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Jenseits des Ölgipfels

Kapitel 21


  
Am nächsten Morgen konnte Jens die Augen kaum öffnen. Nur ein schmaler Schlitz war bereit, aufzugehen, und der auch nur mit Mühe. Er ging, mehr tastend als sehend, ins Bad und sah einen völlig Fremden im Spiegel. Die Augen waren so dick zugeschwollen, dass er aussah wie ein Chinese und seine Gesichtsfarbe schwankte zwischen lila und blau mit einigen rosa Inseln. Mit kaltem Wasser versuchte er seine Augen zu kühlen, doch das brachte in der kurzen Zeit kaum etwas.

Hatte er nicht noch einen Kühlakku im Kühlschrank? Er ging in die Küche und tatsächlich fand er im Eisfach einen Kühlakku, der schon lange auf seinen Einsatz wartete, was man an der dicken Eisschicht drumherum deutlich erkennen konnte. Im letzten Sommer hatte Jens leider kaum Gelegenheit für Picknicks gehabt. Hauptsache der Akku war kalt und blieb auch eine Weile so. Jens hielt sich den Akku abwechselnd an die Augen während er sich mehr oder weniger einhändig anzog.

Kaum war er fertig angezogen, klingelte es auch schon und Achim stand in der Tür. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er Jens ins Gesicht schaute.

Inzwischen war Jens gar nicht mehr so überzeugt davon, dass es eine gute Idee gewesen war, den Plünderer zu verfolgen. In der späteren Anerkennung hatte er sich zwar gesonnt, aber insgesamt hatten sie viel Zeit verloren und jetzt konnte er nur mit Mühe seine Augen offenhalten. Damit wenigstens das bald wieder besser ging, nahm er den Kühlakku mit zur Arbeit und drückte ihn während der Fahrt immer wieder auf seine Augen.

Herr Lorenz hatte zwei weitere Entrümplungsteams organisiert, sodass sie selber keine Entrümplungsrunden mehr einlegen mussten. Ohne Plünderer hätten sie mit sieben Teams Leichen bergen können, dann wären in weniger als einem Tag soviele Tote versorgt, wie Jens und Achim in einer Woche schaffen konnten. Es schien grotesk, wieviel Schaden ein paar Plünderer anrichten konnten. Was wäre geschehen, wenn Frau Wagner eine Woche länger hätte warten müssen?

Bis zum Abend hatten sie immerhin wieder die gewünschte Anzahl Tote geborgen und zum Friedhof überführt. Auch an den folgenden Tagen kamen sie gut voran.

Am Samstag war Jens heilfroh, frei zu haben und sich ausruhen zu dürfen. Der Leichenjob war nicht nur körperlich anstrengend, sondern zerrte auch am Nervenkostüm, trotz der täglichen Beerdigungsrituale, die tatsächlich halfen, die Arbeit auszuhalten.

Jens hatte es sich gerade auf dem Sofa bequem gemacht und dämmerte einem Nickerchen entgegen, als das Telefon klingelte.

"Hallo, hier ist Johanna. Wäre es ok, wenn ich vorbeikomme?"

"Hallo Johanna. Zur Zeit bin ich eigentlich nicht anguckbar für junge Damen."

"Oh, was ist dir denn passiert?"

"Nix Besonders, ich hab mich nur mit einem Plünderer geprügelt, und der hat mein Gesicht grün und blau geschlagen."

"Oh je, du Ärmster. Das stört mich gar nicht, wenn du optisch nicht auf der Höhe bist. Ich hab eine gute Heparinsalbe da, die hilft beim Abschwellen. Bis gleich?"

"Ok, dann bis gleich."

Jens sprang schnell unter die Dusche und räumte anschließend ein bisschen auf. Er fühlte sich innerlich gar nicht bereit für einen Besuch von Johanna. Was sollte er ihr sagen? Denn von einer Entscheidung war er meilenweit entfernt. Und wie er aussah? Das konnte man doch keiner hübschen jungen Frau zumuten.

Schon nach kurzer Zeit klingelte es und Johanna stand pizzabeladen in der Tür. Die Pizza duftete so lecker und die junge Frau lächelte so erfrischend, dass Jens seine Zweifel beiseite schob und Johanna herzlich begrüsste.

Während sie die Pizza aßen, unterhielten sie sich über unverfängliche Themen, wie die Ereignisse der Woche. Nachdem der erste Hunger gestillt war, zog Johanna eine Tube aus ihrer voluminösen Handtasche. Die Tube enthielt ein durchsichtiges Gel, das Johanna mit zarten Strichen auf seinem geschwollenen Gesicht verteilte. Das Gel kühlte sofort, was sich sehr angenehm anfühlte.

"Der Plünderer hat ja ordentlich auf dich eingedroschen. Hast du ihn erwischt?"

"Ja, wenigstens das. Ich hab ihn halt mit beiden Armen festgehalten, darum hatte er freie Hand für die Schläge. Aber jetzt sitzt er."

"Sehr gut. Ich habe das mit den Plünderern im Fersehen gesehen. Das ist ja echt schrecklich, dass die das ganze Unheil noch verschlimmern. Als wären die Zustände nicht schon schlimm genug."

"Ja wirklich. Die Menschheit ist schon erschreckend ungezähmt."

"Schau mal, hier hab ich was für dich gemacht."

Johanna hatte die Tube wieder verstaut und zog etwas Dunkelblaues aus ihrer Tasche. Das flauschige Knäuel entfaltete sich zu einem Pullover, den sie voller Stolz hochhielt, sodass er ihn sehen konnte. Dann hielt sie ihn ihm vor die Brust und seufzte: "Passt wahrscheinlich. Probier doch mal an!".

Jens wusste gar nicht so recht, wie ihm geschah, aber er folgte widerstandslos ihren Worten und schlüpfte in den Pullover, der wie angegossen passte. Die Wolle war besonders weich, obwohl sie gar keine langen Haare hatte, sondern eher sachlich aussah. Jens strich sich über Arme und Bauch und konnte kaum genug kriegen von dem weichen Kuschelgefühl.

"Steh mal auf", wies Johanna ihn an.

Folgsam stand er auf und zupfte an dem Pullover, bis er perfekt saß. Johanna nickte sehr zufrieden. Jens betrachtete die Details des Pullis. Er war mit einem Zopfmuster gestrickt und hatte einen offenen Kragen, dessen Enden locker auf die Schultern fielen. Obwohl er so weich war, wirkte der Pulli sportlich und männlich. So einen schönen Pulli hatte Jens noch nie besessen. Was hatte sie gesagt? Sie hatte ihn gemacht? Das war anscheinend kein abgelegter Pullover von ihrem Vater, dazu fühlte er sich auch zu neu an.

"Du hast ihn selbst gemacht?"

"Ja, ich habe ihn gestrickt?"

"Für mich?"

"Extra für dich. Darum passt er ja auch so gut."

"Aber das ist doch irre viel Arbeit."

"Eine Weile sitzt man da schon dran, aber in den letzten Wochen hatte ich auch viel Zeit."

"Ich bin sprachlos. Aber warum denn für mich und nicht für dich oder deine Familie?"

"Uns habe ich alle schon bestrickt und ich hatte Langeweile. Und es hat mir Freude bereitet, dir etwas zu stricken", dabei stahl sich ein Glitzern in ihre Augen.

Jens war ganz verlegen und wusste nicht so recht, wie er mit der Situation umgehen sollte. Noch nie hatte jemand ihm einen Pulli gestrickt. Er hobe die Arme und drehte sich im Kreis, als ob er dann den Pullover von allen Seiten betrachten könne. Dann ging er auf Johanna zu und drückte sie an sich, "Vielen Dank" sagend.

Er setzte sich wieder und studierte das Zopfmuster, das den Ärmel entlang lief.

"Sowas ist doch bestimmt sehr kompliziert zu stricken."

"Für Anfänger ist das nichts, aber ich kann es inzwischen fast mit geschlossenen Augen."

Bestimmt wäre Johanna eine sehr geeignete Ehefrau, so geschickt, wie sie war. Jens fand es äußerst merkwürdig, bei einer Frau, die er noch nicht einmal geküsste hatte, über ihre Qualitäten als Ehefrau nachzudenken. Aber er wollte sie nicht küssen, solange wahrscheinlich war, dass er ihr Angebot ablehnen würde, denn das wäre gemein gewesen.

"Wahrscheinlich bist du noch am Nachdenken, was das Jobangebot meines Vaters angeht.", traf Johanna fast genau das Thema, über das Jens sich gerade Gedanken machte.

"Ja, das ist richtig. Nachgedacht habe ich schon viel, aber ich bin einer Entscheidung noch keinen Millimeter näher gekommen."

"Wo liegt denn das Hauptproblem? Weil meine Eltern so spießig sind?"

"Spießig nicht unbedingt. Damit verbinde ich kleinbürgerlichen Geist. Vielleicht eher steif oder wohlerzogen."

Johanna kicherte. "Wohlerzogen klingt lustig in dem Zusammenhang. Du bist doch eigentlich auch sehr wohlerzogen."

"Na ja, vielleicht benehme ich mich nicht grob daneben. Aber würde sich dein Vater von einem Plünderer grün und blau schlagen lassen?"

"In jungen Jahren wahrscheinlich schon, wenn es um eine gerechte Sache gegangen wäre. Und ein bisschen davon steckt bestimmt noch in ihm, denn kürzlich hat er sich mit seinem Chef angelegt, weil dieser eine Firma verramschen wollte und mein Vater die Firma für sanierungsfähig hielt."

"Hm."

"Mir geht das steife Getue auch oft auf den Wecker. Bestimmt steckt davon auch ein guter Teil in mir, weil ich damit aufgewachsen bin. Ich wünsche mir aber oft, dass es lockerer bei uns wäre. Darum freue ich mich auch schon darauf, eines Tages das Gartenhaus zu beziehen."

"Bei uns war es lockerer.", entfuhr es Jens und schon in dem Moment, als er es ausgesprochen hatte, fand er die Bemerkung völlig unpassend.

Doch Johanna schien sich nicht daran zu stören: "Das kann ich mir gut vorstellen. Ich glaube, ich hätte deine Eltern gerne kennengelernt."

Jens wusste nichts darauf zu sagen. Stattdessen streckte er sich zu seiner Musikanlage und schaltete sie ein. Johanna begann im Takt zur Musik mit den Knien zu wippen. Seinen Eltern hätte eine Frau wie Johanna bestimmt sehr gut als Schwiegertochter gefallen. Aber er wollte noch nicht heiraten.

"Oder hast du Angst, dass du mich gleich heiraten musst, wenn du den Job annimmst?", traf Johanna mal wieder ins Schwarze.

"So ähnlich. Ich fühle mich noch gar nicht bereit zum Heiraten."

"Sollst du ja auch gar nicht. Zumindest nicht überstürzt. In solchen Zeiten sollte man zwar vielleicht pragmatischer sein, als in guten Zeiten, aber unüberlegt zu heiraten ist unvernünftig."

"Aber es geht im Endeffekt ums Heiraten, oder?"

"Wenn du und ich das wollen, warum nicht? Aber das hat keine Eile. Auch das Jobangebot hat keine Eile, denn jetzt kommen sowieso erst mal die Feiertage. Da wird erst im nächsten Jahr über neue Mitarbeiter nachgedacht."

"Dann hab ich ja noch Zeit zum Nachdenken.", sagte Jens und lächelte dabei etwas gequält.

"Und auch wenn du den Job annimmst, ist das noch lange keine Heiratsverpflichtung, denn die brauchen dort ja wirklich jemanden für die Computer und es ist sehr schwierig, leistungsbereite junge Leute zu finden, die sich mit den ganzen Tücken auskennen. Man glaubt es kaum, wo doch soviel über die grassierende Arbeitslosigkeit geklagt wird. Aber es ist tatsächlich fast unmöglich, jemand zu finden, der bereit ist, anzupacken."

"Merkwürdig; das finde ich auch. Aber ich kann das durchaus nachvollziehen. Meine ehemaligen Studienkollegen fühlen sich in ihrem rundumversorgten Containerleben anscheinend wohler als beim harten Kampf ums Überleben. Und so ganz fremd ist mir der Gedanke auch nicht. Manchmal frage ich mich auch, warum ich mich so abrackere."

"Das fragt sich bestimmt jeder ab und zu mal."

"Ja, stimmt. Das gehört wohl dazu."

"Aber oft arbeitest du doch auch ganz gerne, oder?"

"Ja, klar, meistens schon ganz gerne."

"Mal was anderes: Weihnachten hast du bestimmt noch nichts vor?"

"Ja. Ich hab noch nichts vor."

"Hast du denn Lust, uns Weihnachten zu besuchen?"

"Ja, ähem, Weihnachten? Bei euch? - Warum eigentlich nicht? Ich hab ja sowieso noch nichts anderes vor."

"Prima, da freue ich mich. Am besten wäre es, wenn du um halb vier kommst. Dann haben wir in Ruhe Zeit für alles."

"Halb vier lässt sich wohl machen."

"Ich glaube, ich sollte mal wieder los, bevor es dunkel wird."

"Oh ja, da habe ich ja gar nicht drauf geachtet. Kommst du denn sicher heim?"

"Ja, ich bin nämlich mit dem Fahrrad da und das geht ja eigentlich recht flott, wie du ja auch schon weisst."

"Stimmt, mit dem Fahrrad kommt man ganz gut voran, seit die Straßen leerer sind."

Johanna erhob sich vom Sofa und sammelte ihre Sachen ein. Diesmal drückte sie Jens schon fast wie selbstverständlich an sich und anschließend gab sie ihm einen kurzen Kuss auf den Mund, bevor Jens auch nur wusste, wie ihm geschah. Der Kuss schmeckte gut und Jens hätte am liebsten mehr davon gekostet, aber auf der anderen Seite war dieser kleine Kuss schon mehr als genug.

Schon war Johanna aus der Tür und winkte ihm zum Abschied zu, während sie die Treppenstufen runterstieg.

Jens ließ sich auf sein Sofa fallen und schüttelte den Kopf. Was war da eigentlich vor sich gegangen? Ohne richtig zu wissen, was er tat, hatte er zugesagt, Weihnachten mit den Trautmanns zu verbringen. Und als er seinen Verstand eingeschaltet hatte, war es zu spät gewesen, um einen Rückzieher zu machen. Da hatte ihn diese Johanna ganz schön eingewickelt. Im wahrsten Sinn des Wortes, wie ihm bei einem Blick auf seine bezopften Ärmel klarwurde.

Den Pulli wollte er am liebsten gar nicht mehr ausziehen, so angenehm fühlte er sich an, aber genau das war irgendwie auch das Problem mit dem Pullover. So ein Geschenk konnte man einfach nicht ablehnen ohne grob verletzend zu sein, aber wenn man es annahm, bildete es eine starke Verbindung zwischen Schenkender und Beschenktem.

Irgendwie hatte Johanna einen Zauber über ihn geworfen. Der Pulli roch nach ihr und Jens kuschelte sich hinein mit der Vorstellung im Kopf, wie er ihr durch die Haare fuhr.

Sie bot ihm eine Sicherheit, die er nicht mehr gekannt hatte, seit er von zu Hause ausgezogen war. Aber diese Sicherheit forderte die Freiheit, die er jetzt genoss. War er bereit, seine Freiheit aufzugeben?

Jenseits des Ölgipfels

Peak Oil
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Peakoil Reloaded
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Jenseits des Ölgipfels
Jenseits des Ölgipfels

268 Seiten
ISBN 3-933634-18-0

Preis: 16.90 Euro

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