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Jenseits des Ölgipfels

Kapitel 20


  
Den ganzen Sonntag über verfolgten Jens die Gedanken über Johanna und das Angebot ihres Vaters. Auch das Fernsehprogramm konnte ihn nicht richtig ablenken. Nur die Tatsache, dass bald Weihnachten war, prägte sich ihm ein, denn er war sehr überrascht, als es ihm klar wurde. Vor lauter Krise und Epidemie hatte er das Fortschreiten des Jahres völlig übersehen. Im Fernsehstudio brannten demonstrativ zwei Kerzen, also musste heute der zweite Advent sein. Dunkel erinnerte er sich, dass bei den Trautmanns eine Kerze in einem Kranz gebrannt hatte, aber das war ihm bei all den anderen Eindrücken nicht weiter aufgefallen.

Die Nachrichten waren jedoch wenig weihnachtlich, denn noch immer wütete die Grippe weltweit und forderte Millionen von Menschenleben. Das war jedoch keine Neuigkeit und daher zog Johanna in ihrem Kuschelpulli durch seinen Kopf. Die Tatsache, dass sie volljährig war, bewirkte, dass Jens sich fühlte, als hätte er sie neu kennengelernt. Sein inneres Anstandsmodul, das ihm verbot, sich an zu junge Mädchen ranzumachen, funktionierte wohl ausgesprochen gut. Aber dass sie ihm jetzt gleich als Ehefrau angeboten wurde, ließ ihn auch zurückschrecken. Eines war auf jeden Fall klar: Für ein nettes unverbindliches Abenteuer war sie nicht zu haben. Bisher war er noch nie auf die Idee gekommen zu heiraten. Seine Freundinnen hatten ihn damit auch glücklicherweise verschont. Johanna hatte zwar auch nicht gesagt "heirate mich", aber das Thema hing eindeutig in der Luft.

Johanna war aber eigentlich gar nicht das Problem, denn obwohl er sie nicht gleich heiraten wollte, käme sie als feste Freundin durchaus in Frage. Das Problem war eher ihre Familie: denn obwohl alle nett gewesen waren, fand er die Steifheit, die im Hause Trautmann herrschte unerträglich. Ob sie im Alltag vielleicht lockerer wären? Dazu müsste er sie besser kennenlernen, aber ein erweitertes Kennenlernen käme einer Annahme des Angebotes ziemlich nahe.

Und der Job? Eigentlich wäre der angebotene Job auf alle Fälle besser als Leichen einsammeln. Und auch Entrümpeln oder Baguettes aufbacken waren nicht seine Traumbeschäftigungen. Dass es um eine Insolvenzverwaltungsfirma ging, war natürlich nicht so angenehm, aber bestimmt war das zur Zeit eine der sichersten Branchen. Und wie Johanna schon gesagt hatte, ging es ja möglicherweise um den Wiederaufbau von Firmen, die gestrauchelt waren. Vor drei Jahren hätte er so einen Job bestimmt ohne Zögern angenommen und zur Feier des Tages einen Champagner besorgt. Aber er konnte wohl schlecht den Job annehmen und die Familie Trautmann dann links liegenlassen.

Wahrscheinlich wäre er auch gar kein geeigneter Schwiegersohn für das Ehepaar Trautmann, denn bestimmt könnte er nicht deren Erwartungen in puncto Angepasstheit, steifes Benehmen und Moral erfüllen. Er sah sich schon mit Sonja durch den Garten jagen und beim ersten Wonnequieker der Kleinen würde die Mutter auf der Matte stehen und streng dreinblicken ob solch ungebührlichen Verhaltens.

Einer Entscheidung kam Jens trotz aller Überlegungen nicht näher, und so war er ganz froh, als Achim ihn am nächsten Morgen zur Arbeit abholte. Das Leicheneinsammeln erschien ihm plötzlich wie eine vertraute, einfache Welt ohne grosse Entscheidungskonflikte.

Auf den Straßen waren schlagartig wieder viel mehr Fussgänger unterwegs als in den letzten Tagen. Die meisten trugen einen Mundschutz oder hatten ein Stück Stoff um ihre untere Gesichtshälfte gewickelt. Vor einem Supermarkt, an dem sie vorbeifuhren, hatte sich eine lange Schlange gebildet. An einem Stand davor wurden Schutzmasken verkauft, die anscheinend jeder tragen musste, der den Laden betreten wollte.

"Wie sie alle wieder aus ihren Löchern kriechen.", stellte Achim fest.

"Sie brauchen wohl ganz dringend wieder Nahrungsnachschub. Und bestimmt sind inzwischen auch schon wieder einige gesund, so wie wir."

"Und die, die es noch nicht erwischt hat, brauchen ja auch was zu essen. Ob das wohl gutgeht?"

"Immerhin tragen die meisten Mundschutz. Aber ich denke auch, wenn die Leute jetzt wieder mutiger werden, gibt es bestimmt noch eine zweite Ansteckungswelle. Hoffen wir dass es nicht so schlimm wird."

"Dein Wort in Gottes Gehörgang."

Im Laufe des Tages kamen sie in ein Haus, in dem sie auch schon letzte Woche jemanden abgeholt hatten. Als sie an der betreffenden Tür vorbeigingen, sahen sie, dass ihr Siegel aufgebrochen und die Wohnungstür angelehnt war. Voller Argwohn öffneten sie die Tür vollständig und warfen einen Blick ins Innere. Dort war alles durcheinandergeworfen und dort, wo in der Vorwoche noch teure Antiquitäten gestanden hatten, gähnte Leere. In den einzelnen Zimern sah es ähnlich aus.

"Plünderer?", fragte Jens in den Raum.

Achim nickte grimmig, griff nach seinem Handy und rief bei Herrn Lorenz an. Nach kurzen Gespräch legte er auf und wandte sich an Jens.

"Der Lorenz schickt uns jetzt ein Team hinterher, das schon mal die wertvollsten Gegenstände sichern soll. Die will er dann für den obligatorischen Monat in der neuen Halle lagern, falls sich Erben melden. Das kann noch lustig werden. Immer wenn wir in einem Haus fertig sind, sollen wir ihn anrufen, damit er jemanden mobilisiert, hinter uns aufzuräumen. Ein anderes der Leichenteams hat auch schon Plünderungen gemeldet."

"Wir sind aber viel schneller mit dem Leicheneinpacken, als der schnellste Entrümpler."

"Ja klar, darum wird er ja auch mehrere Teams hinter uns her schicken. Wie gut, dass inzwischen wieder mehr Mitarbeiter gesund sind. Letzte Woche hätte es noch das totale Chaos gegeben."

Als sie den Toten verstaut hatten, kam schon der Wagen der Kollegen und Achim übergab den Schlüssel und das Siegel für die Wohnung. Achim rief nochmal bei Herr Lorenz an und meldete, dass sie die nächste Wohnung in Angriff nehmen würden. Dieses Procedere wiederholte sich Wohnung für Wohnung, doch beim fünften Mal hatte Herr Lorenz kein Team mehr, das er ihnen hinterherschicken konnte. Also mussten sie warten, bis das erste Team soweit war, denn sie mussten ja Schlüssel und Siegel übergeben.

In der Wartezeit sammelten sie schon mal die Dokumente aus den Schubladen im Schreibtisch und trugen elektrische Geräte und ein paar edle Möbel nach unten, um die Wartezeit abzukürzen. Als die Kollegen ankamen, mussten sie das Bergungsgut nur aufladen und konnten gleich mit zur nächsten Wohnung fahren.

Den ganzen Tag über ging es so weiter. Vier Wohnungen wurden von den anderen Teams geleert, die fünfte räumten sie selber aus.

In einem der Häuser kamen ihnen zwei junge Männer entgegen, die mit Möbeln beladen die Treppe runtergingen. Ob das Kollegen einer anderen Entrümplungsfirma waren? Zwei Stockwerke höher sah Jens jedoch an einer offenstehenden Wohnungstür ein zerrissenes Siegel. Jens und Achim wechselten einen kurzen Blick, machten dann kehrt und sprangen die Treppe hinunter.

Sie erwischten die beiden Plünderer gerade noch im Erdgeschoss, wo sie eilig der Haustür zustrebten. Einen der beiden packte Achim am Kragen. Der ließ sein Möbelstück fallen und wollte sich gerade umdrehen, als Achim sein Handgelenk ergriff und ihm schmerzhaft den Arm umdrehte.

In der Zwischenzeit hatte der andere Plünderer, der vorausging, die Situation erkannt, warf sein Möbelstück auch auf den Boden und trat die Flucht an.

Jens hechtete an Achim und dessen Gegner vorbei und nahm die Verfolgung auf. Der Plünderer war schnell. Schon war er auf der Straße und wandte sich nach links. Jens musste noch dem Möbelstück ausweichen, bevor auch er die Straße erreichte und den Flüchtenden in etwa zehn Meter Entfernung rennen sah. So schnell er konnte, rannte er hinterher.

Er war nur noch zwei Meter hinter dem Plünderer, als dieser plötzlich zwischen zwei parkenden Autos durchflitzte und zur anderen Straßenseite floh. Dadurch verlor Jens wieder ein paar Meter und strengte sich an zu beschleunigen. Der Andere hatte wohl erkannt, dass er Jens auf gerader Strecke unterlegen war und nutzte gleich die nächste Abbiegung, um einen weiteren Haken zu schlagen.

Doch Jens kam ihm wieder näher. Schritt für Schritt holte er einige Zentimeter auf und zwei Häuserblocks weiter war er bis auf einen Meter an den Anderen herangekommen.

Noch etwas schneller - ja - fast - noch einen grossen Schritt - und zugreifen!

Der Andere hatte Jens Kommen jedoch gespürt und sprang im letzten Moment zur Seite, sodass Jens ins Leere griff. Er hechtete ihm hinterher, erwischte die Beine des Anderen und brachte ihn zu Fall.

Der Gegner rappelte sich schnell wieder auf, doch Jens hielt weiter seine Beine umklammert. Einen Moment lang sah er die Faust des Gegners auf sich zukommen, dann sah er nur noch Sterne und sein rechtes Auge schien zu explodieren. Ein Schlag nach dem anderen trommelte auf sein Gesicht ein, doch Jens ließ den Anderen nicht los. Ganz im Gegenteil, denn er umfasste die Beine des Anderen noch fester und zerrte daran, bis sein Gegner das Gleichgewicht verlor und auf dem Boden landete.

Er warf sich auf den Plünderer, damit dieser nicht wieder aufstehen konnte. Verknäuelt wälzten sich beide auf dem Boden, bis der Gegner wieder zu einen Schlag ausholen wollte. Doch diesmal hatte Jens eine freie Hand, also ergriff er den Arm des Gegner und es gelang ihm, den Arm so zu verdrehen, dass der Plünderer lammfromm wurde. Er blökte wie ein Lamm, das Angst vor der Schlachtbank hat, als Jens ihn zum Aufstehen zwang und in Richtung Tatort schob. Der Plünderer wehrte sich so gut er konnte, doch sein Arm tat ihm offensichtlich so weh, dass er auf grössere Befreiungsversuche verzichtete.

Für den Weg, den sie vorher in Sekunden genommen hatten, brauchten sie auf dem Rückweg mehrere Minuten, bis sie endlich bei Achim und seinem Delinquenten angekommen waren. Diesen hatte Achim inzwischen fachgerecht verschnürt und im Lieferwagen angebunden.

"Haste ihn doch noch erwischt. Ohje, wie siehst du denn aus? Der hat dirs aber nicht leicht gemacht", rief Achim sobald er Jens mit seinem Opfer sah.

Während Achim Jens beim Fesseln half, berichtete er, dass er schon die Polizei angerufen hatte. Die hatten ihm jedoch gesagt, dass sie wegen Überlastung niemanden schicken konnten, um die Verbrecher abzuholen. Also würden sie sie selbst zum Polizeirevier bringen müssen.

Achim erklärte seinen Schlachtplan: "Wir warten jetzt noch, bis der Entrümplungstrupp für diese Wohnung kommt, dann holen wir schnell noch die Leiche, für die wir hergekommen sind und fahren dann zur Polizei."

Die beiden Plünderer schienen sich im Innern des Lieferwagens neben all den Leichen ziemlich unwohl zu fühlen. Doch das geschah ihnen ganz recht, fand Jens. Er bewachte die Verbrecher, während Achim nach dem Auto der beiden suchte. Der gesuchte Lieferwagen stand nur wenige Meter hinter ihrem eigenen Wagen und enthielt massenhaft teure Kleinmöbel und Elektrogeräte.

Nachdem die staunenden Kollegen gekommen und der Tote geborgen war, machten Achim und Jens sich auf den Weg zur Polizei. Jens blieb hinten bei den Gefangenen, um zu verhindern, dass sie irgendetwas anstellten. Die Arme gefesselt und die Füsse mit einer schulterbreiten Schnur verbunden, schoben Jens und Achim die widerstrebenden Verbrecher schließlich in das Polizeirevier.

Dort wurden sie von einem älteren Beamten und einer jüngeren Assistentin empfangen. Alle anderen Polizisten des Reviers waren anscheinend unterwegs. Vielleicht auch auf Plündererjagd.

"Die haben sie aber gründlich verschnürt", sagte der Beamte schmunzelnd. "Sind Sie die Entrümpler, die vorhin angerufen haben."

"Ja, wir wollen Ihnen diese Plünderer abliefern", sagte Achim nicht ohne Stolz.

"Ok, dann bringen wir die Gefangegen erstmal in ein Verlies", zwinkerte der Beamte ihnen zu.

Der Plünderer, der sich mit Jens geschlagen hatte, riss die Augen auf und wurde blass im Gesicht. Anscheinend hatte er das Zwinkern nicht gesehen. Das "Verlies" erwies sich jedoch als normale Gefängniszelle und die beiden machten nicht den Eindruck, als wären sie das erste Mal mit so einer Situation konfrontiert. Nachdem ihnen die Fesseln abgenommen worden waren, rieben sie ihre schmerzenden Handgelenke und starrten Achim und Jens finster an. Anschließend mussten Achim und Jens die Ereignisse zu Protokoll geben. Jens hatte das Glück von der freundlichen Polizistin befragt zu werden.

Vor der Befragung bot sie ihm noch einen Gang zum Waschbecken an, um sein lädiertes Gesicht reinigen. Ein Blick in den Spiegel bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen. Vor dem Waschen sah er aus, wie in einem Horrorfilm und nach dem Waschen fand er immer noch vier Stellen, aus denen Blut sickerte.

Die Polizistin tupfte ihm Jod auf die Wunden und verpflasterte ihn fachgerecht. Bei einem belebenden Kaffee berichtete Jens ihr schließlich, was geschehen war.

Als er von der Flucht des einen Plünderers und der Verfolgungsjagd erzählte, nickte sie anerkennend und sagte: "Der Knabe ist uns wohlbekannt. Meistens kommt er aber davon, weil er so wieselflink ist. Sie müssen ordentlich schnell sein, wenn Sie ihn erwischt haben".

Jens freute sich sehr über das Lob, denn immerhin kam es von einem Profi. Bis das ganze Protokoll getippt, gelesen und unterschrieben war, war ein gute Stunde vergangen. Durch die Fenster konnte man sehen, dass es schon dämmerte.

"Auf, wir machen noch eine Runde, um unsere Entrümplerteams noch einmal mit Arbeit zu versorgen und dann machen wir Schluss für heute. Der Friedhof hat auch nicht endlos geöffnet", schlug Achim vor.

"Aber wir haben erst ganze wenig Tote geborgen. Eigentlich sollten wir ja doppelt soviel schaffen."

"Tja, Pech. Die Plünderer sind uns halt ernsthaft in die Quere gekommen. Was solls? Die Toten werden schon brav bis morgen warten."

"Da hast du auch wieder recht. Also auf in den Kampf."

Als sie endlich beim Friedhof ankamen, war dieser von Flutlichtern erleuchtet und für die späte Stunde herrschte reger Betrieb. Alle, die sie trafen, schimpften über Plünderer. Die Plünderungen waren wie eine neue Seuche über die Stadt hereingebrochen. Viele, die erfuhren, woher Jens seine deutlich sichtbaren Blessuren hatte, schlugen ihm anerkennend auf die Schultern. Dabei hatte Achim seinen Kanditaten doch viel fachgerechter festgenommen, dachte sich Jens. Aber Achim konnte man seinen Kampf eben nicht so deutlich ansehen.

Jenseits des Ölgipfels

Twilight in the Desert. The Coming Saudi Oil Shock and the World Economy
von Matthew R. Simmons

Peakoil Reloaded
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Jenseits des Ölgipfels
Jenseits des Ölgipfels

268 Seiten
ISBN 3-933634-18-0

Preis: 16.90 Euro

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