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Jenseits des Ölgipfels

Kapitel 25


  
Beim Schneiden der Tomaten stellte sich Jens später ein grosses Gewächshaus vor, in dem die Tomaten bis zur Decke wuchsen, geheizt von mehreren Windrädern, die in schwindelerregender Höhe ihre Kreise zogen. Diese Vorstellung faszinierte ihn. Über Olivier und seine Bauern würde er bestimmt noch oft nachdenken, denn sie boten neue Perspektiven.

Oliviers Bemerkungen über den Power-Kaffee hatten Jens irritiert und er fragte sich, inwieweit die Äusserungen der Wahrheit entsprachen. Ähnliches hatte er selbst ja auch schon zur Verpflegung der Grundsicherungsempfänger gemutmaßt und dass der Kaffee besonders viel Schwung gab, war ihm auch bewusst gewesen. Aber die Art, wie Olivier darüber gesprochen hatte, ließ den Kaffee in einem anderen Licht erscheinen.

"Hast du eigentlich diesen Power-Kaffee gekauft?", fragte Jens, als Ricardo kurz in die Küche kam.

"Nein, ich dachte, das wäre Tina gewesen."

"Die wars auch nicht, denn sie dachte, du hättest ihn gekauft."

"Wer hat ihn den dann gekauft?"

"Ob Olivier vielleicht Recht hat mit der Bezeichnung Regierungszeug?"

"Klingt schon sehr nach Verschwörungstheorie. Aber der neue Kaffee ist sowieso besser; wir brauchen den Power-Kaffee ja einfach nicht mehr trinken, wenn er uns suspekt ist."

"Recht hast du."

Das Bistro war nur mäßig besucht, denn wahrscheinlich hatte es sich noch nicht herumgesprochen, dass es wieder geöffnet hatte. Am nächsten Tag war schon mehr los und Jens hatte sowieso gute Laune, weil er sich einen Nachmittag in seiner Werkstatt-Garage gegönnt hatte.

Weihnachten näherte sich mit Riesenschritten und Jens war gar nicht wohl bei dem Gedanken. Nur noch einen Tag lang Tote bergen und dann würde er mit Familie Trautmann eine freudlose heile Welt feiern. Die Geschenke hatte er inzwischen eingepackt, sie standen auf einer Kommode und blickten ihn drohend an. Am liebsten hätte er abgesagt, aber diese Blöße wollte er sich nicht geben.

Pünktlich um halb vier stand Jens frisch geduscht vor der Tür der Trautmanns. Der Wachtposten hatte ihn diesmal problemlos durchgelassen. Jens zögerte, zu klingeln, aber nach einem kurzen Moment gab er sich einen Ruck, denn zurück konnte er jetzt wohl kaum noch. Ob er heute wohl eine Entscheidung treffen musste?

Als hätte sie schon in den Startlöchern gestanden, öffnete Johanna in Windeseile die Tür. Sie drückte ihn kurz an sich und gab ihm einen Kuss auf den Mund. Jens fand, dass sie von Mal zu Mal bezaubernder aussah. Sie gingen ins Esszimmer, wo ein Adventskranz mit vier brennenden Kerzen auf dem Tisch prangte. Diesmal gab es nach einer höflichen Begrüssung Mohnkuchen, der Frau Trautmann sehr gut gelungen war. Mit den Gebeten am Anfang hatte Jens diesmal schon gerechnet, darum irritierten sie ihn nicht mehr.

Sonja wirkte sehr aufgeregt, bestimmt wegen der kommenden Geschenke, aber sie versuchte auch immer wieder, Jens in ein Gespräch zu verwickeln. Anscheinend war ein junger Mann etwas Seltenes in diesem Haus. Jens war sehr froh über Sonjas Geplapper, denn das lockerte die Stimmung deutlich auf und Jens fühlte sich im Gespräch mit ihr freier als mit ihren Eltern. Der strenge Blick, den Herr Trautmann Sonja immer zuwarf, wenn sie drohte, zu fröhlich zu werden, verhinderte jedoch eine unbeschwerte Unterhaltung mit Sonja, denn sie erbravte immer schlagartig, wenn die optische Rüge sie traf.

Die Perfektion im Hause Trautmann war Jens geradezu unheimlich. Jede Bewegung, die Herr oder Frau Trautmann machten, schien einem festgelegten Muster zu folgen, dem sie zu jeder Zeit treu ergeben waren. Das Messer zum Kuchenschneiden wurde nach Gebrauch exakt auf eine Serviette gelegt, die extra für diesen Zweck bereit lag, alle Kuchenstücke waren auf den Millimeter genau gleich gross, jede Kaffeetasse wurde genau bis zu einem bestimmten Punkt gefüllt, nicht zu hoch, damit keinerlei Gefahr des Überschwappens bestand und jedes Führen der Gabel zum Mund fand mit der Präzision eines Uhrwerkes statt.

Besonders erstaunlich fand Jens jedoch, wie Frau Trautmann es schaffte, beim Verteilen der großen Sahneportionen knausrig zu wirken. Jeder der üppig gefüllten Löffel schien beim zaghaften Positionieren auf dem Teller zu sagen: "Eigentlich wäre ich gar nicht so gross. Das ist alles nur Tarnung. Zuviel Sahne ist lasterhaft.". Dennoch landeten neben jedem Kuchenstück vier dieser Löffel, eine Menge, die auch für Jens nur mit Mühe zu bewältigen war.

Er war froh, als die Kaffeetafel aufgehoben wurde. Familie Trautmann strömte in den Hausflur und jeder griff nach seinem Mantel. Als Jens Johanna fragend ansah, sagte sie: "Jetzt gehen wir in die Kirche.". Jens brummte eine Antwort, die man als "alles klar" interpretieren konnte und nahm auch seine Jacke vom Kleiderbügel.

Draussen war es inzwischen dunkel geworden, doch die Straßenbeleuchtung, vereinzelte leuchtende Weihnachtsbäume in Gärten und geschmückte Fenster tauchten die Straße in ein warmes Licht. Nur wenige Menschen waren unterwegs, aber je näher sie der Kirche kamen, desto häufiger begegneten ihnen Leute, die alle dem Klang der Kirchenglocken zustrebten. Die Kirche war ein schmuckloses Gebäude mit einem überdimensionalen, asymetrischen Dach. Über dem Eingangstor war jedoch ein leuchtender Weihnachtsstern angebracht, um dem feierlichen Anlass gerecht zu werden.

Vor dem Betreten der Kirche musste jeder einen Mundschutz aufsetzen, was für Jens kein Problem war, weil er inzwischen immer eine Maske in seiner Jackentasche dabeihatte. Drinnen angekommen, fiel ihm sofort ein hoher Weihnachtsbaum mit elektrischen Kerzen ins Auge, der neben dem Altar stand. Die schlichten Holzbänke nahm Jens erst anschließend wahr. Johanna drückte ihm ein kleines Buch in die Hand und flüsterte ihm "Gesangbuch" ins Ohr. Dann nahmen sie in einer der Sitzreihen Platz und warteten, bis der Gottesdienst losging.

Jens fand die Umgebung und Stimmung sehr befremdlich, doch das wunderte ihn nicht, weil er Gottesdienste nur aus dem Fernsehen kannte. Dass die Trautmanns zu Weihnachten in die Kirche gehen würde, hätte er sich eigentlich denken können, aber die Gewohnheiten von religiösen Leuten waren ihm so fremd, dass er nicht auf die Idee gekommen war. Immerhin war der riesige Raum beheizt, sodass keiner frieren musste. Dadurch war die Atmosphäre wenigstens nicht frostig.

Langsam füllten sich die Reihen und vereinzeltes Husten mischte sich mit dem allgegenwärtigen Geflüster, das erst verebbte, als die Tür mit einem schabenden Geräusch geschlossen wurde. Der kurze Moment der Stille wurde von einer getragenen Orgelmelodie abgelöst. Beim Altar hatte sich inzwischen ein Pastor eingefunden, der schon in seiner Eröffnungsrede von schweren Zeiten und neuer Hoffnung durch Christi Geburt sprach.

Neben Johanna zu sitzen war der einzige Lichtblick für Jens in dieser ernsthaften Gesellschaft. Sonja saß auf seiner anderen Seite und zappelte unruhig auf der harten Bank, von strengen mütterlichen Blicken immer wieder zur Ruhe gemahnt. Als nächstes blätterten alle in den Gesangbüchern und sangen ein Weihnachtslied, das durch die langsame Geschwindigkeit, in der es gesungen wurde, kaum wieder zu erkennen war. Jede Silbe tropfte zäh und unentschlossen aus der Orgel und manche der Gemeindemitglieder hinkten dem noch hinterher, wodurch das Lied zu einem Brei verschwamm. Eigentlich ging es im Lied darum, dass das Herz fröhlich springen sollte, aber Jens empfand es eher als schleppenden Trott.

Ein Chor trat auf und sang etwas erträglicher als die Gemeinde, danach kam der Pastor wieder zu Wort. Was er zu sagen hatte, klang in Jens Ohren eigentlich ganz vernünftig und man konnte spüren, wieviel Mühe er darauf verwandt hatte, möglichst viel Zuversicht in seine Sätze einfließen zu lassen. Die salbungsvolle Sprechweise wirkte jedoch einschläfernd auf Jens, der allmählich in einen Tagtraum abdriftete. Ein weiteres Lied der Gemeinde schreckte ihn wieder auf, aber eher durch die Lautstärke, als durch den Schwung.

Unterdrücktes Kichern kündigte einen Kinderchor an, der sich nur mühsam formierte. Als endlich alle an der vorgesehenen Stelle standen, sangen sie: "Am Tannenbaum die Lichter brennen".

Plötzlich erlosch die Christbaumbeleuchtung und die Kirche lag im Dunkeln. Einige hohe Stimmen kreischten auf; das Lied endete abrupt. Nur zwei Kerzen auf dem Altar spendeten noch Licht. Ihre Flammen schnitten tiefe Schatten in das Relief des toten Jesus am Kreuz, der sich dadurch zu bewegen schien. Unheimlich.

Der Pastor rief: "Lasst uns beten.", und stimmte ein Vaterunser an. Die Gemeinde folgte ihm willig und schnell war die Ruhe wieder hergestellt. Anschließend tuschelte der Betreuer der Kinder mit seinen Anbefohlenen und verteilte Kerzen mit Papphaltern an jedes der Kinder. Als alle Kerzen angezündet waren, wirkte das Licht schon wieder heimeliger. Die Kinder verteilten sich in der ganzen Kirche, sodass überall wenigstens ein kleiner Lichtschimmer zu sehen war. Die kleine Kerzenprozession wirkte fast wie einstudiert.

Obwohl man viele beunruhigte Gesichter sehen konnte, ging der Gottesdienst weiter, als wäre nichts geschehen. Stromausfälle waren schließlich auch nichts besonderes mehr, aber man sah den Menschen an, dass sie sich ein Weihnachten ohne Stromausfälle und Katastrophen gewünscht hatten. Allmählich wurde es deutlich kühler, aber die Nähe von Johanna und Sonja sorgte für eine ausreichende Grundwärme.

Irgendwann war der Gottesdienst zu Ende und die Gemeinde strebte dem Ausgang zu, der von vier Kerzenkindern beleuchtet wurde. Draussen erwartete sie kein weihnachtlicher Glanz, sondern tiefe Dunkelheit. Der Himmel war bedeckt, sodass man nicht mal Sternenlicht sehen konnte. Einige Wohnungsfenster leuchteten zwar schwach flackernd, aber das reichte nur aus, um erkennen zu können, wo Häuser standen. Jens holte seine kleine Taschenlampe aus der Jacke und schaltete sie ein, was den Trautmanns beruhigtes Gemurmel entlockte.

Im Schein der Taschenlampe gingen sie langsam nach Hause.

"Wie gut, dass die Kinder sowieso eine Szene mit Kerzen darstellen sollten. Dadurch hat das doch ganz gut geklappt, nicht wahr?", sagte Johanna zu Jens.

"Stimmt, nach dem ersten Gewusel wirkte es fast professionell."

"Wie hats dir denn gefallen?"

"Etwas ungewohnt, aber sie bieten wenigstens ein abwechslungsreiches Programm, das einen immer wieder aufweckt."

In den Augenwinkeln sah Jens, wie das Gesicht von Herrn Trautmann kurz zur Maske erstarrte.

"Mir hat die Predigt sehr gut gefallen. Hat genau zur Situation gepasst.", fuhr Johanna unbeeindruckt fort. Vermutlich hatte sie das Missfallen ihres Vaters nicht wahrgenommen.

"Die Predigt, war das, als der Pastor ziemlich lange am Stück geredet hat?"

"Ja, als er ausführlich über die schwierige Situation der Welt und die Hoffnung gesprochen hat."

"Das klang recht gut durchdacht. Und wenn man in Notzeiten einen Strohhalm zum Anklammern hat, ist das ja auch sehr praktisch. Auf jeden Fall besser, als verzweifeln und sich in das tiefe Loch fallen zu lassen."

Johanna nickte, und den Rest des Weges schwiegen sie. Bei den Trautmanns angekommen, wurden schnell der Adventskranz und alle vorhandenen Kerzen im Esszimmer entzündet. Frau Trautmann sagte: "Aus dem Karpfen wird wohl nichts, wenn der Strom nicht bald wiederkommt.".

"Das macht nichts. Dann essen wir einfach Kekse.", freute sich Sonja.

"Na gut, dann essen wir eben Kekse zu Abend. Schließlich ist heute Weihnachten. Ich kann aber auch belegte Schnitten machen."

"Belegte Schnitten wären später bestimmt ganz sinnvoll.", mischte Herr Trautmann sich ein. "Jetzt sollten wir uns auf die Bescherung vorbereiten."

Herr Trautmann verschwand im Wohnzimmer. Jens holte seinen Rucksack aus dem Windfang und schaute Johanna fragend an.

"Jetzt müssen wir etwa eine halbe Stunde warten, in der wir hoch gehen können. Aber Sonja sollten wir mitnehmen, damit sie vor Ungeduld nicht umkommt."

Zu dritt sassen sie dann in Johannas schwach beleuchtetem Zimmer und Sonja diskutierte eifrig den Stromausfall in der Kirche. Jens war das ganz lieb, denn er hätte sowieso nicht gewusst, worüber er sprechen sollte. Nebenher dachte er an Olivier und seine Bauern. Die saßen bestimmt nicht im Dunkeln, so gut ausgerüstet, wie sie waren.

Nach einer Weile schickte Johanna Sonja zum Flöte holen in ihr Zimmer. Sie selbst holte eine ziemlich grosse Flöte aus einem Kasten und steckte sie zusammen.

"Hausmusik.", sagte sie, als Jens sie fragend anblickte.

Kurz darauf klingelte ein Glöckchen und Sonja wurde ganz hibbelig. Johanna nahm sie an der Hand und gemessenen Schrittes gingen die Drei die Treppe herunter zum Wohnzimmer, dessen Tür jetzt offen stand. Ein Weihnachtsbaum mit hunderten von echten Kerzen tauchte das Zimmer in wahrhaft feierliches Licht.

Im Gegensatz zu den lamettaüberhängten Weihnachtsbäumen, die in allen Farben ihren Kitsch versprühten, fand Jens diesen Weihnachtsbaum ästhetisch. Lametta fehlte völlig, stattdessen gab es viel selbstgebastelten Schmuck in den Farben rot und strohgold. Zusammen mit den honigfarbenen Kerzen und deren lebendige Flammen wirkte der Baum einfach schön. Dafür hatte sich das Warten gelohnt.

Herr Trautmann setzte sich auf einen der Sessel und bedeutete Jens, seinem Beispiel zu folgen. Frau Trautmann setzte sich an ein Klavier und die beiden Töchter stellten sich vor dem Weihnachtsbaum auf. Sonja hatte eine Flöte, die genau passend zu ihrer Körpergrösse kleiner war, als die von Johanna. Die Mutter zählte kurz bis drei, dann fing das erste Weihnachtslied an, von Frau Trautmanns glockenhellem Sopran gesungen, Sonja spielte die Melodie und Johanna eine zweite Stimme. Das Klavier gab den zarten Flötentönen etwas Fülle.

Nach dem dritten Lied stand Herr Traumtmann auf und nickte Jens zu, der das als Aufforderung verstand, seinerseits aufzustehen. Diesmal wurde "Oh, du Fröhliche" gesungen und auch Herr Traumtann stimmte in den Gesang mit ein. Jens verstand, dass dies wohl der Höhepunkt des Konzertes mit gemeinsamem Singen war, und brummte die Melodie mit, denn den Text hatte er vergessen.

Mit kaum verhohlener Hast legte Sonja anschließend ihre Flöte zur Seite und kniete sich vor den Weihnachtsbaum, unter dem die Geschenke lagen. Nachdem der Vater mit einem Blick seine Erlaubnis erteilt hatte, griff sie nach dem ersten Paket, auf dem "Sonja" stand.

Jetzt war offensichtlich der Moment gekommen, um die Geschenke zu verteilen. Jens fischte seine Päckchen aus dem Rucksack, ärgerte sich etwas darüber, wie zerknittert die Verpackung teilweise aussah und stellte die Pakete auf den Couchtisch. Wie übergab man die jetzt, ohne ins Fettnäpfchen zu treten? "Ladies first", fiel Jens ein, daher nahm er erst die Pralinen und gab sie Frau Trautmann.

"Für Sie!", sagte er, "Ich hoffe, Sie können etwas damit anfangen.". Die Bemerkungen "Ich wusste nicht, was Ihnen gefällt." und "Es ist nur eine Kleinigkeit." verkniff er sich, denn obwohl er so dachte, hielt er solche Sätze für hohle Phrasen.

Die Flasche Wein überreichte Jens Herrn Trautmann und dann ging er zu Sonja, um ihr das Päckchen mit dem Pony zu geben. Sonja ließ sofort von der Betrachtung ihres neuen Gesellschaftsspiels ab und stürzte sich auf Jens Geschenk. Man sah ihr an, dass sie am liebsten die Verpackung zerfetzt hätte, so eilig war es ihr, zu sehen, was Jens ihr mitgebracht hatte. Stattdessen entfernte sie umsichtig die Tesafilm-Streifen, warf das so sorgsam bewahrte Geschenkpapier dann aber achtlos zur Seite. Beim Anblick des rosafarbenen Kämmponies brach sie in lautes Triumphgeheul aus, das den Tannenbaum zum Zittern brachte. Beim Jubeln sprang sie hoch in die Luft, dann fiel sie Jens um den Hals und bedeckte ihn mit Küssen. Trotz der lautstarken Freudenäusserungen hörte Jens deutlich, wie die Eltern die Luft anhielten und erst nach längerer Zeit wieder vorsichtig ausatmeten. Aber Sonjas Herz hatte er wohl ein für alle Mal erobert.

Inzwischen hatte auch Frau Trautmann ihre Pralinen ausgepackt und bedankte sich höflich bei Jens. Man konnte ihrer Nasenspitze ansehen, dass es ihr mit den Pralinen ging, wie vorher mit der Sahne. Aber sie überwand ihre Skrupel, öffnete die Packung, fischte mit spitzen Fingern eine Praline raus und bot die Schachtel allen anderen an. Auch Herr Trautmann bedankte sich höflich und stellte die Flasche Rotwein auf den Couchtisch.

Bei der Übergabe seines Geschenkes an Johanna konnte Jens sich ein "ich wusste nicht, was dir gefällt." nicht verkneifen, denn bei Johanna lag ihm etwas daran, dass sie sein Geschenk nicht nur höflich entgegennahm und er war sich sehr unsicher, ob er ihren Geschmack getroffen hatte. Ihre Augen leuchteten jedoch auf, als sie in dem geschenkten Buch blätterte.

"Das hast du sehr gut getroffen. Ich lese sehr gerne Märchen und Wintermärchen passen ja besonders gut. Und die schönen Bilder auf jeder Seite sind wunderbar."

Ein dicker Kuss landete auf Jens Backe. Dann gab Johanna auch ihm ein Geschenk, das sich als Schal entpuppte, der genau zu Jens neuem Pullover passte, den Jens zur Feier des Tages natürlich angezogen hatte. Jens wickelte sich den Schal um den Hals und küsste zurück.

Dann kam Sonja schon aufgeregt angesprungen, um Jens zu beschenken. Sie hatte ihm zwei Topflappen gehäkelt, die farblich auf Schal und Pullover abgestimmt waren, aber aus anderem Material bestanden. Jens lobte sie für ihre fleissige Arbeit und erklärte, dass er die Topflappen beim Kochen sehr gut gebrauchen können würde, was der Wahrheit entsprach.

Herr Trautmann übergab Jens ein flaches Päckchen in CD-Größe und sagte: "Von uns beiden.". Jens dankte ihm höflich und entpackte das Geschenk. Es war ein Weltatlas in der neuesten Version mit vielen Film- und Fotobeiträgen aus allen Ländern der Erde.

"Danke! Das gefällt mir wirklich sehr gut, denn ich habe nur eine uralte Atlas-Version und einen Atlas kann man immer gut gebrauchen."

Weitere familieninterne Geschenke wurden ausgetauscht und nach einer Weile verschwand Frau Trautmann in der Küche, um sich den Schnitten zu widmen. Jens ließ sich unterdessen ein paar der selbstgebackenen Kekse schmecken, nachdem der grosse Keksteller freigegeben worden war. Bei den Keksen hatte Frau Trautmann wieder einmal ihr Backtalent bewiesen. Als Jens sich einen mit Zuckerguss verzierten Keks nahm, kam Sonja auf ihn zu und erklärte stolz, dass sie die ganzen Verzierungen selbst gemacht hatte. Auch bei den anderen Keksen hatte sie mitgeholfen, wie sie berichtete. Jens nickte anerkennend mit vollem Mund, woraufhin sie sich wieder dem Kämmen ihres Ponies widmete.

Jens setzte sich neben Johanna, die in dem Märchenbuch blätterte. Es schien ihr tatsächlich zu gefallen. Obwohl er so dicht neben ihr saß, fühlte er sich viel weiter von ihr weg, als wenn sie in seiner Wohnung auf einem anderen Sessel saß. Das lag bestimmt an dem feierlichen Anlass und der familiären Beobachtung.

Bald rief Frau Trautmann sie zum Essen und stellte eine Platte mit festlich belegten Broten auf den Tisch im Esszimmer. Herr Trautmann löschte einen Teil der Weihnachtsbaumkerzen und ließ die Tür zum Wohnzimmer offen, wohl um einen Blick auf die weiterhin brennenden Kerzen werfen zu können. Nach einem kurzen Gebet langten alle herzhaft zu.

"Möchten Sie einen Cognac?", fragte Herr Trautmann Jens, nachdem der Hunger gestillt war.

"Ja, gerne."

"In meinem Arbeitszimmer."

Herr Trautmann stand auf und ging voran ins Arbeitszimmer. Jens folgte ihm und dachte sich, dass jetzt wohl der offizielle Teil des Abends dran kam. Das Arbeitszimmer war ein Muster an Aufgeräumtheit und wenn die Bücher nicht so echt gewirkt hätten, hätte es sich gut als Vorlage für einen Möbelkatalog geeignet. Der Cognac roch sehr edel und schmeckte auch so, sodass Jens sich nicht wunderte, als Herr Trautmann von den Vorzügen seines Anbaugebietes sprach.

"Wie stehen Sie eigentlich zu meiner Tochter Johanna?", fragte Herr Trautmann, sobald sie ein paar Schlucke getrunken hatten.

"Wir sind befreundet. Ob mehr daraus entsteht, wird die Zeit zeigen. Auf jeden Fall ist Johanna eine tolle Frau."

"So sehe ich das auch", Jens glaubte eine Spur Vaterstolz bei Herr Trautmann durchzuspüren.

"Sind Sie eigentlich Christ?", folgte die nächste Frage. Herr Trautmann hielt sich wohl nicht gerne lange mit Smalltalk auf.

"Wenn Sie wissen wollen, ob ich getauft bin, dann lautet die Antwort: Ja. Aber ansonsten weiss ich das nicht so recht. Ich bemühe mich, ein anständiger Mensch zu sein."

"Nun ja, lieber das Herz auf dem rechten Fleck, als ein frommer Heuchler."

Eigentlich war Herr Trautmann gar nicht so übel, dachte Jens. Auf jeden Fall war er kein Unmensch und ein fanatischer Christ schien er auch nicht zu sein, sonst säße Jens wohl nicht in seinem Arbeitszimmer.

"Meine Tochter hat Ihnen erzählt, dass ich möglicherweise eine Arbeitsstelle für Sie hätte. Haben Sie darüber nachgedacht?"

"Ja, ich habe viel darüber nachgedacht, aber ich bin noch zu keinem Entschluss gekommen."

"Was hält Sie ab?"

"Meine aktuellen Jobs sind eigentlich gar nicht so schlecht, auch wenn sie nicht meiner Qualifikation entsprechen. Ob mir das Insolvenzgeschäft liegt, kann ich noch nicht beurteilen und die Verquickung mit dem Privaten macht die Entscheidung nicht leichter."

"Sie meinen, wegen Johanna? Das kann ich nachvollziehen. Wir brauchen aber auch Computerfachleute unabhängig von ihrer Freundschaft mit Johanna."

"Das hat Johanna auch schon gesagt."

"Wie wäre es mit einer dreimonatigen Probezeit, in der Sie jederzeit kündigen könen? Dann können Sie feststellen, ob Ihnen die Arbeit liegt."

"Ich sollte es wohl wenigstens probieren. Gut, mit einer Probezeit bin ich einverstanden."

"Sehr gut, dann können Sie am zweiten Januar zu mir ins Büro kommen. Dort besprechen wir dann alles Weitere."

Herr Trautmann schenkte eine weitere Runde Cognac ein und hob sein Glas zu einem symbolischen Anstoss in der Luft. Jens grüsste zurück und schweigend tranken sie den edlen Tropfen. Anschließend durfte er noch für eine Weile mit Johanna in ihr Zimmer gehen. Sonja war inzwischen ins Bett gebracht worden.

Kaum hatte sich Johannas Zimmertür geschlossen fragte sie: "Und?".

"Ja, ich habe mich auf eine Probezeit eingelassen."

"Wunderbar, das freut mich", sie nutzte die Gelegenheit, um Jens freudig zu umarmen.

Jenseits des Ölgipfels

Peak Oil
von Jeremy Leggett

Peakoil Reloaded
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Jenseits des Ölgipfels
Jenseits des Ölgipfels

268 Seiten
ISBN 3-933634-18-0

Preis: 16.90 Euro

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