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Die Virenjägerin

Kapitel 16


  
Wie gut, dass ich hier sein kann, in diesem medizinisch gut bestücktem Labor. So gut versorgt wie Siegfried ist bestimmt kaum ein anderer der vielen Kranken. Hoffen wir mal, dass zumindest einer von uns verschont bleibt, sonst ergeht es uns auch nicht besser als den anderen. Am besten wäre es, wenn wir alle so lange gesund bleiben, bis wir ein Heilmittel gefunden haben. Also auf geht's, wo ist der Virus?

Wie eine Zwergin wanderte Iris mit ihrem Mikroskop zwischen den Zellen umher. Es war offensichtlich, dass die Zellen nicht gesund waren, denn sie sahen stark verändert aus gegenüber normalen Zellen der Schleimhäute. Einige der Gebilde waren geplatzt, großflächig aufgerissen. Vermutlich Brutstätten der Viren, nach denen ich suche. Schade, dass ich keine Zellen der Bronchialschleimhäute habe; dort würde ich bestimmt schneller fündig.

Die Viren waren bei der untersuchten Probe anscheinend ausgeflogen, denn Iris fand keinen Erreger, den sie für den Auslöser der Lungenentzündung hielt. Nur weitere Kokken und einige Erkältungsviren traf sie an. Auch die nächsten vier Proben brachten sie nicht weiter.

In der Zwischenzeit waren viele Stunden vergangen. Zwischen Probe vier und fünf hatte Iris einen Blick aus dem Fenster geworfen und festgestellt, dass es schon wieder dunkel geworden war.

Martin betrat den Raum mit einem fertig geschmierten Käsebrot, gerade als die Zellen vor Iris' Augen anfingen zu verschwimmen.

"Kommst du voran?" fragte Martin mit einem Blick auf das Elektronenmikroskop.

"Bisher nicht. In den Proben habe ich nichts entdeckt, was ich eindeutig als den Erreger der Pneumonie identifizieren könnte."

"Das wäre ja auch ein Wunder, wenn das so schnell klappen würde."

"Richtig, aber wir brauchen mehr als ein Wunder, um diese Pandemie in den Griff zu bekommen."

"Bestimmt hast du Hunger. Ich habe dir ein Brot gemacht, denn ich schätze, du hast keine Ruhe, um dich in der Küche selbst zu verpflegen."

"Oh, Essen! Gute Idee! Stimmt, ich wäre gar nicht darauf gekommen, in die Küche zu gehen. Hm, schmeckt gut, danke! Wie geht es eigentlich Siegfried?"

"Unverändert würde ich sagen. Das ist zwar alles andere als gut, aber immer noch besser, als das was ich aus manchen Krankenhäusern gehört habe. Dort sterben Menschen mit schlechter Konstitution reihenweise. Aber Kranken, die vorher gesund waren, geht es ähnlich wie Siegfried: schwerste Atemprobleme ohne große Veränderung des Zustands."

"Das heißt, eigentlich müssten alle auf der Intensivstation liegen und von einem ganzen Team behandelt werden?"

"Richtig, aber die meisten liegen auf den Gängen. Alle mir bekannten Krankenhäuser haben inzwischen Aufnahmestopp."

"Kein Wunder! Bei der Finanzlage ist ja niemand wirklich auf solche eine Katastrophe vorbereitet. Schon eine normale Grippe-Pandemie, wie sie immer befürchtet wurde, hätte alles aus dem Ruder laufen lassen. Aber sowas wie wir jetzt haben, hätte sich niemand in seinen kühnsten Alpträumen vorstellen können. Ist die Neuerkrankungsrate immer noch so hoch wie heute morgen?"

"Die Leute erkranken eher schneller. In manchen Ortsteilen scheinen neunzig Prozent der Bevölkerung krank und andere Gegenden steuern in diese Richtung."

"Wie grauenvoll. Dann liegt da draußen wohl alles brach."

"Genau. Notstand ist ein mildes Wort für den Zusammenbruch des öffentlichen Lebens, der außerhalb unseres Labors stattfindet."

"Mal was ganz anderes: könntest du mir wohl noch eine neue Gewebeprobe von Siegfried besorgen, am besten aus den Bronchien?"

"Das wäre wohl möglich. Ich wollte sowieso gleich mal wieder nach ihm schauen."

"Sehr gut, du bist ein Schatz!"

Martin verließ den Raum und Iris zwang sich dazu, in Ruhe weiter zu essen. Doch zwischen den Bissen konnte sie es sich nicht verkneifen, weiter die Zellen im Mikroskop zu studieren.

Ob diese Erkältungsviren vielleicht die gesuchten Bösewichter sind? Mal vergrößern! Sieht aus wie völlig normale Coronaviren. Sehen sie nicht vielleicht ein bisschen anders aus? Nein, nix besonderes. Hoffentlich kommt Martin bald mit einer neuen Gewebeprobe.

Doch Iris musste eine gute halbe Stunde warten, bis Martin kam und ihr ein Stückchen von Siegfrieds Bronchialschleimhaut brachte. Ungeduldig nahm Iris die Probe entgegen und fing sofort an, sie für die Untersuchung unterm Elektronenmikroskop vorzubereiten.

Schon der erste Blick auf das neue Gewebe zeigte Iris etliche der zerissenen Gewebezellen und dazwischen tummelten sich massenhaft Viren. Wieder diese Erkältungsviren. Dabei kann man ja nun wirklich nicht von Erkältung reden, bei dem, was Siegfried durchmacht. Aber SARS gehört schließlich auch zur Familie der Coronaviren. Vielleicht sind das schon die gesuchten Erreger. Mal vergrößern!

Plötzlich erlosch das Licht des Mikroskops und Iris konnte überhaupt keine Zellen mehr sehen. Entsetzt starrte sie auf das Gerät. Bin ich in der Aufregung auf den Schalter gekommen? Nein, der ist weit weg und steht immer noch auf "eingeschaltet". Der normale Strom funktioniert, sonst würde ich ja völlig im Dunkeln sitzen. Oh je, hoffentlich ist das Mikroskop nicht kaputt. Am liebsten würde ich ja draufhauen, um zu sehen, ob das hilft, aber womöglich richte ich damit noch mehr Schaden an. Da hilft nur eines: Igor muss her!

Aufgeregt verließ Iris ihr Labor und machte sich auf die Suche nach Igor. Wie erhofft fand sie ihn wieder in einem der anderen Laborräume, diesmal über ein Gerät gebeugt, sodass sein Kopf fast im Gehäuse verschwand.

"Igor! Mein Mikroskop ist kaputt! Das Licht geht nicht mehr. Kannst du es dir mal ansehen?"

"Hm."

Igor folgte Iris zum Mikroskop und fing sofort mit der Untersuchung an.

Eine Weile sah Iris ihm dabei zu, aber dann beschloss sie, die Zeit zu nutzen, um nachzuschauen wie es der Welt erging. Sie ging in die Küche und sah eine Weile der Sondersendung zu, die ununterbrochen über den Bildschirm flimmerte. Außer Horrormeldungen über den weiteren Verlauf der Seuche wurden Tipps gesendet, wie man die Lungenentzündung möglichst gut ohne ärztliche Hilfe überstehen konnte. Immer wieder wurde betont, dass man reichlich Wasser trinken sollte. Dann wurden die unterschiedlichsten Hausmittel beschrieben.

Wie sollen sich Menschen in Siegfrieds Zustand wohl selbst mit Wasser versorgen oder gar ein Dampfbad zubereiten? Ohne gesunde Angehörige sieht es mies aus für die meisten Kranken.

Im Netz stöberte Iris nach den neuesten Forschungsergebnissen, in der Erwartung, dass vielleicht schon jemand den Erreger entdeckt hatte. Bisher sah es aber überall aus wie bei Iris. In vielen Labors war es außerdem zu Ausfällen bei den Forschern gekommen, die inzwischen auch krank darnieder lagen. Oh je, hoffentlich passiert uns das nicht. Ich muss den Erreger finden, bevor uns die Pneumonie niederstreckt. Unbedingt! Und ein Heilmittel! Ein einfaches Heilmittel muss es sein, das von wenigen Personen ohne komplizierte Maschinen hergestellt werden kann. Wie sollen wir das nur bewerkstelligen?

Nach überraschend kurzer Zeit betrat Igor die Küche und hielt triumphierend ein elektronisches Bauteil hoch.

"Kaputt!"

"Gar nicht gut! Kannst du es reparieren?"

"Ne."

"Haben wir ein Ersatzteil oder kannst du eins besorgen?"

"Hm."

Igor legte das angeschmorte Bauteil vor Iris auf den Küchentisch und holte eine Strickmütze aus seinem Zimmer. Dann verließ er das Labor durch den Hinterausgang.

Hoffentlich bekommt er da draußen keinen Ärger. Schließlich herrscht Ausgangssperre. Na ja, wenn es einer schaffen kann, dann Igor. Wo steckt wohl Martin? Bestimmt bei Siegfried.

Tatsächlich war Martin im Krankenzimmer und bettete gerade Siegfried um. Iris half ihm, Siegfried umzudrehen. Sie war entsetzt über den Zustand ihres Patienten. Objektiv betrachtet hatte sich zwar nichts verändert, aber man konnte ihm ansehen, dass er durch den Kampf ums Atmen entkräftet war. Sein Gesicht war grau vor Sauerstoffmangel.

Nach dem Umbetten wurde Iris nicht mehr im Krankenzimmer gebraucht und war froh, wieder entkommen zu dürfen. Sie stöberte weiter im Netz und las sich die Meldungen in einem speziellen Medizinerforum durch, wo sich die Forscher untereinander weiterhalfen. Als sie alles gelesen hatte, schrieb sie ihre eigenen bisherigen Ergebnisse auf. Vielen der anderen Wissenschaftlern ging es ähnlich wie Iris. Sie hatten begleitende Sekundärerreger gefunden, aber dem eigentlichen Verursacher der Pandemie war noch keiner auf der Spur.

Diejenigen, die Kontakt zu Patienten hatten, natürlich in Schutzanzügen, berichteten davon, dass die Übertragungswege nach wie vor ein großes Rätsel darstellten. Zuviele der Erkrankten, die man befragen konnte, hatten im typischen Zeitraum der Inkubationszeiten für Erkrankungen der Atemwege keinen Kontakt zu anderen Kranken gehabt. Außerdem war es mysteriös, wie sich die Erkrankung so schnell ausbreiten konnte, wie es der Fall war. Iris gähnte.

Die Kobolde hatten sich um Iris herum aufgebaut und grinsten sie an. Iris war erleichtert, dass sie eine gewisse Distanz hielten und Iris nicht angriffen. Eigentlich sahen die kleinen Kerle ganz lustig aus, fast schon niedlich. Auf jeden Fall harmlos. Warum hatte sie sich so vor ihnen gefürchtet? Die Kobolde lächelten Iris freundlich zu und zwitscherten unverständliche Worte. Gerne hätte Iris sie verstanden. Sie streckte ihre Hand aus, um einen der Kobolde zu berühren, doch er hüpfte kichernd zur Seite. Auch der nächste ließ sich nicht anfassen. Iris gab es auf, in körperlichen Kontakt mit den kleinen Geschöpfen zu treten. Stattdessen versuchte sie zu zwitschern, ähnlich wie die Kobolde, in der Hoffnung, ins Gespräch mit ihnen zu kommen. Begeistert antworteten die Kobolde und hüpften vor Freude auf und ab. Iris begann, sie lieb zu gewinnen. Doch da sah sie im Augenwinkel, wie einer der Kobolde seine Maske absetzte und dahinter diabolisch lachte. Er sah zum fürchten aus, egal wie klein er war. Als Iris den Kopf drehte, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen, setzte der Kobold die Maske blitzschnell wieder auf.

"Hm!"

Iris fuhr auf. Igor stand vor ihr und hielt ihr ein neues Bauteil für das Mikroskop hin. Iris rieb sich die Augen und streckte ihren schmerzenden Rücken durch. Schon wieder bin ich im Sitzen eingeschlafen. Das wird noch zur Gewohnheit. Ob ich jetzt wohl wach bin? Mal kneifen! Ja, tut weh.

"Oh Igor! Du hast es mal wieder geschafft, wie ich sehe. Baust du es jetzt noch ein, das Teil, damit ich weiterarbeiten kann?"

"Hm."

Ehe sich Iris versah, war Igor im Labor verschwunden. Zur Aufmunterung aller kochte Iris einen Kaffee und brachte eine Tasse ins Krankenzimmer. Martin schreckte aus dem wohlverdienten Schlaf und Iris überlegte kurz, ob sie sich wieder zurückziehen sollte.

"Ah, ich rieche Kaffee! Sehr gut! Es wird sowieso Zeit, Siegfried mal wieder umzubetten. Packst du mit an?"

Iris stellte die Tasse auf einen Tisch und half Martin, Siegfried umzudrehen. Dann gingen die beiden in die Küche, Martin mit der Tasse in der Hand.

Ob ich dem Igor jetzt gleich den Kaffee bringen soll? Ne, dann fühlt er sich bestimmt beim Schrauben gestört. Wenn die Reparatur nicht allzu lange dauert, will er bestimmt erst anschließend etwas trinken.

Schweigend tranken Iris und Martin ihre Tassen leer. Iris dachte an ihren merkwürdigen Traum.

Schnuppernd betrat Igor nach kurzer Zeit die Küche und füllte sich eine Tasse. Er nickte Iris zu.

"Hast du das Mikroskop schon fertig repariert?"

"Hm."

Hastig verließ Iris den Raum und setzte sich mit neuem Forschungseifer an das Elektronenmikroskop. Vergrößern wollte ich. In dieser Probe sind echt zuviele von den Coronaviren, um begleitende Erscheinungen zu sein. Ja, sehr schön. Sieht wirklich aus wie Erkältungserreger, auch bei stärkerer Vergrößerung. Aber sind es wirklich normale Erkältungsviren?

Der Traum schoss Iris durch den Kopf.

Noch näher ran! Sieht wirklich ganz harmlos aus. Tausendmal gesehen, im Laufe der Jahre. Aber sind sie nicht ein klein wenig untypisch?

Iris' Herz schlug schneller. Ob sie dem Rätsel auf der Spur war?

Die Virenjägerin

Die Seuchen in der Geschichte der Menschheit
von Jacques Ruffie, Jean-Charles Sournia

Vollautomatisch
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Die Virenjägerin
Die Virenjägerin

208 Seiten
ISBN 3-938764-02-3

Preis: 14.80 Euro

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