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EMP - Ein Survivalroman

Kapitel 38


  
Den ganzen nächsten Tag über blieben Ronja, Anna und ihre Mitgefangenen in ihrem kalten Gefängnis. Nach und nach wurden es immer mehr Gefangene, sodass sie am Abend schon dichtgedrängt eingepfercht waren. Anna weinte viel an diesem Tag. Immer wieder fiel ihr der Teddy ein und wie grausam er niedergemetzelt worden war. Ronja konnte Annas Entsetzen gut nachempfinden, denn sie erinnerte sich noch genau, wie lebendig ihre Spieltiere früher für sie gewesen waren. Wenn ihre Brüder nur an einem Arm gezerrt hatten, hatte es Ronja schon so wehgetan, als wäre es ihr eigener Arm gewesen. Und Annas Teddy war wirklich grauenvoll zerfetzt worden.

Die üblichen Ablenkungsmethoden wie Unterricht oder Geschichtenerzählen halfen nur vorübergehend, aber immerhin beteiligten sich auch einige der Mitgefangenen an der Fortsetzungsgeschichte, sodass es insgesamt ein wenig Erleichterung brachte.

Gegen Mittag wurde ihnen ein offenes Fass mit Wasser hingestellt, das aber kaum ausreichte, um den Durst aller Gefangenen zu stillen. An Essen war gar nicht zu denken.

Die Nacht war ein unbequemes Gewühl aus kaltem Matsch und halbwarmen Leibern, die sich so eng wie möglich aneinander drängten. Ronja war inzwischen so verzweifelt, dass sie kaum noch klar denken konnte. Von einer Idee zur Flucht aus diesem Albtraum war sie meilenweit entfernt. Als einer der Mitgefangenen jedoch ein Gebet anstimmte, schloss sie sich gerne an, obwohl sie sonst nie viel Interesse an Gebeten gehabt hatte. Das Gebet beruhigte die Gefühle und gab ein irrationales Gefühl von Geborgenheit. Es handelte von einem Hirten und Schafen und Ronja fühlte sich wie ein Schaf, das sich an seine Mitschafe drängt, um dem Regen zu entgehen. Mit diesem Bild vor Augen schlief sie endlich ein.

Der Morgen dämmerte grau in grau und es war eher noch kälter als vorher, statt wie erhofft wieder ein bisschen sonniger zu werden. Die Zuversicht der Gefangenen war auf dem Nullpunkt. Sie machten sich nicht mal mehr Gedanken darüber, was wohl auf sie zukam, denn das wollten sie sich lieber nicht vorstellen.

Gegen Mittag wurde es plötzlich unruhig in der Umgebung. Ob wohl ein neuer Schwung Gefangener eintraf? Das war wohl eher nicht der Fall, denn bald konnten die Gefangenen sehen, wie die Wegelagerer mit erhobenen Händen ihre Baracke verliessen, bedroht von mehreren uniformierten Männern.

Ein Polizist mit zerknitterter Uniform öffnete die Tür ihres Gefängnisses und lud sie freundlich ein, das grässliche Gehege zu verlassen. Völlig zerzaust und verdreckt schlurften die Gefangenen nach und nach aus dem Gehege. Erst als die ersten zehn Gefangenen schon in Freiheit waren, dämmerte es den Gefangenen allmählich, dass sie befreit wurden und brachen zuerst zaghaft, dann immer fröhlicher in Jubel aus. Eine rundliche Frau mittleren Alters ergriff den völlig verdutzten Polizisten und gab ihm einen dicken Kuss auf den Mund.

Vor der Baracke der Räuber wurde ihre gesamte Beute ausgebreitet, damit jeder sich seine Besitztümer wieder zurückholen konnte. Die Verteilung der Gegenstände nahm ziemlich viel Zeit in Anspruch, denn die Gegenstände waren nach ihrer Beschaffenheit sortiert und nicht nach Besitzern. Stück für Stück fand Ronja ihre Rucksäcke wieder, dann auch die Kleider, Brieftasche, Taschenmesser, Schlafsack und dergleichen. Zur Stillung des ersten Hungers gab es keksartige Riegel, die den Bauch auf freundliche Weise anfüllten.

Ein bisher unbekannter Soldat kam auf Ronja und Anna zu, als sie gerade dabei waren, ihre Rucksäcke wieder voll zu packen.

"Bist du Anna aus Berlin?", fragte er.

"Ja.", antwortete Anna und sah den jungen Mann etwas verängstigt an.

"Hier, das soll ich dir geben.", sagte er und übergab Anna einen grossen Teddybär.

Anna war sprachlos, denn dieser Teddy glich ihrem zweitliebsten Teddy aufs Haar. Sie hatte bittere Tränen geweint, als klar geworden war, dass sie ihn in Berlin lassen musste. Der Teddy roch sogar wie ihr eigener Teddy.

Ronja erholte sich schneller von ihrem Staunen und fragte den Soldaten: "Danke vielmals. Wo haben sie den Teddy denn her?".

"Keine Ahnung wo der herkommt. Er wurde mir mitgegeben, als wir zu diesem Einsatz aufbrachen. Das ist alles.", antwortete der junge Mann.

Anna war es ziemlich egal, wo der Teddy herkam, Hauptsache er war da und sie konnte ihn knuddeln. Der graue Schatten, der sie seit der Vernichtung ihres anderen Teddys umgeben hatte, wich langsam von ihr. Sie konnte sogar schon wieder etwas lächeln.

Diejenigen Gefangenen, die in der Nähe wohnten, verliessen den Ort des Schreckens einer nach dem anderen. Die anderen, die auf der Flucht waren, wussten nicht so recht wohin sie gehen sollten, so verdreckt und durchgefroren wie sie waren.

Der freundliche Polizist, der sie befreit hatte, kümmerte sich um die verbliebenen zwanzig Gefangenen und bot ihnen an, die Nacht in einem Nachdorf zu verbringen. Dort wäre eine kleine Polizeistation, die ihnen einen provisorischen Unterschlupf bieten konnte. Mit verschiedenen Fahrzeugen gelangten sie zu dem Dorf. Die Polizeistation war wirklich sehr klein, aber sie hatte einen Speiseraum, der genug Platz für alle bot. Einer nach dem anderen durfte die kalte Dusche benutzen und bald hingen lauter notdürftig gewaschene Kleider über allem, was man als Wäscheständer benutzen konnte.

Eine der Polizisten-Ehefrauen brachte einen grossen Topf mit dampfendem Eintopf, den sich die Flüchtlinge gerne schmecken liessen. Mit den Polizisten, die mitassen, kamen sie ins Gespräch und Ronja fragte, was sie schon eine ganze Weile verwundert hatte: "Waren das jetzt eigentlich Soldaten oder Polizisten, die uns befreit haben? Ich kann das irgendwie gar nicht richtig auseinanderhalten, ausser, wenn Sie Ihre weissen Mützen aufhaben.".

"Zur Zeit ist das auch gar nicht so leicht, denn wir sind froh über jeden der mithilft, darum arbeiten wir momentan sehr viel zusammen. So war das auch bei ihrer Befreiung. Die Soldaten übernehmen normalerweise eher die Feindkontakte und wir kümmern uns um die Zivilisten, aber auch das gerät manchmal durcheinander. Ich bin auf jeden Fall ein Polizist, wie man auch an meiner Mütze erkennen kann.", dabei deutete er auf seine typische Polizisten-Mütze, die über der Stuhllehne baumelte. Die Mütze hatte auch schon bessere Tage gesehen, war aber noch ganz eindeutig als Polizisten-Mütze zu erkennen.

Ronja bedankte sich mit einem Lächeln und wurde dann von einem anderen Gesprächsthema eingefangen, bei dem es sich um ihre Weiterreise drehte. Ein Gerücht besagte, dass einer der Dorfbewohner mit seinem leistungsstarken Traktor und einem grossen Anhänger am nächsten Tag nach Karlsruhe Durlach fahren wollte, um dort Verwandte abzuholen. Das wäre eine optimale Mitreisegelegenheit für die Flüchtlinge, deren nächstes Ziel sowieso Karlsruhe war.

Tatsächlich entsprach das Gerücht der Realität und so wurde ihre Weiterreise für den nächsten Tag vereinbart.

Die Fahrt auf dem Anhänger hatte durchaus ihre reizvollen Seiten, denn sie hatten eine gute Rundum-Sicht. Auch der Fahrtwind war deutlich zu spüren, was der Fahrt etwas wildromatisches gab, wenn man die Haare der Mitreisenden im Wind flattern sah. Erträglich war die Fahrt aber nur, wenn man sich dicht in den Schlafsack einwickelte und eng zusammenrückte. Gegen das starke Rütteln der schlechten Federung gab es gar keinen Schutz. Aber keiner beschwerte sich, als nach einer guten Stunde Fahrt alle Knochen wehtaten, denn zu Fuss hätten sie für die Strecke bis nach Karlsruhe bestimmt drei Tage gebraucht.

Auch so waren sie bis zum Nachmittag unterwegs, um ihr Ziel zu erreichen. Ihr Fahrer hielt vor dem Ortsteil Durlach an, denn er sagte, dass es drinnen zu gefährlich sei. Seinen Traktor brachte er samt Anhänger in der Nähe einer Kleingarten-Anlage an eine schlecht einsehbare Stelle und verabschiedete sich von den Flüchtlingen, denn sein Weg führte ihn jetzt zu seinen Verwandten.

Für Ronja und Anna kam jetzt auch die Stunde des Abschieds, denn alle anderen wollten weiter bis nach Karlruhe zum Bahnhof, um von dort aus weiter nach München zu gelangen. Ronjas nächstes Ziel war jedoch Ettlingen, denn dort lebte einer der Netz-Teilnehmer, die sich bereiterklärt hatten, ihnen bei der Reise behilflich zu sein.

Die Wanderung so ganz allein mit Anna war eine echte Umstellung von der Gruppenwanderung zuvor. Sie fühlte sich sehr schutzlos. Und das auch noch mit einem kleinen Kind an der Hand. Tapfer stimmte sie ein Wanderlied an, was half, die trüben Geister zu vertreiben. Nach einer Weile erschien es beiden, als wäre es ganz normal, an einem kühlen Herbsttag von einer unbekannten Stadt zur nächsten zu wandern.

Im letzten Tageslicht erreichten sie die ersten Häuser von Ettlingen. Bis sie das Haus der unbekannten Freunde jedoch gefunden hatten, war es stockdunkel geworden. Nur mit Mühe und im Schein ihrer schwächelnden Taschenlampe konnte Ronja das Strassenschild entziffern. Dann standen sie vor dem Haus und waren sich sehr unsicher, ob sie hier willkommen waren, ob es überhaupt das richtige Haus war. Ein schweres übermannshohes Tor, das der einzige Durchgang durch eine hohe Mauer war, versperrte ihnen den Blick auf das eigentliche Haus.

Ronja drückte auf die Klingel, woraufhin wie fast erwartet nichts geschah. Dann klopfte sie erst vorsichtig mit den Fingern, anschliessend mit der ganzen Faust gegen das Tor. Dieses war jedoch so stabil gebaut, dass Ronja ihm kaum ein Geräusch entlockte.

Nur Sekunden später hörte sie jedoch Hundegebell, das schnell näherkam. Ronja sprach mit freundlicher Stimme auf die übereifrigen Hunde ein, um sie von ihrer freundlichen Absicht zu überzeugen.

Eine befehlsgewohnte männliche Stimme rief die Hunde zurück und fragte, was die Besucher wollten.

"Wir sind Ronja und Anna aus Berlin. Vielleicht haben Sie schon von uns gehört.", antworte Ronja, der reichlich mulmig zumute war.

"Ah, ihr seid das. Endlich. Da werden sich eure Eltern aber freuen.", knarrend ging das schwere Tor auf und der Hausherr begrüsste sie wie alte Freunde.

Im Haus erwartete sie eine überschwängliche Hausfrau, die voller Entzücken sogleich die Zubereitung eines leckeren Essens in Angriff nahm. Der Hausherr bot ihnen etwas zu trinken an und setzte sich zu ihnen in das bequeme Wohnzimmer. Mehrere Lampen, die anscheinend mit Duftöl betrieben wurden, erweckten einen fast weihnachtlichen Eindruck.

"Das ganze Netz war ausser sich vor Sorge, als ihr nicht in Karlsruhe angekommen seid. Aber dann hat sich dieser merkwürdige Josh gemeldet und seit gestern abend wissen wir, dass ihr am Leben seid. Wir sollten euren Eltern gleich schreiben, dass ihr gut hier angekommen seid.", sprachs und setzte sich sofort an einen Computer, dem er mit hoher Geschwindigkeit einhämmerte, was er zu sagen hatte.

"Vor dem Essen könnt ihr gerne noch duschen. Für ein heisses Bad reichen unsere Möglichkeiten nicht, aber eine heisse Dusche ist drin.", bot er den Reisenden an.

Dieses Angebot war überaus verlockend, denn seit Wochen war alles Wasser immer kalt gewesen, das ihnen zur Reinigung zur Verfügung gestanden hatte. Unter dem warmen Rieseln floss nicht nur der Reisedreck von ihren Körpern, sondern auch ein Teil des Schreckens, den sie erlebt hatten. Die Haare fühlten sich wieder richtig seidig an, als sie wieder frisch gewaschen und gekämmt waren. Nach dem hervorragenden Essen fühlten Ronja und Anna sich wie im Paradies.

Das Beste war jedoch die Aussicht auf den nächsten Tag, denn ihr Gastgeber hatte beschlossen, seinen alten Benz aus der gut geschützten Garage zu holen und sie zum nächsten Netzteilnehmer auf ihrer Route zu fahren. Seinen Netzfreund wollte er sowieso schon länger persönlich kennenlernen und ausserdem wollte er ihm ein technisches Gerät mitbringen, das jenem noch bei seiner Ausrüstung fehlte. Auf diese Weise war ihre Weiterreise wieder einmal für einen Tag gesichert.

Unterwegs im Benz ihres Gastgebers war es sehr bequem und irgendwie bizarr, denn die scheinbare Normalität einer Autofahrt stand in krassem Widerspruch zur Ruhe auf den Strassen, die teilweise jedoch nur eine Slalomfahrt zuliessen, weil immernoch kaputte Autos im Weg standen. So dauerte es auch bis zum späten Nachmittag, bis sie das Haus des nächsten Netzfreundes in der Nähe von Achern erreichten.

Auch hier wurden sie freundlich willkommen geheissen und bewirtet. Die beiden Netzfreunde verschwanden bald im Funkraum, um gemeinsam an der Anlage zu werkeln, jedoch die Frau des neuen Gastgebers war sehr interessiert an der Geschichte ihrer Flucht.

Von Achern aus zu den nächsten Netzteilnehmern gab es leider keine Mitfahrgelegenheit, denn die Acherner hatten kein funktionierendes Auto, sonst hätten sie die beiden Reisenden sehr gerne ein paar Kilometer weiter in den Süden gebracht.

Einen strammen Tagesmarsch zu Fuss wohnte jedoch schon der nächste Netzfreund und diesem wurden sie für den nächsten Abend angekündigt. Überhaupt ging ihre Reise durchs Oberrheintal durch das ganze Funknetz und alle drückten ihnen Tag für Tag die Daumen.

Um die Wanderung zu erleichtern, schenkte der neue Gastgebern jedem der beiden am nächsten Morgen einen handgeschnitzten Wanderstock. Der kleine passte von der Grösse her genau zu Anna.

Der Tag war sonnig, aber frisch, also zum Wandern wie geschaffen. Weil Ronja sich bezüglich ihres Tageszieles sicher war, denn auch die anderen Netzteilnehmer hatten sich als gute Freunde erwiesen, konnte sie die Wanderung relativ unbeschwert geniessen. Auch Anna hatte die harten Tage der Gefangenschaft gut überstanden und lernte freudig die ganzen Wanderlieder, die Ronja ihr beibrachte.

Mitten in der freundlichen Mittagssonne wurden sie plötzlich von finster dreinblickenden Männern an einem Dorfeingang angehalten.

"Was wollt ihr hier?", fragte einer der beiden barsch und hob seine Waffe.

Ronja erschrak fast zu Tode und Anna versteckte sich hinter ihrem Rücken, was in Anbetracht der Situation bestimmt eine sinnvolle Massnahme war.

"Wir sind nur auf der Durchreise.", versuchte Ronja mit möglichst fester Stimme zu antworten, was ihr auch teilweise gelang.

"Auf der Durchreise. Wer glaubt denn sowas. Bestimmt wollt ihr bei uns plündern gehen. Aber nicht mit uns.", herrschte der Mann sie an.

"Wir wollen wirklich nur durch ihr Dorf durchgehen. Unsere Eltern warten südlich von Freiburg auf uns.", sagte Ronja, um den Mann milder zu stimmen.

"Sollen wir ihr das glauben?", fragte der unfreundliche Mann seinen Kollegen, der kurz nickte. "Also gut, ihr könnt durchgehen, aber mein Kumpel hier begleitet euch bis zum Dorfausgang. Und dass ihr mir ja nichts anrührt.".

Ronja und Anna versicherten hochheilig, dass sie nichts anrühren würden und wurden dann durch das Dorf geführt. Hinter manchen Fenstern sahen sie neugierige Blicke, die ihrem Weg folgten.

Endlich hatten sie das feindselige Dorf hinter sich gelassen. Die nächsten Kilometer verliefen nicht so fröhlich, wie die Wanderung am Morgen. Der Schreck sass ihnen noch in den Knochen. Ronja versuchte Anna zu erklären, dass es ganz normal sei, dass die Dorfbewohner ihr Dorf schützen wollten, aber ihr wurde schnell klar, dass sie es auch für sich selber erklärte.

Im Dorf ihres nächsten Gastgebers wurden sie freundlicher begrüsst, aber auch hier standen Wachtposten an den Ortseingängen. Einer der Wachtposten brachte sie zum Haus des Netzteilnehmers, der den Besuch schon erwartete. Ihre Ankunft wanderte wie jeden Tag durch das Netz. Ronja wurde bedrängt, ihre Reise als Geschichte aufzuschreiben, wenn sie ihr Ziel mal erreicht hatten. Denn es war eine wunderbare Geschichte, um zu zeigen, wie nützlich das Funknetz auch im echten Leben war.

Die nächste Station war Fritz. Vom Gefühl her war das schon fast so gut, wie ihr eigentliches Ziel. Die Reise wäre zwar noch nicht beendet, aber immerhin waren sie dann schon bei ihrer Familie angekommen, wenn auch nur bei einem ihrer Mitglieder.

Fritz wollte ihnen ein Stück entgegenkommen, damit sie möglichst bald männlichen Schutz an ihrer Seite hatten.

Und so kam Ronja gegen Mittag ihr kleiner Bruder entgegen, der schon von weitem so viel kräftiger und reifer wirkte, dass sie ihn kaum erkannte. Anna erkannte ihn jedoch schon von Weitem und rannte ihm entgegen. Wie sie es von ihrem Onkel kannte, rannte er auch auf sie zu und schleuderte sie dann ein paar Runden im Kreis, was sie mit lautem Juchzen quittierte.

Als Ronja bei den beiden ankam, versuchten sie sich gerade vom Schwindel zu erholen, der sie durch die schnellen Drehungen befallen hatte. Ronja nahm ihren Bruder herzlich in den Arm. Es kam ihr vor, als wäre sie noch nie so froh gewesen, ihn zu sehen.

Ein kurzes Stück Weg weiter in Richtung Ziel stand ein Handwagen, den Fritz stehengelassen hatte, als er auf Anna zurannte. In diesen Handwagen konnten sie nicht nur ihr schweres Gepäck räumen, sondern Anna konnte sogar darin Platz nehmen und wurde von ihrem Onkel gezogen. Auf diese Weise kamen sie schnell voran und schon am frühen Abend erreichten sie das Haus von Fritz.

"Darf ich euch meine neue Freundin Alice vorstellen.", sagte Fritz strahlend, als sie das Wohnzimmer betraten. Eine freundlich lächelnde junge Frau sass auf dem Sofa und stand auf, um Ronja und Anna zu begrüssen. Fritz und Alice blieben dann förmlich aneinander kleben, als wollten sie sich nie wieder trennen. Eng aneinandergekuschelt sassen sie auf dem Sofa, auf dem auch Ronja und Anna es sich gemütlich machten. Angesichts dieser durstigen Verbundenheit der frisch Verliebten fand Ronja es ausgesprochen grosszügig von Alice, dass sie ihren Liebsten einen ganzen Wandertag lang freigegeben hatte.

Nach einer köstlichen Pizza, die Alice während ihres Alleinseins gezaubert hatte, erzählte Fritz den beiden Reisenden von seinem Plan. Zwar wollte er Anna und Ronja unbedingt bis zu seinen Eltern begleiten, damit ihnen auf dem letzten Wegstück nichts mehr passieren würde, aber so lange wollte er sich nicht von Alice trennen, wo er sie doch gerade erst kennen- und liebengelernt hatte. Also würde sie mitkommen. Da die beiden es offenbar sehr ernst miteinander meinten, wollte Alice auch gerne Fritz Eltern kennenlernen. Als nächstes Ziel war ein Freund in der March angepeilt, denn es schien ratsam Freiburg zu umgehen, weil es dort immer mal wieder Unruhen gab.

Der überaus dankbare Bürgermeister und Herr Ganter hatten Fritz versprochen, auf sein Haus aufzupassen und ihm mehrmals versichert, dass sie ihn bei der weiteren Organisation der Stadt durchaus für ein paar Tage entbehren zu könnten. Den Jugendlichen hatte Fritz die Funktion des überregionalen Funknetzes erklärt, sodass die Verbindung auch während der Reise zu den Eltern nicht abreissen würde.

Durch den grossen Handwagen wurde die Wanderung am nächsten Tag zum Vergnügen, denn das ganze Gepäck passte hinein und Anna konnte auf einem weichen Kissen thronen, während einer der Erwachsenen den Wagen zog. Ronja erkannte, dass Alice mit ihren goldblonden Locken fast engelsgleich aussah, was Ronja immer zur Vorsicht mahnte, aber durchaus ein sehr freundliches, offenes Wesen hatte. Irgendwie war hier wohl das seltene Kunststück gelungen, dass offensichtliche Schönheit nicht den Charakter verdarb. Ronjas Bruder schien Alice wirklich von Herzen zugetan zu sein. Von Stunde zu Stunde gewann sie Alice lieber und bis zum Abend konnte sie sich sogar vorstellen, eine Freundin von Alice zu werden.

Der hoffentlich letzte Tag der Reise brach sonnig an, der Handwagen rollte wie geschmiert über die Strasse und die Wanderlieder funktionierten teilweise sogar schon im Kanon, als die Reisenden durch den Morgen wanderten.

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Den ganzen Tag über wuselte ich wie von wilden Bienen umhergescheucht durch das Haus. Die letzten Stunden Wartezeit waren noch schlimmer als die ganzen Wochen der Ungewissheit, seit wir wussten, dass Ronja auf dem Weg zu uns war. Mein Gefühlsleben war seitdem ein einziges Auf und Ab gewesen. Bestimmt war das mit ein Grund gewesen, der Felix heute zusammen mit Michael Friedrich in den Wald getrieben hatte. Bei der schweren Arbeit verging die Zeit bestimmt auch schneller, als beim rastlosen Wuseln im Haus.

Aber für etwas anderes fehlte mir an diesem Tag sowieso der Verstand. Ein Willkommens-Essen war längst vorbereitet, auch die zukünftigen Zimmer von Ronja, Anna und das Gästezimmer für die beiden Jungverliebten hatte ich mehrmals überprüft.

Auf Alice war ich schon sehr gespannt. Sie hatte Fritz offenbar im Sturm erobert. Das klang schon fast so, als könnte sie bald meine Schwiegertochter und Mutter meiner Enkel werden. Fritz hatte natürlich nur Gutes über sie berichtet, aber das war ja normal bei Verliebten. Aber auch Ronja hatte in einer ihrer kurzen Nachrichten erwähnt, dass Alice sehr zur guten Laune von Anna beitragen würde, wofür sie ihr sehr dankbar sei. Immerhin kamen sie wohl gut miteinander aus.

Zur Ablenkung hatte ich mich gezwungen, mir einen an sich sehr spannenden Roman vorzunehmen, denn ich rechnete erst in mehreren Stunden mit den Heimkehrern. Das Lesen fiel mir jedoch ausnahmsweise sehr schwer und meine Gedanken schweiften immer wieder ab. Ob ihnen wohl noch etwas gefährliches passieren könnte unterwegs? Bei jedem Geräusch im Hof schrak ich zusammen, doch es waren nur die normalen Geräusche des Hauses.

Gerade war ich bei einer spannenden Stelle angekommen, als ein Geräusch nicht wie zuvor verebbte. Ob Felix so früh schon wieder heimgekommen war?

Ich stand auf und ging an die Tür, denn abwarten konnte ich die Ungewissheit nicht. Und siehe da: Im Hof standen Ronja, Anna, Felix und eine mir unbekannte hübsche Frau.

Vor lauter Freude wusste ich kaum, wen ich zuerst umarmen sollte; schliesslich umarmte ich alle irgendwie gleichzeitg. Tränen der Erleichterung flossen unhaltbar aus meinen Augen, aber die Ankömmlinge konnten meine starken Gefühle offenbar teilen.

Alice stand etwas abseits von der überschwänglichen Familienumarmung, aber sobald ich bereit war, mich aus der Umarmung zu lösen, ging ich auf sie zu, nickte kurz, um es nicht zu überstürzen und nahm sie auch in den Arm. Dann hielt ich sie auf Armeslänge und fragte: "Du bist bestimmt Alice.", woraufhin sie nickte und mir ein schier umwerfendes Lächeln schenkte. Dieses Lächeln machte es leicht, sie gern zu haben.

Drinnen versorgte ich alle mit Getränken und Kuchen, denn für ein richtiges Abendessen war es noch zu früh. Zwischendrin schrieb ich noch eine Kurznachricht ins Netz, dass sie gut angekommen seien, denn dort sassen alle schon auf heissen Kohlen.

Dann war Zeit für die ersten Kurzerzählungen, denn die Langfassung musste natürlich warten, bis auch Felix heimgekommen war. Ronja und Anna erzählten abwechselnd von ihren Erlebnissen, die so aufregend waren, dass es mir fast recht war, erst jetzt von den Details zu erfahren, wo ich sie lebendig vor mir sitzen sah. Sie waren gerade bei der Gefangennahme am Neckar angekommen, als Piepstöne signalisierten, dass eilige Nachrichten angekommen waren. Es handelte sich um Glückwünsche und Grüsse von Nanni und CityGuy aus Frankfurt und auch Ulli hatte seiner Freude und Erleichterung Ausdruck gegeben.

Nachdem Ronja und Anna die Kurzfassung ihrer Odysse beendet hatten, wandte ich mich an Alice und fragte: "Und wie habt ihr euch kennengelernt? Fritz hat das was Mysteriöses anklingen lassen.".

Fritz antwortete an Alice Stelle: "Ja, es war ganz merkwürdig, denn ich hatte schon von ihr geträumt, bevor ich sie kennenlernte. Und dann stand sie da, mit meinem Armband am Handgelenk, genauso, wie ich sie im Traum gesehen hatte, nur freundlicher.".

"Ja, und als er so dastand,", griff Alice den Faden der Geschichte auf, "mit seiner Armbrust in der Hand, nachdem er die ganze Stadt von diesem Unhold befreit hatte...".

Plötzlich stand Felix in der Tür und rief "Hallo miteinander!". Dann umarmte er zuerst seine langvermisste Tochter und seine Enkeltochter, um anschliessend Fritz kumpelhaft auf die Schulter zu schlagen und seine angehende Schwiegertochter mit einer Mischung aus Handschlag und Umarmung zu begrüssen.

Als der Begrüssungen Genüge getan war, baute Felix sich plötzlich vor Fritz auf und fragte: "Du hast was? Die Stadt gerettet? Ohne mir Bescheid zu sagen? Dann erzähl mal!".

Wie befohlen berichtete Fritz mit eher dürren Worten von der Befreiung der Gefangenen und der Tötung des Gangsterbosses und seiner Leibwächter. Alice sprang immer mal wieder mit ein paar ausschmückenden Erklärungen bei, die offensichtlich zum Ziel hatten, die Heldenhaftigkeit von Fritz Handeln zu unterstreichen. Fritz wandt sich eher bei diesen Ergänzungen und man konnte ihm deutlich anmerken, dass ihm die schlichte Version lieber gewesen wäre. Aber seine Zuhörer waren gnadenlos und wollten auch die Details hören.

Als Fritz seine Geschichte beendet hatte, fagte Felix: "Und warum hast du uns nichts davon erzählt, als du dir das ausgedacht hast? Ok, ich versteh schon, weil ich versucht hätte, es dir auszureden und weil es deine Mutter in zusätzliche Ängste versetzt hätte.".

Fritz nickte und sagte: "Ich wollts dir von Auge zu Auge erzählen, wenn ich es hinter mir hab und deine vernünftigen Einwände hätte ich in der kritischen Zeit nicht brauchen können. Mir war das Ganze selbst schon fast zu unheimlich, um es zu riskieren. Nun, du kannst mit deiner Standpauke beginnen.".

"Wie kann ich einem Held eine Standpauke halten?", sagte Felix und grinste. "Lasst uns ausnahmsweise zur Feier des Tages eine Flasche Sekt öffnen und die Heimkehr der verlorenen Kinder feiern.".

Die Flasche Sekt war gerade geöffnet, als Michael Friedrich das Wohnzimmer betrat. Er hatte sich anscheinend um die Versorgung der Werkzeuge gekümmert, um Felix und seiner Familie eine private Begrüssung zu ermöglichen.

Felix stellte ihn und die ganzen Familienmitglieder einander vor. Als Michael Ronjas Hand schüttelte, wollten die beiden die Hände kaum wieder voneinander lösen und schauten sich an, als wollten sie in den Augen des Anderen versinken.

Michael durchbrach die Spannung des Momentes, indem er Anna auf den Arm nahm und an Ronja gewandt fragte: "Und das ist deine aufgeweckte kleine Tochter?"

Ronja nickte ein "Ja", wie erlöst. Ich fragte mich, ob wohl auch meine Tochter am Ziel ihrer langen Reise angekommen war.

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E N D E




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