aber Jens schüttelte ihnen nur sachlich die Hände und spürte eine deutliche Distanz außer bei Sonja, die am liebsten sofort mitgefahren wäre. Heide strahlte übers ganze Gesicht und verabschiedete sich sehr herzlich vom frisch getrauten Ehepaar.

Jens war froh, als es Zeit wurde, ihre Habseligkeiten im Zug zu verstauen. Sie hatten sich für die erste Klasse entschieden, denn nur dort konnte man mit Platzkarten auch erwarten, tatsächlich einen Sitzplatz vorzufinden. Die zweite Klasse war meistens so überfüllt, dass man sich selbst mit Platzkarte kaum zu seinem Sitz vorarbeiten konnte, obwohl die Züge deutlich länger waren als vor der Ölkrise. Außerdem war die teure Fahrradmitnahme nur noch in Verbindung mit einem Erste Klasse Ticket möglich und Jens wollte unbedingt sein Fahrrad mitnehmen, um beweglich zu sein. Das hatte auch Johanna überzeugt, ihr eigenes Fahrrad mitzunehmen.

Als Jens die Massen sah, die sich in die Waggons der zweiten Klasse quetschten, war er sehr froh über die Entscheidung für die teureren Fahrkarten, zumal die Eltern Trautmann es sich nicht hatten nehmen lassen, die Zugfahrt zu bezahlen. Auch ein zusätzliches Startkapital hatte Johanna auf ihrem Konto vorgefunden, wenn es auch deutlich weniger war, als das Vermögen, das Jens von Heide bekommen hatte.

Gut gelaunt saßen Jens und Johanna schließlich auf ihren Plätzen und fuhren ihrem neuen Leben entgegen, nicht ahnend, was alles auf sie zukommen würde.

Unterwegs sahen sie beeindruckende Windparks, die sich über ganze Landstriche erstreckten. Auf ihrem Landausflug hatten sie zwar auch schon viele Windräder gesehen, aber dass es solche Mengen davon gab, erstaunte sie dennoch.

Erst nach etwa zwei Stunden Fahrtzeit wurden die Windparks allmählich seltener, doch sie blieben ein ständiger Begleiter auf der Reise. Je weiter sie nach Süden kamen, desto häufiger standen die gigantischen Drehflügel auch still und warteten auf Wind.

Gegen Mittag erreichten sie Frankfurt, wo sie eine halbe Stunde Aufenthalt hatten. Diese Zeit wollten Jens und Johanna nutzen, um sich etwas die Füsse zu vertreten und einen Kaffee zu trinken. Ihr Gepäck vertrauten sie einem älteren Ehepaar an, das mit ihnen im gleichen Abteil saß und sehr seriös wirkte.

Der Bahnhof war eine einzige Baustelle. Ein großer Teil des Gebäudekomplexes war vollständig abgesperrt und vor Blicken geschützt, doch ein Blick zur Hallendecke offenbarte ein nur notdürtig geflicktes Loch, dessen Grösse kleineren Bahnhöfen als vollständiges Dach gereicht hätte.

"Ob das noch Schäden von dem Terroranschlag vor drei Jahren sind?", fragte Johanna.

"Sieht fast so aus. Schau mal, hier der Pfeiler hat auch ordentlich was abbekommen, obwohl er außerhalb des gesperrten Gebietes ist."

"Dann brauchen die aber echt lange zum Reparieren."

"Denen fehlt wohl das Geld und vielleicht auch das Baumaterial. Rohstoffe sind doch überall knapp."

"Ich finde es unheimlich hier. Wenn ich mir vorstelle, wieviele Leute hier damals gestorben sind und welch grauenvolle Verletzungen es gab, genau hier, wo wir jetzt langgehen, dann wird mir fast schlecht."

"Ja, irgendwie ist es unheimlich.", Jens legte den Arm beschützend um seine Frau.

"Am liebsten würde ich wieder zurück in den Zug, zur Not auch ohne Kaffee."

"Ok, dann lass uns wieder zurückgehen."

Johanna kuschelte sich an Jens und engumschlungen gingen sie zurück in ihr Abteil. Dort wartete ein üppiges Proviantpaket auf sie, von dem sie auch noch ihren Sitznachbarn etwas abgeben konnten. Johanna erzählte schmunzelnd, wie sie ihre Mutter davon abgehalten hatte, ihnen einen ganzen Wochenvorrat einzupacken.

Südlich von Frankfurt sahen sie immer häufiger Dächer mit Solaranlagen. Hier und da standen außerhalb der Städte sogar ganze Felder voll davon. Das waren wohl die legendären Solarkraftwerke, von denen Jens bisher nur aus Fernsehen und Internet wusste.

So wie die Windräder im Verlauf ihrer Reise weniger geworden waren, steigerte sich die Nutzung der Sonnenenergie. Auf manchen Dächern konnte man sogar beide Typen von Solaranlagen sehen: die bläulich schimmernden Photovoltaik-Anlagen, um Strom zu erzeugen und die Sonnenkollektoren, mit denen man Wasser erwärmen konnte.

Beide Arten von Solaranlagen wollte Jens auch unbedingt für ihren Hof haben. Er hatte zwar von Lieferengpässen aufgrund der Materialknappheit gehört und außerdem waren die Komponenten wieder teurer geworden, weil auch die Energie zur Herstellung der Anlagen teurer geworden war, wie überall auf der Welt. Jens hoffte, dass die zusätzliche Energieverteuerung durch den Japan-Tsunami wieder nachlassen würde, denn sonst würde sein Vermögen wahrscheinlich weniger weit reichen, als er sich am Anfang vorgestellt hatte.

In Freiburg mussten sie umsteigen und als sie endlich an ihrem Zielbahnhof ankamen, war es schon lange stockdunkel. Herr Wiedemann, der Nachbar, hatte zwar angeboten, sie vom Bahnhof abzuholen, aber die Fahrräder hätten nicht in sein Auto gepasst und bei den aktuellen Benzinpreisen wäre eine solche Fahrt auch ein grosses Opfer gewesen. Stattdessen hatte Herr Wiedemann sich bereit erklärt, das Wohnhaus vorzuheizen und sie dort zu empfangen.

Johanna und Jens packten also ihr Gepäck in Jens Fahrradanhänger, schalteten ihre Dynamos an und fuhren durch die Nacht ihrem neuen Zuhause entgegen. Nach einer knappen halben Stunde erreichten sie ihr Dorf. Das Ortsschild "Eichingen" bewies, dass sie hier richtig waren. Ob sie hier wohl Freunde finden würden?

Nur noch wenige hundert Meter und sie standen im geöffneten Hofeingang ihres Hofes, über dem ein Stück Stoff mit der Aufschrift "Willkommen" prangte. Eines der dunkel aufragenden Häuser, die den Hof umstanden, leuchtete einladend aus seinen Fenstern.

Jenseits des Ölgipfels

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von Matthew R. Simmons

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Jenseits des Ölgipfels
Jenseits des Ölgipfels

268 Seiten
ISBN 3-933634-18-0

Preis: 16.90 Euro

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