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Jenseits des Ölgipfels

Kapitel 18


  
Fünf Tote später war Jens schon ziemlich erschöpft und hätte am liebsten Feierabend gemacht, aber er konnte Herrn Müller schlecht alleine lassen, zumal dieser auch schon müde wirkte.

Der nächste "Kunde" war ein Mann in Jens Alter. Jens wurde ganz mulmig zumute, als er ihn sah. Die bisherigen Toten waren alle alt gewesen, da konnte man leichter akzeptieren, dass sie tot waren, aber dieser junge Mann erinnerte Jens daran, dass auch er tot in seiner Wohnung hätte liegen können. Schließlich waren es eher Kleinigkeiten, die ihn gerettet hatten, wie Wasser am Bett, seine Heizdecke und sein mütterlicher Fernseher.

Da der junge Mann schwerer war als die bisherigen Toten, ging Herr Müller nochmal zurück zum Auto, um einen besonders stabilen Sack mit Griffen zu holen, denn ohne Griffe hätten sie es zu zweit wohl kaum geschafft, ihn ins Auto zu tragen.

Als wäre der junge Mann nicht schon erschreckend genug gewesen, fanden sie in der nächsten Wohnung eine Frau Anfang zwanzig mit ihren beiden Kleinkindern. Der alte Mann, der als letzter auf der Liste für diesen Tag stand, war für Jens dann fast schon erleichternd, was ihn sofort mit einem schlechten Gewissen erfüllte, denn der Tod war schrecklich, egal wie alt der Gestorbene war.

Vor der Fahrt zum neuen Friedhof gab es noch einen Kaffee, der Jens Lebensgeister wieder weckte. Obwohl die Straßen fast leer waren, dauerte die Fahrt zum neuen Friedhof über eine halbe Stunde. Unterwegs sammelten sich immer mehr Lieferwagen, die das gleiche Ziel hatten wie sie.

Schließlich erreichten sie ein Feld, das von fern so aussah, als würden dort Vorbereitungen für ein Festival stattfinden. Das Areal war durch ein rot-weiss gestreiftes Plastikband abgegrenzt und im Einfahrtsbereich standen mehrere Zelte. Offensichtlich herrschte Hochbetrieb, denn Jens und Herr Müller mussten eine Viertelstunde in einer Schlange warten, bis sie auf den Ausladeparkplatz fahren durften.

Dann fing die Schlepperei wieder an. Ein Ordner wies ihnen den Weg zu einem der Zelte. Das Zelt stand voller Biertische, die auf ihre traurige Last warteten. Ein maskierter Mann im weissen Kittel teilte ihnen einen der Tische zu und überprüfte kurz die Dokumente, bevor er seine Unterschrift auf Herrn Müllers Liste setzte. Dieser Vorgang wiederholte sich, bis der Lieferwagen leer war. In einem anderen Zelt holten sie neue Leichensäcke und eine Liste samt Schlüsseln für den nächsten Tag.

"So, jetzt suchen wir uns einen anderen Parkplatz und dann gehen wir zur Beerdigung", sagte Herr Müller.

"Wir gehen wohin? Zu einer Beerdigung? Aber wir haben doch schon den ganzen Tag mit Toten zu tun gehabt."

"Ja, gerade deshalb. Sie ahnen ja gar nicht, wieviel Last es von der Seele nimmt, wenn man mitkriegt, dass sie am Schluss ordnungsgemäss in der Erde liegen. Am ersten Tag war ich nicht bei einer Beerdigung und da habe ich die ganze Nacht über Tote vor mir gesehen. Ausserdem freut sich der Pfarrer, wenn er nicht so alleine ist bei den ganzen Beerdigungen."

Herr Müller fuhr den Wagen vom Gelände und parkte am Straßenrand. Dann gingen sie zu Fuß zu den ausgehobenen Grabreihen. Die ersten Reihen waren schon wieder aufgefüllt und schlichte Holzkreuze standen dicht nebeneinander, so dass ihre Enden fast aneinander stiessen. Erst jetzt wurde Jens die Anzahl der Toten so richtig bewusst. Der Gang zu den aktuellen Gräbern war ein richtiger kleiner Spaziergang und das umzäunte Gelände war noch um ein Vielfaches größer als das bisher genutzte Areal. Das gestreifte Band verlor sich fast in der Ferne. Tausende mussten hier schon liegen. Und viele Tausende würden noch folgen.

Der Graben, der diesmal zur Bestattung anstand, war etwa zwanzig Meter lang. An seinem Boden lagen dicht an dicht in weisse Tücher gehüllte Körper. Ein Pfarrer stand etwa in der Mitte, umstanden von einer Handvoll Männer, und hielt seine Rede. Jens und Herr Müller stellten sich dazu und lauschten den Worten des Pfarrers. Er sagte etwas von schweren Zeiten und dass der Herr die Gestorbenen zu sich gerufen hatte, alles in dem bedächtigen Tonfall, den Jens auch schon vom Wort zum Sonntag kannte.

Jens blickte auf die Körpersäcke im Graben und stellte sich vor, dass die Menschen, die er heute aus ihren Wohnungen geholt hatte, bald auch in Leintücher gehüllt in einem langen Graben liegen würden. Nach dem obligatorischen Gebet durfte jeder der Anwesenden eine Schaufel voll Erde in den Graben werfen. Einer der Männer entfernte sich gleich anschließend und ging zu einem Bagger, der am Ende des Grabens stand. Der Bagger erwachte zum Leben und schaufelte eine ansehnliche Ladung Erde in den Graben. Jens ließ seinen Blick noch einmal über die Toten streifen und dann folgte er Herrn Müller, der sich auf den Rückweg zum Parkplatz gemacht hatte.

Irgendwie hatte es tatsächlich geholfen, bei der Beerdigung teilzunehmen. Etwas in seinem Innern, von dem Jens vorher gar nicht gemerkt hatte, dass es in ihm war, hatte sich aufgelöst. Auf einmal konnte er wieder besser durchatmen, als hätte er vorher die Luft angehalten.

"Jetzt werden Sie ein kleines Wunder erleben.", sagte Herr Müller, als sie wieder unterwegs waren und bog zu einer Tankstelle ein. Er fuhr an der Schlange der Wartenden vorbei zu einer Zapfsäule, an der "Nur mit Bezugsschein" stand. Ein Mann, der eine Uniform in den Farben der Tankstelle trug, warf einen Blick auf ihre Windschutzscheibe und Herr Müller deutete auf eine Scheibe, die an eine Parkscheibe erinnerte und auf dem Armaturenbrett lag. Der Tankstellenmann nickte, zückte den Benzinschlauch und begann ihren Tank zu füllen.

"Ist das nicht herrlich, einfach so zu tanken, ohne vorher eine Stunde warten zu müssen? Und eine Unterschrift reicht zum Bezahlen.", fragte Herr Müller voller Begeisterung.

Obwohl Jens nie in einer Tankstellenschlange gewartet hatte, konnte er sich den damit verbundenen Frust gut vorstellen und stimmte Herrn Müller daher zu.

"Und jetzt gehen wir ein Bierchen trinken, das haben wir uns redlich verdient.", schlug Herr Müller vor.

Jens war sich zwar nicht sicher, ob er für alkoholische Getränke schon wieder gesund genug war, aber der anstrengende Tag hatte Lust auf ein Bier gemacht und so erhob Jens keine Einwände, als Herr Müller bei einer Kneipe in der Nähe der Entrümplungsfirma hielt.

Die Kneipe war ein dunkles, verrauchtes Loch und die verlebt wirkende Bedienung trug eine Gesichtsmaske, aber das Bier zischte erfrischend durch die Kehle.

"Ich bin übrigens der Achim.", sagte Herr Müller und hob sein Glas.

"Und ich bin der Jens.", antwortete Jens, erleichtert, dass er nicht mehr ständig "Herr Müller" sagen musste, denn er war Duzen bei der Arbeit gewöhnt.

Das Bier stieg Jens ziemlich schnell in den Kopf, und obwohl er immer noch Bedenken hatte, ob es ihm gut tun würde, fühlte er sich angenehm beschwingt. Auch das Schnitzel, das sie bestellten, schmeckte besser als erwartet. Achim verwickelte ihn in ein Gespräch über das Leben als Entrümpler und erzählte Schwänke aus zwanzig Jahren Gerümpelerfahrung, die teilweise sehr lustig waren. Später fuhren sie mit dem Lieferwagen zur Entrümplungsfirma und Achim versprach, Jens am nächsten Morgen direkt zu Hause abzuholen.

Auf dem Heimweg mit dem Fahrrad, als der Fahrtwind um seine Ohren pfiff, fühlte Jens sich zwar erschöpft von der Arbeit, aber dennoch so lebendig wie seit langem nicht mehr.

Zuhause zündete er ein Ofenfeuer an und machte es sich vor dem Fernseher bequem. Doch kaum hatte er eingeschaltet, klingelte das Telefon. Johanna war dran.

"Hallo Jens. Schön dass ich dich erreiche. Ich wollte dich fürs Wochenende zu uns einladen."

"Hallo Johanna. Ja gerne. Wann soll ich denn kommen?"

"Am Samstag um drei würde es passen. Die Armenspeisung setzt zur Zeit noch aus wegen der Grippe. Hast du meine Adresse?"

"Bisher noch nicht. Wart, ich notier sie mir."

Jens notierte Johannas Adresse auf einem rumliegenden Zettel.

Johanna fragte: "Warst du heute unterwegs? Ich habe dich nachmittags nicht erreicht.".

"Ja, ich hab heut schon wieder angefangen zu arbeiten. Mein Chef brauchte mich unbedingt."

"Was machst du da eigentlich? Irgendwas mit Entrümplung, oder?"

"Normalerweise schon, zur Zeit bringen wir aber Tote zum neuen Friedhof."

"Dir bleibt aber auch nichts erspart. Stell dir vor, meine Mutter hat gestern eine Bekannte im neuen Altenheim besucht. Dort sind siebzig Prozent aller Bewohner an der Grippe gestorben, weil die Grippemittel zu spät ankamen. Es soll richtig unheimlich dort sein, so leer ist es."

"Siebzig Prozent sind ja echte ne Menge. Und bei euch sind noch alle gesund?"

"Ja, glücklicherweise gehts uns allen gut. Aber trotzdem hat sich das Leben verändert seit der Grippe."

"Das wird wohl eine Weile dauern, bis die Grippeepidemie an Schrecken verliert. Und ob es dann wieder genauso wird wie vorher, wage ich zu bezweifeln."

"Wahrscheinlich hast du recht. Ausserdem war es ja auch vorher schon nicht mehr in Ordnung. Hoffen wir das Beste. Wir sehen uns am Wochenende?"

"Ja, bis dann. Lass es dir gutgehen."

Jens legte auf und sah sich noch einen Krimi an, bevor er ins Bett ging. Kaum hatte er sein Kopfkissen berührt, war er auch schon eingeschlafen und er erwachte erst wieder, als es laut klingelte.

Zuerst war er ganz wirr im Kopf, aber dann fiel ihm ein, dass Achim ihn ja mit dem Lieferwagen abholen wollte. War es schon so spät? Ein Blick auf den Wecker bestätigte ihm, dass er verschlafen hatte. In Windeseile schlüpfte er in seine Hose und öffnete die Tür.

"Sorry, ich hab verschlafen."

"Sieht man. Hast den Schlaf wohl nötig gehabt. Während du dich anziehst, hol ich einen Kaffee von unten. Ich hab extra viel mitgenommen. Ein paar Minuten können wir uns noch gönnen."

Achim verschwand wieder und Jens zog sich vollständig an. Eigentlich hätte er sich viel lieber wieder ins Bett gelegt, denn er war immernoch müde und am ganzen Körper piesakte ihn ein heftiger Muskelkater. Ansonsten ging es aber halbwegs, vor allem konnte er frei durchatmen, was ihm in letzter Zeit besonders wichtig geworden war. Morgen würde er sich den Wecker stellen. Der Kaffee weckte dann seine Lebensgeister und anschließend machten sie sich auf den Weg zu den Leichen.

Von Tag zu Tag bargen sie mehr Tote, denn sie waren inzwischen gut in Übung und die Wartelisten der Friedhofsverwaltung quollen über. Weil die Leichensäcke trotz Wiederverwendung inzwischen knapp wurden, mussten sie Kinder und kleine Erwachsene in Müllsäcken transportieren.

Nachmittags galt es mal wieder ein älteres Ehepaar einzusammeln. Den süsslichen Geruch nahm Jens inzwischen kaum noch wahr und den gestorbenen Mann konnten sie zügig in einen der wenigen Säcke mit Griff einpacken.

Doch mit der Frau war irgendetwas anders, aber Jens konnte nicht einordnen, was es war. Als Achim den Sack neben sie gelegt hatte, nahm Jens sie wie gewohnt unter den Achseln und wartete, bis Achim die Füsse gepackt hatte. Irgendwie fühlte sich diese Frau nachgiebiger an als die übrigen Toten, und wärmer.

Als er sie schließlich anhob, hörte er einen Seufzer. Er hielt inne und sah fragend zuerst zu Achim, der auch zur Salzsäule erstarrt war, dann betrachtete er die Frau in seinen Armen. Atmete sie? Es war kaum zu erkennen. Er hob ihren Oberkörper noch weiter an und wieder hörte man ein deutliches Atemgeräusch.

"Sie lebt."

Ohne lang zu überlegen, übernahm Jens das Kommando, als würde er wissen, was zu tun sei. "Hol ein Glas Wasser." wies er Achim an. Dann richtete er die Frau soweit wie möglich auf, hielt sie mit dem einen Arm und klopfte ihr mit der anderen Hand leicht auf den Rücken. Ihre stärker werdenden Atemgeräusche zeigten, dass es ihr anscheinend half. Ein Hustenanfall brachte einiges an Schleim hervor, der auf ihr Nachthemd sabberte. Aber das störte Jens nicht im Geringsten, sondern er fuhr fort, den Rücken der Frau abzuklopfen. Dabei redete er aufmunternd auf sie ein. Als er den Eindruck hatte, dass das Abklopfen erstmal ausreichte, kniete er sich auf das Bett, um die Frau mit seinem Oberschenkel und einem Arm zu stützen, während er die freigewordene Hand benutzte, um das Kopfkissen des toten Ehemannes herüberzuziehen und ihr eigenes Kissen aufzuschütteln und so anzuordnen, dass die Frau halb aufrecht liegen konnte, um die Atmung zu erleichtern.

Dann legte er sie vorsichtig auf die Kissen und beobachtete, wie die Frau schwach atmete. Sie wirkte zwar immer noch nicht sehr lebendig, aber der Atem war jetzt deutlich erkennbar im Gegensatz zu vorher. Inzwischen war auch Achim wieder da und hielt Jens ein Glas mit Wasser entgegen. Jens schaute vom Glas auf die Frau und wusste nicht so recht, wie er es anpacken sollte.

Er entschloss sich, sie wieder aufzurichten und hielt ihr das Glas an die Lippen. Natürlich trank sie nicht, denn sie war ja gar nicht bei Bewusstsein. Also versuchte Jens einen kleinen Schluck in ihren Mund zu gießen, wobei das Meiste vorbeifloss.

Aber sie schluckte. Gleich probierte Jens es nochmal und wieder schluckte sie. Auf diese Weise gelang es ihm, ihr etwa ein Drittel des Glasinhalts einzuflößen. Viel zuwenig natürlich, um ihren Wassermangel auszugleichen, aber fürs Erste bestimmt genug. Als er sie wieder hinlegte, flatterten kurz ihre Augen und ihre Lippen bewegten sich, als wollte sie etwas sagen.

"Wir sind jetzt da und kümmern uns um Sie. Einfach tapfer weiteratmen.", sagte Jens zu ihr, in der Hoffnung, sie erreichen zu können.

"Sie heisst Frau Wagner", meldete sich Achim und nahm das Glas wieder in Empfang.

"Frau Wagner, hallo, hören Sie mich?", rief Jens ihr zu.

Ihre Augen flatterten wieder und ein Krächzen entrang sich ihrer Kehle.

Bei der Überlegung, was jetzt am besten zu tun sei, fiel Jens auf, dass Frau Wagner viel zu kalt für einen lebenden Menschen war. Er fing an, ihren Oberkörper zu massieren, um sie aufzuwärmen und wies Achim an, die Decke des Ehemanns an der frischen Luft auszuschütteln. Langsam wich die graublaue Gesichtsfarbe von Frau Wagner einem blassen Rosa, aber die Lippen blieben bläulich. Jens schüttelte auch Frau Wagners eigene Decke und deckte sie anschließend damit zu. Immer wieder sagte er aufmunternde Belanglosigkeiten zu ihr, und erklärte ihr, was er vorhatte, denn er wusste nicht wieviel sie wahrnahm.

Achim brachte die zweite Decke, die nur noch leicht muffig roch, und Jens deckte Frau Wagner auch mit dieser Decke zu.

"Und jetzt?", fragte Achim.

"Gute Frage. Vielleicht sollten wir ein Krankenhaus für sie finden", schlug Jens vor.

Im Wohnzimmer fanden sie ein Telefon samt Telefonbuch und Jens wählte die erste Nummer in der Liste der Krankenhäuser. Doch als das Gespräch endlich angenommen wurde und er um Hilfe bat, sagte ihm eine rüde Stimme, dass das Krankenhaus hoffnungslos überbelegt sei. Genauso war es bei allen anderen Krankenhäusern.

Ratlos sahen Jens und Achim sich an.

"Wir müssen weiter", drängte Achim.

"Ja, ich weiss, aber wir können sie doch nicht einfach so liegenlassen."

"Du hast recht, aber was sollen wir tun?"

"Wenn wir gehen, sollten wir ihr vorher noch was zu trinken geben und danach das Nachthemd wechseln, denn das ist total durchweicht. Und nach der Arbeit komm ich wieder und lass mir was einfallen."

"Du hast Nerven. Aber gut, geben wir ihr noch etwas Wasser und ziehen sie um, wenn du dich dann besser fühlst."

Zuerst suchten sie nach einem frischen Nachthemd. Jens fühlte sich unbehaglich, so in den Schränken der Kranken rumzuwühlen, aber er beruhigte sich mit dem Gedanken, dass es ja der Frau zugute kommen sollte. Dann erklärte Jens Frau Wagner worum es ging und flößte ihr noch ein paar Schlucke Wasser ein.

Das Wechseln des Nachthemds erwieß sich als Schwerarbeit. Bis sie ihr endlich das feuchte Nachthemd ausgezogen hatten, tat Jens die arme Frau richtig leid, weil sie so an ihr zerren mussten. Das Anziehen des neuen Hemdes ging dann schon etwas leichter, nur beim Einfädeln der Arme stießen sie auf grössere Schwierigkeiten. Doch endlich lag Frau Wagner in trockenen Tüchern und atmete tapfer frische Luft in ihre Lungen.

"Frau Wagner, wir müssen jetzt wieder gehen. Aber ich komme wieder und dann hole ich Hilfe. Verstehen Sie? Ich bin bald wieder da."

Ein Hauch, der wie ein "ja" klang, strömte aus Frau Wagners Mund.

"Ok, bis bald. Ich komme wieder", sagte Jens zum Abschied und dann schloss er sich Achim an, der schon im Gang auf ihn wartete.

Bei den nächsten Toten war Jens unkonzentriert und immer wieder befühlte er die Leichnahme argwöhnisch, ob sie auch wirklich tot waren. Doch es war kein weiterer Lebender unter ihnen. Immer wieder fragte er sich, wie es Frau Wagner jetzt wohl gehen würde.

Anscheinend spürte Achim Jens Unruhe, denn als der letzte Tote im Lieferwagen lag, sagte er: "Also gut, ich bring dich zu deiner Patientin und fahre allein zum Friedhof. Dort sag ich dann Bescheid."

"Oh danke, das ist eine gute Idee. Gib denen doch meine Handynummer, dass sie mich erreichen können, wenn ihnen einfällt, wo Frau Wagner hinkönnte."

Achim brachte Jens noch zur Wohnung von Frau Wagner und verabschiedete sich dann. Frau Wagner lag unverändert in ihrem Bett und Jens musste genau hinschauen, um zu sehen, dass sie immernoch lebte. Ob sie vorhin das Richtige getan hatten? Nun, egal, auf jeden Fall lebte sie noch.

"Frau Wagner, ich bin wieder da. Hören Sie mich?"

Wieder einmal flatterten die Augenlider und diesmal sah die Frau Jens sogar für einen Sekundenbruchteil an. Das nahm er als Ermunterung und flößte ihr wieder etwas Wasser ein. Inzwischen hatte er den Bogen raus, sodass kaum noch Wasser danebenfloss. Vielleicht trank Frau Wagner auch wieder selbstständiger.

Jens war ziemlich ratlos, was er tun könnte, denn die Krankenhäuser hatten sie ja schon alle durchtelefoniert. Wenn er wenigstens von der Grippemedizin etwas hätte, die Johanna ihm angeboten hatte. Aber das hatte er ja stolz abgelehnt. Apropos Johanna - mit ihr hing eine wichtige Information zusammen. Was war das nur? Sie hatten doch gar nicht über Plätze in Krankenhäusern gesprochen, sondern nur über das Altersheim, in dem soviele Menschen gestorben waren. Das Altersheim - vielleicht hatten sie ja dort Platz für Frau Wagner.

Er blätterte im Telefonbuch, um die Nummer des Altersheims zu finden, aber da stand es nicht drin. Kein Wunder, denn das Altersheim war ja auch noch ganz neu. Also befragte er mit seinem Handy die Online-Auskunft und erhielt eine Nummer. Hoffnungsvoll wählte er und tatsächlich meldete sich nach kurzer Zeit eine weibliche Stimme mit: "Städtisches Altenheim, was kann ich für Sie tun?".

"Haben Sie einen Platz für eine schwer grippekranke ältere Dame?"

"Sind Sie der Sohn?"

"Nein, ich sollte sie eigentlich zum Friedhof bringen, aber sie lebt noch. Ich arbeite zur Zeit in der Leichenbergung."

"Und da haben Sie eine Lebende entdeckt. Ist sie denn ansprechbar?"

"Nein, aber sie atmet schon mehr als am Anfang und sie hat versucht zu sprechen und mich anzusehen."

"Also gut, ich schicke jemand vorbei. Geben Sie mir bitte die Adresse."

Jens gab der Frau die Adresse und fragte: "Wielange wird es etwa dauern?"

"Das kann ich nicht so genau sagen. Vielleicht eine Stunde."

"Ok, ich kümmere mich solange um Frau Wagner."

Jens gab Frau Wagner noch etwas zu trinken, zog sich dann einen Stuhl ans Bett und ergriff ihre Hand. Als er sie ansprach, drückte sie schwach seine Hand. Also hatte sie ihn gehört und wusste, dass er da war. Er erzählte ihr, dass bald jemand kommen würde, der sich mit medizinischen Dingen auskannte.

Die Stunde verstrich langsam. Um die Zeit totzuschlagen, erzählte Jens seiner Patientin alles Mögliche, was ihm gerade so einfiel. Auch von seiner eigenen Grippe berichtete er ihr. Dass sie zuhörte, merkte Jens daran, dass sie an passenden Stellen seine Hand drückte. Als es klingelte, erzählte er gerade von seiner Kindheit, was Frau Wagner zu gefallen schien.

Vor der Tür standen zwei Männer, die vollständig mit Schutzanzügen bekleidet waren. Zuerst wich Jens zurück, doch dann erholte er sich von seinem Schreck und ließ die Männer eintreten. Er fühlte sich wie im Film.

"Wo ist die Frau?", tönte es überraschend gut verständlich aus einem der Helme.

"Folgen Sie mir.", antwortete Jens und führte die beiden Männer ins Schlafzimmer.

Sofort begannen sie mit einer Untersuchung, in deren Verlauf sie Frau Wagner einen Schlauch in den Mund schoben und mit einer Pumpe laut gurgelnd Schleim absaugten, während die arme Frau sich aufbäumte und würgte. Doch danach konnte sie erheblich freier atmen; also hatte sich die Tortur wohl gelohnt.

Dann holte einer der Männer eine kleine Maske mit einem dran befestigten daumengrossen Zylinder aus einer Tasche, hielt die Maske Frau Wagner über die untere Gesichtshälfte und drückte den Zylinder zusammen, woraufhin es zischte und in der Maske bildete sich dichter Nebel.

"Ein Grippemittel.", erklärte einer der Männer, als er Jens fragenden Blick bemerkte.

"Könnten Sie mir davon auch ein paar geben, falls ich noch mehr Lebende finde?", fragte Jens.

"Normalerweise nicht, denn die sind verschreibungspflichtig. Aber ich werd mal drüber nachdenken. Berichten Sie mir bitte genau, wie Sie sie vorgefunden und was Sie unternommen haben."

Jens berichtete von seinen Beobachtungen und Massnahmen und fragte sich dabei, ob er das Richtige getan hatte.

Der Mann schien zufrieden: "Im Grossen und Ganzen haben Sie das ganz ordentlich hingekriegt, so ganz ohne Geräte. Die gute Frau Wagner hat Ihnen wahrscheinlich ihr Leben zu verdanken.".

Angeschlossen an einen Tropf und eine Sauerstoffmaske lag Frau Wagner schließlich auf der Trage und wurde von den Männern aus dem Zimmer getragen. Jens rief ihr noch eine Abschiedsgruß zu und wünschte ihr gute Besserung. Nie zuvor war ihm die Tragweite dieses Wunsches bewusster gewesen, als in diesem Moment.

Hinter den Männern verließ auch Jens die Wohnung und machte sich auf den Heimweg. Bisher hatte er sich noch gar keine Gedanken darüber gemacht, wie er nachhause kommen sollte. Frau Wagner wohnte fast zehn Kilometer entfernt von Jens Wohnung und sein Fahrrad stand zuhause, weil Achim ihn morgens abgeholt hatte. Öffentliche Verkehrsmittel wollte er lieber nicht nutzen und er wusste auch gar nicht, ob die U-Bahnen fuhren. Busse hatte er seit der Epidemie nicht mehr gesehen.

So blieb ihm gar nichts anderes übrig, als zu Fuß loszumarschieren, denn für ein Taxi war er zu geizig. Bevor die Straßenlampen ausgingen, würde er bestimmt wieder zu Hause sein.

Er war aber erst einen Kilometer weit gegangen, als plötzlich sein Handy klingelte.

"Hallo, hier ist Achim. Wie läuft es denn bei dir? Im neuen Altersheim ist vielleicht ein Platz frei, haben die auf dem Friedhof gesagt."

"Dahin ist sie jetzt schon unterwegs. Ich bin auf dem Heimweg."

"Doch nicht etwa zu Fuss? Mach langsam, ist nur ein kleiner Umweg, ich hol dich ab."

Jenseits des Ölgipfels

The Party's Over
von Richard Heinberg

Peakoil Reloaded
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Jenseits des Ölgipfels
Jenseits des Ölgipfels

268 Seiten
ISBN 3-933634-18-0

Preis: 16.90 Euro

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