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Jenseits des Ölgipfels

Kapitel 28


  
Die ganze Welt stand Kopf. Es war aber auch einfach unfassbar. In allen Fernsehkanälen und auf allen Titelseiten gab es nur noch ein Thema: "Tokyo, Osaka und Kobe von Tsunami zerstört - Millionen Tote.".

Ursache des Unglücks war eine gewaltige Flutwelle, ausgelöst durch eine Rutschung am Meeresboden. Der Abbau des Methanhydrats hatte die Stabilität des Meeresbodens so sehr geschwächt, dass ein großer Teil des Kontinentalhangs in einem Schwung in Richtung Tiefsee gerutscht war. Dieser unterseeische Erdrutsch hatte den Tsunami ausgelöst, der mit großer Geschwindigkeit auf die Ostküste Japans zuraste und sich in Küstennähe bis zu dreißig Meter über dem normalen Meeresspiegel aufbäumte.

Damit überwanden die Wassermassen mühelos die Tsunami-Schutzmauern, die überall in Küstennähe installiert worden waren und knallten fast ungebremst in die küstennahen Metropolen und kleineren Orte. Das Wasser warf die erdbebensicheren Hochhäuser um, als wären es Kegel. Häuser, die zunächst standhielten, wurden von ihren stürzenden Nachbarn mitgerissen und alle Menschen, die sich darin aufhielten, ertranken oder wurden von Trümmern erschlagen.

Weil viele Strände und Straßen in Japan fortwährend von Kameras gefilmt wurden, die ihre Bilder direkt ins Internet einspeisten, konnte man die Flutwelle aus unzähligen Blickwinkeln herannahen sehen. Man hatte auch überaus plastische Eindrücke davon, wie die Welle durch die Straßen raste und alles unter sich begrub. Die Filmsequenzen dauerten immer solange, bis die Kameras selbst Opfer des Wassers wurden, sodass man immer wieder den Eindruck hatte, der Tsunami würde direkt auf einen zukommen.

Besonders oft wurde eine Szene gezeigt, in der eine Schar kleiner Kinder mit ihrer Kindergärtnerin am Strand gespielt und den herannahenden Tsunami erst im letzten Moment entdeckt hatte. So spät, dass keiner eine Chance hatte, zu entkommen. Die Woge fegte über sie hinweg, als wären die Kinder Ameisen.

Gerüchte sprachen von zwanzig Millionen Toten und ebensovielen Verletzten, was aber nur eine grobe Schätzung sein konnte, denn das Ausmaß der Schäden war nicht zu überblicken. Einzig Kyoto war unter den Metropolen teilweise ungeschoren davongekommen, aber auch dort gab es so grosse Schäden, dass die Hilfskräfte schon durch die Probleme in der eigenen Stadt überfordert waren. Das ganze Land stand unter Schock.

Auch Jens war schwer erschüttert von den Ereignissen. Dabei hätte er eigentlich gedacht, dass er inzwischen schon an Katastrophen-Nachrichten gewöhnt war, aber dass ganze Millionenstädte auf einen Schlag von der Erdoberfläche gewischt wurden, übertraf alle bisherigen Schrecknisse.

Da stand er nun vor der wichtigsten Entscheidung seines Lebens und ein Ereignis am anderen Ende des Globus brachte alle Gedankengänge durcheinander. Schon morgens vor der Arbeit hatte er die ersten Nachrichten aus Japan gesehen, war dann aber ganz normal zur Arbeit gefahren. Dort war an Arbeiten kaum zu denken, denn jedes Gespräch drehte sich um den Tsunami. Der Fernseher im Sekreteriat lief im Dauerbetrieb und die Termine bei den insolventen Firmen waren kurzerhand abgesagt worden.

Es war schlimmer als damals am elften September, als das World Trade Center zerstört worden war. Weltweit starrte jeder, der nicht gerade selber in einer bedrohlichen Situation steckte, fassungslos auf die Bildschirme, wo die Woge immer und immer wieder über Japan hereinbrach. Niemand konnte sich das Ausmaß der Katastrophe wirklich vorstellen: was es bedeutete, wenn die drei wichtigsten Städte eines Landes zusammen mit ganzen Landstrichen untergehen.

Schon bald meldeten sich die üblichen Experten im Fernsehen, um über die Ursache der Katastrophe zu referieren. Man konnte ihnen ihr Entsetzen deutlich anmerken, auch denen, die schon vor Monaten vor dem Methanhydrat-Abbau durch Sprengung gewarnt hatten. Sie waren sich alle einig, dass die Sprengungen unverantwortlich gewesen waren, denn niemand hatte voraussagen können, wieviel Destabilisierung der Meeresboden aushalten würde. Selbst der behutsame Abbau ohne Sprengungen war aufgrund der potentiellen Risiken umstritten. Der Schock über das Schicksal so vieler unschuldiger Menschen milderte jedoch die Schärfe der Expertenaussagen.

In den USA wurde das vergleichbare Methanyhydrat-Projekt sofort abgebrochen, um der amerikanischen Ostküste ein ähnliches Schicksal wie Japan zu ersparen. Der Präsident der Vereinigten Staaten hielt eine Beileidsrede und drückte sein Bedauern darüber aus, dass ihnen die Möglichkeiten für Hilfsmaßnahmen fehlten. Aus Europa und Australien wurden Flugzeuge mit Katastrophenhilfe geschickt, doch auch diese war nur spärlich, weil die Energiekrise selbst dort alle Kräfte band. Wann die Hilfe den Katastrophenort erreichen würde, war unklar, denn der Tokyoter Flughafen war natürlich auch zerstört.

Ein Fernsehsender aus Kyoto war die einzig verbliebene öffentliche Verbindung von Japan zum Rest der Welt. Zuerst sendeten sie Augenzeugenberichte aus den zerstörten Gebieten Kyotos, dann konnte man auch die Trümmer Osakas und Kobes sehen, in denen verzweifelte Menschen nach Angehörigen und ihren Habseligkeiten suchten. Aktuelle Bilder aus Tokyo kamen deutlich später, weil die Reporter erst dorthin fahren mussten. Völlig unklar war, wo und von wem die Millionen Verletzten versorgt werden konnten und wo die Obdachlosen die nächste Nacht verbringen sollten. Hilfskräfte und Freiwillige aus allen nicht betroffenen Regionen Japans waren auf dem Weg in die Krisenregionen und Obdachlose wurden mit Bussen in Orte der Westküste gebracht, aber Tausenden von Hilfsmöglichkeiten standen viele Millionen Opfer entgegen.

Gegen Mittag war abzusehen, dass innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden voraussichtlich eine weitere Million der bisher überlebenden Opfer sterben würden, mit zerschlagenen Gliedmaßen in den Trümmern liegend, auf Rettung hoffend, die nicht kommen würde, und schließlich vom Frost eingeholt. Inzwischen war in Japan tiefste Winternacht. Die Meteorologen rechneten mit Temperaturen von bis zu minus zehn Grad Celsius.

Zu wissen, dass da, zwar weit weg, so viele Menschen in fürchterlicher Not waren und keine helfende Hand hatten, erfüllte Jens mit einem ganzen Cocktail von miesen Gefühlen. Sein Kaffee schmeckte nicht, auf das Mittagessen hatte er gar keinen Appetit und er konnte deutlich sehen, dass es seinen Kollegen genauso ging. Seinen Kollegen, die wohl nur noch wenige Tage seine Kollegen sein würden. Die Entscheidung, bei der Insolvenzfirma aufzuhören, kam Jens auf einmal so hohl und unbedeutend vor.

Sogar auf der Toilette verfolgte Jens das Bild von den Kindern, die vom Tsunami erschlagen worden waren. Hatte es keine Warnung gegeben oder hatten sie die Warnung nicht gehört?

Später erfuhr er, dass es durchaus eine halbe Stunde vor Eintreffen der Flutwelle eine akustische Warnung an den Küsten und umfassende Warnungen in allen Fernsehkanälen und Radios gegeben hatte. Dort, wo die Kinder gespielt hatten, war die Warnsirene möglicherweise ausgefallen gewesen, aber das ließ sich kaum nachträglich überprüfen. In den Städten hatte die Warnung nicht viel gebracht, denn in einer halben Stunde kann man nicht mehrere Millionen Menschen evakuieren. Auf den Straßen ins Landesinnere hatten sich sofort Staus gebildet, aber dennoch war es einigen gelungen, aus Ortsteilen entkommen, die jetzt eine einzige Trümmerwüste waren. Diese Flüchtlinge wurden besonders häufig von den Fernsehsprechern interviewt, wohl weil sie zeigten, dass nicht alles hoffnungslos war.

Nach Feierabend saß Jens unentschlossen auf seinem Sofa vor dem Fernseher und konnte sich nicht von den Bildern losreissen. Inzwischen wurde auch eine besonders beeindruckende Sequenz von umstürzenden Hochhäusern aus dem Zentrum Tokyos immer wieder gezeigt. Die omnipräsenten Kameras hatten eine Fülle von Szenen eingefangen, die alles bisher Gesehene in den Schatten stellte. Dagegen verblassten die Bilder aus dem notleidenden Lagos und sogar vom einstürzenden World Trade Center zu schwachen Schatten.

Eigentlich hatte er geplant, jetzt mit Johanna über seine Entscheidungen zu reden, aber an einem solchen Tag konnte man wohl kaum mit diesen völlig anderen Themen ankommen. Seine Überlegungen wurden vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Johanna war dran und fragte, ob sie kommen dürfe, denn zu Hause würde ihr die Decke auf den Kopf fallen. Jens hieß sie natürlich gerne willkommen.

"Ist es nicht schrecklich?", fragte Johanna, kaum hatte sie Jens' Wohnung betreten.

"Ja, grauenvoll."

"Als ob es auf der Welt nicht schon schlimm genug wäre."

"Ich kann es auch kaum fassen. Von so einer schlimmen Katastrophe habe ich vorher noch nie gehört."

"Und dabei hätte es nicht passieren müssen. Wenn sie nur nicht so unvorsichtig den Meeresboden gesprengt hätten."

"Anscheinend machen sich die Menschen die schlimmsten Katastrophen immer selbst. Die Ölkrise ist ja auch menschgemacht. Wir hätten das Öl eben nicht so blind verschleudern dürfen."

"Mach doch mal den Fernseher aus. Ich kann die Bilder schon nicht mehr sehen. Am liebsten würde ich auf andere Gedanken kommen."

"Hm, ich wüsste da schon etwas, um dich auf andere Gedanken zu bringen."

"Oh, das ist ein nettes Angebot, aber ich glaube, für Vergnügungen habe ich den Kopf heute zu voll mit Unglück."

"Das meinte ich auch gar nicht, obwohl es natürlich auch keine schlechte Idee wäre. Bist du dir sicher, dass du auf andere Gedanken kommen willst, selbst wenn sie dir vielleicht gar nicht gefallen?"

"Du machst es aber spannend. Jetzt will ich natürlich unbedingt wissen, was du zu berichten hast."

"Also gut. Du sitzt bequem?"

"Ja."

"Das erste ist, dass ich den Job in der Firma deines Vaters nicht weitermachen werde."

"Damit habe ich schon fast gerechnet, den Andeutungen zufolge, die du manchmal gemacht hast. Was ist denn der Hauptgrund dafür?"

"Einerseits die traurigen Mitarbeiter der insolventen Firmen. Das ist schlimmer als tote Grippeopfer. Und es hat mich eigentlich auch gar nicht herausgefordert. An der Informatik reizt mich das Programmieren, also das Neuentwickeln von nützlichen Programmen. Aber bei den Pleitefirmen muss ich nur ein paar Dateien aus dem Chaos fischen; das ist so ähnlich, wie im Müll von anderen Leuten stöbern und das liegt mir auf Dauer nicht."

"Das leuchtet ein. Na ja, ich mag dich auch ohne lukrativen Job. Obwohl mein Vater bestimmt traurig sein wird, denn er hat erwähnt, dass sie ziemlich zufrieden mit dir sind."

"Dafür schaffe ich Abhilfe, denn ich habe einen Studienfreund, der an dem Job sehr interessiert ist. Ich habe schon mit ihm gesprochen und er wäre jederzeit bereit anzufangen."

"Dann ist ja eigentlich alles geregelt - wenn dein Freund seine Sache genauso gut macht wie du. Was macht der denn jetzt? Hochhäuser putzen?"

"Er verkauft Benzin in Flaschen und ist bestimmt so gut wie ich. Sein Vorteil ist auch, dass er nicht so leidenschaftlich gerne programmiert, sondern lieber in unbekannten Systemen rumstöbert."

"Das klingt doch eigentlich ganz gut. Damit wird mein Vater wohl leben können. Gehst du dann wieder zurück zur Entrümplungsfirma?"

"Tja, das ist die zweite Sache. Ich habe gestern einen Bauernhof in Süddeutschland geschenkt bekommen, mit Quelle und allen Schikanen."

"Einen Bauernhof? Geschenkt bekommen? Du scherzt."

"Soweit ich es überblicke, ist es kein Scherz, sondern ernst gemeint. Ich habe sogar schon Bilder von dem Hof gesehen. Sieht toll aus."

"Und wer schenkt dir einfach so einen Hof?"

"Frau Wagner, von der ich dir schon erzählt habe. Sie hat früher diesen Hof bewirtschaftet, bevor ihr Mann krank wurde und sie hergezogen sind."

"Das ist ja phantastisch."

"Finde ich auch."

"Aber - was wird aus uns?"

"Wenn du willst, kannst du gerne mitkommen. Das wäre mir sogar das Allerliebste. Aber ich hätte auch Verständnis, wenn du bei deiner Familie bleiben willst."

Jens hatte sich vor diesem Moment gegraust und ihm war jetzt auch gar nicht wohl bei der Sache. Was wäre, wenn sie hierbleiben würde? Das würde ihm wahrscheinlich sehr weh tun. Aber wenn sie mitkäme, würde ihn vermutlich ein schlechtes Gewissen plagen, weil er sie ihrer Familie weggenommen hätte.

"Der reinste Seymour-Traum.", sagte Johanna versonnen. "Schwierig, schwierig, die Entscheidung, aber enorm verlockend."

Jens hielt die Luft an, ohne es zu merken.

"Meine Eltern sind erwachsen und können für sich selbst sorgen. Und Sonja kann uns ja in den Ferien besuchen. Ich muss das machen. Wusstest du, dass ich seit vielen Jahren heimlich von Selbstversorger-Höfen träume?"

"Oh, das ist mir neu. Du kommst also mit?"

"Ja, ich komme mit."

Jens fiel ein schwerer Stein vom Herzen. Er umarmte Johanna stürmisch und gab ihr einen dicken Kuss.

"Kennst du eigentlich die Selbstversorger-Bücher von Seymour? Die habe ich schon mit zehn immer wieder gelesen und von dem Hof geträumt, den ich aufbauen würde."

"Diese Bücher kenne ich bisher nicht, aber es klingt so, als wären die sehr interessant."

"Ja, ich sollte sie dir ausleihen. Oder nein, die werde ich jetzt bestimmt dringend selbst brauchen. Du solltest sie dir gleich morgen kaufen."

"Weisst du was? Wenn du mitkommst, könnten wir eigentlich auch heiraten, denn dann hängen wir sowieso auf Gedeih und Verderb zusammen. Vielleicht würde das auch deine Eltern besänftigen."

"War das jetzt etwa ein Heiratsantrag?"

"Äh - ja. Das war wohl zu unromantisch.", Jens kniete sich vor Johanna auf den Boden und fragte: "Johanna, willst du meine Frau werden?"

"Ja, ich will!", Johanna versuchte feierlich dreinzublicken, doch dann brach sie in Kichern aus.

"Oh, warte, ich bin doch ein alter Esel. Ich habe sogar etwas für dich.", Jens sprang auf und kramte in seinen Schubladen. Dann kam er zurück mit einem Ring, den er sich vor Jahren gekauft aber nie getragen hatte, denn der Ring war ihm zu klein und außerdem trug er sowieso nie Ringe.

"Ein Opal! Der ist ja wunderschön. Für mich?"

"Ja, für dich. Mein Verlobungsgeschenk.", Jens steckte ihr den Ring auf den Finger und er passte wie angegossen.

"Der Stein ist wirklich ganz besonders. Wie er schimmert - in allen Farben der Welt."

"Mir hat er auch so gut gefallen, darum habe ich ihn vor langer Zeit gekauft."

Johanna strahlte übers ganze Gesicht und warf sich Jens in die Arme. Dann hielt sie plötzlich inne und sagte: "Wir sollten es heute noch meinen Eltern sagen, sonst traue ich mich ihnen nicht unter die Augen."

"Heute noch?"

"Ja, es ist noch vor zehn und ich wüsste echt nicht, wie ich auch nur eine Stunde zu Hause verbringen könnte, ohne ihnen so entscheidene Neuigkeiten zu sagen. Ich würde bestimmt platzen! Bitte!"

"Ok, dann sollten wir das gleich in Angriff nehmen. Meldest du uns an?"

Jenseits des Ölgipfels

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Jenseits des Ölgipfels
Jenseits des Ölgipfels

268 Seiten
ISBN 3-933634-18-0

Preis: 16.90 Euro

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