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Die Virenjägerin

Kapitel 15


  
wieder woanders, da draußen...

Schwester Birgit wischte sich den Schweiß von der Stirn. Durch die lästige Maske konnte sie so schlecht atmen und die vielen fiebernden Menschen ließen die Raumtemperatur in unangenehme Höhen steigen. Die Gänge zwischen den Feldbetten waren so schmal, dass Birgit kaum durch kam. Doch sie musste Wasser verteilen, denn die Patienten schwitzten enorme Mengen Flüssigkeit aus. Ohne Wasserzufuhr würden sie verdursten. Die Tropfflaschen waren schon alle verbraucht, denn mit so einem Andrang hatte keiner gerechnet.

Eine ältere Frau war ihre nächste Patientin. Birgit füllte den Plastikbecher, der neben der Pritsche stand, halb voll und hockte sich neben die Frau. Ihrem Arm schob sie unter den Oberkörper der Kranken und stützte sie dadurch soweit ab, dass sie trinken konnte. Die Frau war jedoch halb bewusstlos, wie die meisten der Patienten, und konnte nicht koordiniert trinken. Daher musste Birgit ihr das Wasser in Minischlucken einflößen. Die Trinkmenge, die ihr Birgit innerhalb von fünf Minuten einflößen konnte, entsprach nicht mal einem halben Becher. Birgit bezweifelte, dass sie an diesem Tag noch einmal Zeit für diese Patientin haben würde, denn eine Schwester nach der anderen war ausgefallen und die Patienten wurden immer mehr. Bevor Birgit weiterging, wischte sie der Frau noch mit einem feuchten Tuch über die Stirn.

Wann kam nur endlich die Unterstützung vom Militär? Schon gestern war ihnen versprochen worden, dass Materialien und Helfer kommen würden. Aber bisher gab es keine Spur von ihnen.

Neben der Frau lag ein kleiner Junge, dessen Gesicht grau angelaufen war. Die Lippen waren tieflila. Er hechelte um sein Leben. Birgit wusste, dass er unbedingt Sauerstoff brauchte, um überleben zu können. Aber es gab keine Sauerstoffgeräte mehr. Ohne Sauerstoff musste der Junge sterben. Ob wohl irgendwo ein Sauerstoffgerät frei geworden war? Birgit erschrak über sich, denn ein frei werdenden Sauerstoffgerät würde bedeuten, dass derjenige, der es vorher benutzt hatte, gestorben war. Dass ein Patient es nicht mehr brauchte, war völlig ausgeschlossen, so schlimm war die Krankheit.

Was sollte Birgit nur mit dem Jungen machen? Sie wischte ihm über die Stirn und benetzte seine Lippen. In der Hoffnung, dass es seine Lunge ein wenig befreien würde, richtete sie ihn auf und klopfte ihn sorgfältig ab. Ein dickes Kissen müsste man haben, um ihn dauerhaft aufzurichten, dachte sich Birgit. Aber sie konnte schon froh sein, dass es überhaupt ein Feldbett für ihn gab.

Das Abklopfen schien gewirkt zu haben. Birgit hatte den Eindruck, dass der Junge nicht mehr ganz so livide aussah. Sie versuchte, ihm etwas Wasser einzuflößen, und siehe da: er schluckte. Mit viel Mühe gelang es Birgit, ihm einen halben Becher voll zu geben. Dann klopfte sie ihn noch einmal ab. Bedauernd legte sie ihn anschließend wieder flach hin, wohl wissend, dass ihm das Atmen dann wieder schwerer fallen würde, aber sie musste dringend weiter. Sie hatte schon viel zuviel Zeit mit dem Jungen verbracht. Zeit, die ihr bei anderen Patienten fehlen würde.

Der Mann neben dem Jungen war wenigstens in der Lage richtig zu schlucken. Birgit war erleichtert. Als sie ihm die Stirn abwischte, riss er seine Augen auf und versuchte, ihr etwas zu sagen. Aber die schnelle Atmung behinderte seine Sprache, oder vielleicht war er auch wirr im Kopf vom hohen Fieber. Birgit verstand überhaupt nichts von den Lauten, die er ausstieß. Sie war nicht mal sicher, ob es überhaupt echte Worte waren. Der Mann rollte eindringlich mit den Augen und ergriff Birgit am Ärmel. Was sollte sie bloß tun?

Birgits Blick schweifte über den Raum, der normalerweise die Empfangshalle der Klinik war, jetzt aber zum Massenlager umfunktioniert worden war. Wenn sie in diesem Tempo weiter machte, würde sie bis zum Einbruch der Dunkelheit nicht mal die Menschen dieses Lagers versorgen können. Nicht ein einziges Mal. Aber auch in den Gängen des Erdgeschosses warteten noch viele Menschen auf sie. Menschen, deren letzter Schluck Wasser auch schon viele Stunden zurücklag. An Medikamente mochte Birgit gar nicht denken, denn die waren schon lange verbraucht. Das einzige Zugeständnis an irgendeine Hygiene waren die Plastikbecher, die noch vom letzten Fest zugunsten der Krebskinder übrig gewesen waren und im Keller auf ihren Einsatz gewartet hatten.

Nachdem Birgit eine Reihe weiterer Patienten versorgt hatte, wurde sie immer unruhiger. Wo blieb nur Doktor Wolff? Er war längst überfällig, um den schweren Fällen zu helfen. Vielleicht konnte er auch dem Jungen die Atmung erleichtern. Aber der Junge war nicht der einzige, dem es extrem schlecht ging. Es war wirklich dringend, dass Herr Wolff bald auftauchte.

Etwas später kam Birgit zu einer Patientin, deren Atmung sie nicht wahrnehmen konnte. Das Gesicht der Frau war grau angelaufen und Birgit sah nicht nur keine Atmung, sondern gar keine Bewegung. Die anderen Patienten wälzten sich alle unruhig auf ihren Lagern. War die Frau etwa tot? Birgit suchte nach einem Puls - nichts. Auch die Atmung konnte sie nicht entdecken, nicht mal einen schwachen Hauch. Was sollte Birgit bloß mit der Toten machen?

Herr Doktor Wolff musste her - dringendst. Birgit beschloss, aktiv auf die Suche nach ihm zu gehen.

Zuerst vergewisserte sich Birgit, dass niemand wach war und aktiv nach Wasser verlangte. Nein, alle waren zu sehr mit dem Atmen beschäftigt. Eigentlich müssten sie alle auf der Intensivstation liegen und beatmet werden. Stattdessen lagen sie hier und bekamen kaum einen Schluck Wasser.

Birgit verließ die Empfangshalle und betrat den Gang im Erdgeschoss. Auch hier konnte sie kaum fußen, um sich fortzubewegen.

Ein Mann starrte Birgit mit weit aufgerissenen Augen an und streckte seinen Arm nach ihr aus. Sie trat zu ihm, füllte seinen Becher und half ihm beim Trinken. Endlich mal jemand, der aktiv mittrank, freute sich Birgit. Nachdem er genug getrunken hatte, füllte sie ihm den Becher noch mal nach und stellte ihn wieder neben das Bett. Sie wischte ihm die Stirn ab und redete ihm gut zu. Bei diesem Patienten hatte sie wenigstens das Gefühl, ihm ein wenig geholfen zu haben.

Kaum wollte Birgit weitergehen, rief schon der nächste Patient nach ihr. Anschließend war ihre Kanne fast leer und sie arbeitete sich durch bis zum Schwesternzimmer, um das Wasser nachzufüllen. Dort lagen die Schwestern der Station, teilweise sogar auf dem Boden, und litten genauso wie die Menschen auf den Gängen. Kein Wunder, dass die Patienten hier nach Birgit verlangten.

Doch wo war Doktor Wolff? Vielleicht in den Patientenzimmern oder auf einer anderen Station.

Besorgt kümmerte sich Birgit um ihre Kolleginnen und füllte anschließend ihre Wasserkanne nach. Dann machte sie sich wieder auf die Suche. In einigen der überfüllten Zimmer wollte einer der Kranken Wasser, in den meisten Räumen schnauften die Patienten jedoch um ihr Leben, ohne Birgit auch nur zu registrieren.

Auf dem Weg zum letzten Zimmer der Station bäumte sich einer der Patienten auf. Er packte Birgit am Kittel und zog sich daran hoch. In seinen Augen stand Panik. Er röchelte. Birgit sprach beruhigend auf ihn ein, doch er schien sie nicht zu hören. Sie bot ihm Wasser an, doch auch das ignorierte der Kranke. Birgit dachte darüber nach, wie sie sich möglichst sanft wieder von dem violettgesichtigen Mann befreien konnte, als er anfing, unkontrolliert zu zittern. Seine Atmung setzte aus, dann brach sein Blick und das Zittern ließ nach. Die folgende Ruhe war Birgit unheimlicher als die Attacke des Sterbenden.

Wo war Doktor Wolff?

Es fiel Birgit schwer, bei den nächsten nach ihr rufenden Patienten ausreichend lange zu verweilen, um deren Durst zu stillen. Sie wollte unbedingt den Doktor finden. Ein Patient nach dem anderen starb und sie wusste nicht mal, was sie mit diesen Patienten anfangen sollte.

Schließlich fand Birgit Doktor Wolff.

Doch er war nicht damit beschäftigt, Patienten zu umsorgen, sondern lag schweißgebadet am Ende eines Ganges im dritten Stockwerk auf dem Fußboden. Wie die anderen Patienten keuchte er um sein Leben.

Birgit fühlte, wie etwas in ihr abstürzte.

War sie völlig allein in diesem Krankenhaus voller Sterbender? Wo blieb die Hilfe?

Ob im Behandlungszimmer Platz für den Doktor war? Nachdem sie den Arzt mit Wasser versorgt hatte, bahnte sich Birgit den Weg zum Behandlungsraum. Tatsächlich war die Untersuchungsliege leer. Birgit ging zurück zum Arzt, packte ihn unter den Schultern und zog ihn völlig würdelos bis zum Zimmer. Nur mit größter Mühe gelang es ihr, Herrn Wolff auf die Liege zu hieven. Fast wäre er ihren Armen entglitten und unsanft auf dem Boden gelandet. Doch schließlich lag Herr Doktor Wolff auf der schmalen Matratze, mit frisch gewaschenem Gesicht und einigen Schlucken Flüssigkeit in seinem Bauch.

Von der Anstrengung war Birgit inzwischen selbst über und über verschwitzt. Sie trank einen Schluck und wischte sich über die heiße, schmerzende Stirn.

Wie lange war sie jetzt schon im Dienst? Mindestens sechzig Stunden, ohne Pause. Sie war so müde und fühlte sich abgekämpft.

Birgit legte sich auf den Boden vor der Untersuchungsliege. Nur ein paar Minuten ausruhen.

Die Virenjägerin

Die Seuchen in der Geschichte der Menschheit
von Jacques Ruffie, Jean-Charles Sournia

Vollautomatisch
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Die Virenjägerin
Die Virenjägerin

208 Seiten
ISBN 3-938764-02-3

Preis: 14.80 Euro

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